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Kurz vor Schluss II

Vorbemerkung I

Bevor es losgeht mit dem zweiten Teil von Kurz vor Schluss ist es aus meiner Sicht hilfreich auf zwei Ausgangspunkte hinzuweisen, ohne die das Nachstehende vielleicht unverständlich(er) bleibt - unverständlicher als ohnehin. In Kurz vor Schluss I stand bei allen biografischen Auslassungen das Motiv des Dankes im Vordergrund: Der Mensch ist, weil er sich verdankt - genealogisch und nahezu in jeder Hinsicht (diesen Gedanken habe ich von Fulbert Steffensky übernommen); in den meisten Fällen - in nahezu allen Lebensläufen - gibt es aber eben auch besondere Umstände, die man als Zufälle begreifen kann: Aus der philosophischen Perspektive Odo Marquards sind wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.  Mit unterdessen siebzig Jahren ist mir bei alledem aber auch deutlich geworden, dass eben genau diese angedeuteten Umstände auch dazu hätten beitragen können regelrecht verrückt zu werden. Deshalb beginne ich - sozusagen im Sinne einer Einleitung der Einleitung - damit, zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass ich mich durchaus in einem gewissen Sinne für verrückt halte - vermutlich würde man ansonsten die Anstrengungen von Kurz vor Schluss I und II gar nicht auf sich nehmen. Bemerkenswert bei dieser Diagnose ist die Einsicht, dass man selbst immer auch Anteil hat am Verrückt-Werden anderer. Was als flapsige Bemerkung aufgefasst werden könnte, hat einen handfesten Hintergrund, den man mit Humor, durchaus aber auch mit Betroffenheit beschreiben und bewerten kann.

 

Vom Verrücktwerden (0)

Ich bin ein wenig verrückt. Der Maßstab dafür ist ein Unterscheidungsmerkmal, dass mich von all meinen Verwandten und Bekannten deutlich unterscheidet: Ich bin schreibbesessen (jeder hat da so seine Obsessionen – Claudia macht es in Farbe, und so viel besser als ich; schaut Euch doch einmal das Eingangsportal zum Heyerberg Numero 11 an - ein Geschenk Claudias zu meinem Siebzigsten, das mein Herz und meine Augen Tag für Tag erfreut!). In den letzten 25 Jahren habe ich tausende von Seiten beschrieben. Peter Sloterdijk spielt in seinen Poetik-Vorlesungen aus dem Jahr 1988 mit der Vorstellung, dass jeder Mensch eine Silbe verkörpere, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort zum Text. Er spricht davon, dass durch viele Schreibversuche hindurch eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe stattfinde. Diese Annäherung hat sich freilich auf intensivste Weise Bahn gebrochen in meiner Lyrik – vielleicht führt mein nächstes Projekt einmal alle meine lyrischen Versuche zusammen?

Für die hier vorliegende Anstrengung weise ich einleitend darauf hin, dass ich haarscharf dem tragischen Schicksal eines Verrückten entgangen bin – das meint einen Tatbestand - vielleicht besser Gemütszustand, der in der Regel als pathogen empfunden und manchmal auch so diagnostiziert wird! Mir ist nur aufgefallen, dass das Verrücktsein und das Verrücktwerden in einem ganz und gar gewöhnlichen Wortsinn eine unvermeidliche Grunderfahrung in einem langen Leben ist. Die Behauptung: Ich bin verrückt begreift man normalerweise - wie weiter oben angedeutet - als eine Pathalogisierung des eigenen Zustands, des eigenen Befindens. Die Tatsache, dass man verrückt (ge)worden ist, beschreibt aber nichts weiter als eine schlichte Tatsache, die man sich in aller Gemütsruhe vor Augen führen kann. Einer der größten Fußball-Philosophen hat in einem aufsehenerregenden Interview einmal eine gleichermaßen frappierende wie aufschlussreiche Formulierung in die Welt gesetzt: Ich habe fertig! Gewiss unterstellen ihm viele, er habe schlicht sagen wollen: Ich bin fertig! - hier und jetzt in diesem Augenblick.

Bezogen auf das Wortfeld verrücken verrückt werden kann man den umgekehrten Weg gehen, um auf bemerkenswerte Unterschiede in der Frage zu stoßen, ob der Mensch nur gelebt werde oder ob er auch aktiv und gestaltend in sein Leben eingreift? So hat die Selbstbeschreibung: Ich bin verrückt gewiss eine vollkommen eindeutige Botschaft zum Kern. Sage ich hingegen: Ich verrücke bzw.: Ich habe verrückt, treten offenkundig andere Optionen in den Vordergrund. Dabei geht es nicht nur darum, beispielsweise Möbel oder andere Gegenstände/Sachen zu verrücken. Es könnte vielmehr auch darum gehen, in bestehenden Beziehungen einen anderen Ort einzunehmen oder anderen einen anderen Ort zuzuweisen, also sich selbst oder andere zu verrücken. Aktive Handlungen und Gestaltungsabsichten in diesem Sinne können durchaus zur Folge haben, dass die/der ein oder andere verrückt wird – räumlich, aber auch seelisch und gemütsbezogen. Verrückt zu werden führt in der Regel zu Kränkungseffekten – Kränkungseffekte initialisieren häufig aber auch entsprechende Prozesse. Und die wenigsten vermögen sie als Chance zu betrachten. Zumal man selbst dabei in eine passive Rolle gerät. Davon handelt und erzählt dieses Buch.

