Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe - Zum Letzten
zu den einzelnen Beiträgen hier:
Siehe hier: Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII
Die Psychologie des Zusammenseins (aus systemmagazin)
Vor kurzem erschien an dieser Stelle ein Rezensionsessay von Wolfgang Loth über Texte der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus, über Die Psychologie des Alltags. Ebenfalls im dgvt-Verlag ist mit gleichem, aber spiegelverkehrten Cover, ein 444 Seiten starker, bereits 2009 im englischen Original veröffentlichter Band von Ken Gergen über Die Psychologie des Zusammenseins erschienen, in dem er die Abkehr von der individualistischen Tradition, das autonome Selbst in den Mittelpunkt der Psychologie zu stellen, begründet.
Wolfgang Loth hat auch dieses Buch für systemagazin gelesen und steuert folgenden Rezensionsessay bei:
Wolfgang Loth, Niederzissen: Vision einer relational aufmerksamen Welt
Aus Wolfgang Loths Rezensionsessay bediene ich mich im Folgenden, um meiner Auseinandersetzung mit Alex Schulmans: Verbrenn all meine Briefe ein wenig relationaler auf der Spur zu bleiben: Sätze – und darin enthaltene Prämissen –, die mir zwar nicht neu sind, greifen auf irritierende Art etwas auf, was Dieter Lenzen in seiner Interpretation der Systemtheorie Niklas Luhmanns folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: Jede Repräsentation von Außenwelt, ist immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation. Damit kann sie unabdingbar nur als relationaler Akt begriffen werden. Bei Wolfgang Loth lese ich folgende Sätze:
„Was üblicherweise für Orientierung und Zurechtfinden im Getümmel des sozialen Alltags sorgt, insbesondere das Denken in Ursache und Wirkung oder auch die Illusion von Unabhängigkeit, erhält (bei Ken Gergen) kräftige Dämpfer.“
„Unverdrossen geht er jeder Spur nach, die zu der Erkenntnis führt, dass es keine individuell-private, unabhängig von einem sozialen und gesellschaftlichen Gefüge existierende Handlung gibt, weder innere (Vorstellungen, Emotionen, Bewertungen, etc.) noch externe (Aktionen, Taten).“
„Stets habe man es mit aufeinander bezogenen Prozessen zu tun, die erst in ihrem Miteinander Handlung und Bedeutung konstituieren. Auf den Punkt gebracht schlägt Gergen vor, ‚das Individuum selbst als Nebenprodukt von Beziehungen anzusehen‘.“
Auch wenn ich nur noch bedingt dem – im wissenschaftlichen Kontext begründeten – Anspruch nachgebe, alles, was ich schreibe, müsse wohl durchdacht sein, lassen mich die nachfolgenden Auslassungen Wolfgang Loths in Bezug auf Ken Gergen aufhorchen. Vor allem die Widrigkeiten, mit denen es Kenneth Gergen wohl – so meint jedenfalls Wolfgang Loth – selbst zu tun hatte, lösen starken Nachhall in mir aus:
„Gergen selbst widmet dem Thema ‚Schreiben als Bezogenheit‘, ‚Schreiben im Dienst der Bezogenheit‘ und ‚Schreiben als ganzer Mensch‘ einige Seiten (S.304-314). Was er da schreibt, halte ich für interessant, gewinne jedoch den Eindruck, dass Gergen hier auch einige Widrigkeiten abarbeitet, mit denen er es selbst zu tun hatte. Im wissenschaftlichen Bereich komme es darauf an, als ‚wohldurchdacht‘ anerkannt zu werden, schreibt er. In der Regel heißt das, einen objektiven Anschein zu erwecken. Dagegen setzt Gergen: ‚Im Augenblick der Lektüre gehören die Worte weder nur Ihnen, noch dem Buch, noch mir. Im Moment der Lektüre gibt es keine klaren Grenzen zwischen mir, dem Buch und Ihnen‘ (S.75). Das dürfte für viele eine unhandliche Lage darstellen. Gergen scheint da für manche wie ein rotes Tuch gewirkt haben. Doch setzt er noch einen drauf: ‚Unangreifbares Schreiben ist eine säkulare Form der Seelenreinheit‘ (S.306). Als Bonmot zündend, als ontische Aussage ein angreifbarer Brocken.“
Gehen wir an dieser Stelle auf Verbrenn all meine Briefe von Alex Schulman ein. Da, wo Alex Schulman atemlos in all den Romanen seines Großvaters auf die toxische – kulturell-religiös fundierte Suada der Ruchlosigkeit des Weibes stößt; dort wo er entsetzt die phobischen, pathogenen Auswüchse eines religiös überhöhten Treuegebots mit völlig anderen Augen liest, als sie seinerzeit in der Augen seines Großvaters erschienen sind, nämlich gewissermaßen als unangreifbare säkulare Form der Seelenreinheit, offenbart sich Gergens Befund eindrucksvoll: Dass nämlich im Augenblick der Lektüre die Worte weder nur dem Großvater, noch dem Buch, noch mir (wer immer das auch sei: Alex Schulman oder der hier am Werk befindliche Schreiber!?) gehören. Im Moment der Lektüre gibt es keine klaren Grenzen zwischen mir, dem Buch und Ihnen. Und wer würde bestreiten wollen, dass sich damit eine durchaus unhandliche Lage ergibt.
Ich habe in Beitrag V zu Alex Schulman auf Luc Ciompi Bezug genommen (hier mit Bezug auf Simon/Clement/Stierlin: Sprache der Familientherapie, Seite 26)
Nach Luc Ciompis Konzept - ist zu lesen - bestehe die Psyche aus einem "hierarchisierten Gefüge von 'affektlogischen Bezugssystemen', d.h. von internalisierten Denk-, Fühl- und Verhaltensschemata mit untrennbar verbundenen kognitiven und affektiven Anteilen. Sie stellen einen gleichzeitigen (synchronen) Niederschlag der lebensgeschichtlich nacheinander (diachron/synchron) gemachten Erfahrungen dar." Dabei erfasse Gefühl in erster Linie Ganzheiten und Muster; es entstehe und vergehe langsam; sein Instrument und Sitz sei vorwiegend der Körper. Hingegen erfasse das Denken vor allem Teile und Relationen. Und nun kommen jene Hinweise, die die Frage nach dem merkwürdigen Zusammenhang zwischen der Familiendynamik in Alex Stolpes Herkunftsfamilie und den nicht ohne weiteres erklärbaren affektlogischen Irritationen in Alex Schulmans Persönlichkeitsstruktur beantworten könnten: Nach der Auffassung Luc Ciompis ist die Wirklichkeit von einem Individuum dann verhaltensökonomisch und harmonisch erfasst, "wenn diese beiden Erfassungsmodi >das gleiche sagen<. Aus ihrer Diskrepanz in Wahrnehmung und Kommunikation ergeben sich spannungsvolle Disharmonien, die zu einer Verwirrung der internalisierten affektlogischen Bezugssysteme und des darauf gegründeten Verhaltens führen können."
Allerdings müsste es hierfür – für einen solchen Befund bzw. für ein solches Befinden – zunächst einmal einen Beobachter geben (das irritierte Individuum selbst, das möglicherweise Hilfe sucht; bedeutsame und weniger bedeutsame Andere, die Irritationen wahrnehmen, gar ihrerseits irritiert reagieren und einen Austausch suchen; eine/ein Therapeutin/Therapeut, der einen entsprechenden therapeutischen Auftrag bekommt).
Und selbstverständlich ist dies in Kenneth Gergens Konzept zentral inskribiert:
„Personenpersonen ist wieder so ein Begriff, der sich aus den Schwierigkeiten der (deutschen) Sprache ergibt, die aus Ko-Aktion entstehenden Geschehnisse genau genug zu beschreiben. Im englischsprachigen Original geht das leichter, in diesem Fall als‘„Multi-beings‘ (S.199, Fußnote 1). Die Verdoppelung in der deutschen Übersetzung soll darauf hinweisen, dass es aus relationaler Sicht kein ein-faches ‚wahres Selbst‘ gibt. Bildlich: Jeder verfügt nicht nur über eine einzige Adresse, und da dies alle betrifft, erweisen sich Beziehungen als variabel innerhalb eines weiten Spektrums. Das wirft unweigerlich die Frage nach Authentizität und Kohärenz auf. Und es bewegt nicht zuletzt die Annahme, dass psychisches Leid mit fehlender Kohärenz einhergehe. Dagegen Gergens Position: ‚Inkohärenz wird erst in Beziehungen zum Problem, in denen sie verpönt ist‘ (S.208). Es macht keinen Sinn, hier sämtliche Bezüge zu wiederholen, auf die Gergen eingeht. Es sind zu viele. Manchmal haben mir Aphorismen beim Sortieren geholfen, wie etwa dieser: ‚Was die Gesellschaft zusammenhält ist hauptsächlich die permanente Notwendigkeit, für unsere Beziehungspartner*innen verständlich zu bleiben‘ (S.208). Das wäre schon Arbeit genug.“
Für Alex Schulmans unerklärliche Wutattacken sind folgende Hinweise interessant:
„Auch körperliche Prozesse gelten Gergen als relationales Geschehen. Er dekliniert das durch am Beispiel von Emotion, von Lust und von Schmerz (=Kapitel 4). Da finden sich immer wieder sprichwortartige Formulierungen, wie die folgende: ‚Um glaubhaft Ärger zeigen zu können, braucht es ein ungeheures Ausmaß an kultureller Vorbildung‘ (S.162). Oder auch: ‚Wenn sich etwas ganz natürlich anfühlt, dann hat die Kultur dafür gesorgt‘ (S.164). Es ist dieser Sprachwitz, der die Lektüre für mich immer wieder belebt. Und das auch, wenn mir mancher Stolperstein erst im Nachhinein aufging, wenn etwa die notwendige Genauigkeit in den Blick rückt, die solche Sätze erst tragfähig macht: Ärger kann einem vermutlich auch ohne Vorbildung passieren, aber erst das Zusammenpassen von spontanem und kulturell erwartetem Ausdruck führt dazu, dass es glaubwürdig ankommt. Und ‚glaubwürdig‘ ist ein Begriff, der nur als relationales Phänomen Sinn stiftet. Und so könnte man immer weiter machen. Auch zur Frage der Bedeutung von Hirnprozessen: ‚Das Gehirn bestimmt nicht die Qualität unseres Genusses; es stellt lediglich die Grundlage für seine relationale Erschaffung bereit‘ (S.187f.).“
Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Enkulturation ist jahrzehntelang in ihren Wechselwirkungen und Zusammenhängen diskutiert worden. Den Teilnehmern des Literarischen Quartetts sei nur so viel gesagt: Ein effektiveres Lernfeld als die familiär dauerhaft etablierten Techniken der Missachtung, der Verachtung, der Abwertung, der moralischen Verurteilung, wie sie von Alex Schulman mühsam rekonstruiert werden, lässt sich kaum vorstellen. Wenn sich entsprechende Verhaltensneigungen gewissermaßen natürlich anfühlen, ist es umso mühsamer ihre kulturelle Codierung zu entziffern und zu bestimmen. Natürlich kann dies – wie bei Alex Stulman – durchaus den Stoff für große Literatur liefern.
„Aus relationaler Sicht gilt, dass sich eine sinnstiftende Bedeutung und entsprechende Aktion erst im gemeinsamen Bezug aufeinander ergibt. So gesehen gilt auch die ‚Psyche als Tätigkeit in einer Beziehung‘ (S.131ff.). Es gebe ‚immer ein imaginiertes Publikum für unsere privaten Gedankenspiele‘, mit anderen Worten: ‚Was wir im Stillen tun, passiert nicht in einer >inneren Welt<, die Verstand genannt wird. Wir nehmen damit am Gesellschaftsleben teil, nur vor leeren Rängen‘ (beide: S.135).“
Alex Schulman füllt die Ränge. Und ich hoffe, dass er es mit einem gewissen Erfolg tut und dass ein Heilwerden gegen die Verweigerung – generationenübergreifend – gemeinsamen Bezug aufeinander zu nehmen nicht ganz aussichtslos erscheint. Noch gnadenreicher wäre es, wenn Schulmans Beispiel Schule machen würde - so groß die Unterschiede, so groß sind die Ähnlichkeiten in belastenden Familiendynamiken.