Vieles in Kurz vor Schluss II folgt solchen Logiken. Verrückt zu werden – das ist die Leitunterscheidung, an der sich vieles scheiden lässt und die im vorliegenden Buch eben meine Welt(en) (unter)scheidet und für Trennschärfe sorgt: Gutes und Schlechtes; Kränkendes und Ermunterndes; Zornerregendes und Besänftigendes; Krankmachendes und HeilendesErfreuliches und Trauer-AuslösendesLeidenschaftlich-Beflügelndes und Lähmend-Herabziehendes.

Das gesamte Buch verstehe ich mit einem Zitat Dirk Baeckers unter diesem speziellen Blickwinkel. Selbstverständlich – wie in allen Büchern – überwiegt bei alledem der Dank dafür, nicht völlig verrückt worden zu sein – in eine Ecke gestellt worden zu sein und dort verharren zu müssen; in eine Ecke, in die ich mich zeitweise selbst gestellt habe. Wem könnte ich dabei mehr danken als Claudia und meinen Kindern (und meiner großen Familie)? Bevor ich Dirk Beacker das Wort gebe, hilft mir daher George Steiner – eine Entdeckung der letzten Jahre. Dieses erste Zitat kann einen angesichts des gegenwärtigen Rückfalls in die Barbarei verzweifeln lassen. Ich möchte es aber – zumindest für mich – verstanden wissen als Hoffnung in einer abartigen Welt. Machen wir sie ein bisschen besser!

George Steiner (in: Errata – Bilanz eine Lebens, München 1999, S. 220-221): „Liebe ist die dialektische Entsprechung zu Haß, ihrem spiegelbildlichen Gegensatz. Liebe ist in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder es Irrationalen. Wie über die (verdammte) Suche nach Gott unter seinen Gebrechlichen läßt sich darüber nicht verhandeln. Beim Anblick, beim Klang der Stimme, bei der geringsten Berührung des geliebten Menschen in seinem innersten Geist, Nerv und Knochen erzittern; Mittel und Wege finden, sich abmühen, ohne Ende lügen, um den geliebten Mann oder die geliebte Frau zu erreichen, in seiner/ihrer Nähe zu sein; die eigene Existenz – persönlich, öffentlich, psychologisch, materiell – in einem unvorhergesehenen Augenblick verwandeln, aufgrund und infolge von Liebe; unaussprechliche Schmerzen und Leere bei der Abwesenheit des/der Geliebten, beim Welken von Liebe durchzumachen (das Vorstehende liest sich wie die Regieanweisung zu Kapitel 1 von Kurz vor Schluss, Teil II, Anm. Verf.); das Göttliche mit der Emanation von Liebe gleichsetzen, wie es aller Platonismus, und das heißt das abendländische Modell der Transzendenz, tut – das bedeutet, daß man an dem alltäglichsten und unerklärlichsten Sakrament im menschlichen Leben teilhat. Es bedeutet, nach seinen persönlichen Möglichkeiten, die Reife des Geistes zu berühren. Diese Universum der Erfahrung mit dem Libidinösen gleichzusetzen, wie es Freud tut, es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Vorteilen zu erklären, das sind fast verächtliche Reduktionen. Liebe kann das ungewählte Band, bis hin zur Selbstzerstörung, zwischen Individuen sein, die füreinander eklatant ungeeignet sind. Die Sexualität kann nebensächlich, vorübergehend sein oder völlig fehlen. Die Häßlichen, die Elenden, die Bösesten unter uns können das Objekt von interesselosem, leidenschaftlichem Eros sein. Der Wunsch, für die Geliebte oder die Freundin – l’amie, wie es im Französischen so exakt und klar heißt – zu sterben, und die klarblickenden Verrücktheiten der Eifersucht sind aus jeder denkbaren biologischen (Darwinschen) oder sozialen Sicht kontraproduktiv. Die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, spielt defensiv mit der Rationalität. Es sind nicht ‚Gründe‘, die das Herz bevölkernEs sind Notwendigkeiten ganz anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist. Ich habe eine ganze regendurchweichte Nacht hindurch dagestanden, um einen Blick von der Geliebten, wie sie um die Ecke kam, zu erhaschen. Vielleicht war sie es noch nicht einmal. Gott erbarme sich derer, die nie die Halluzinationen eine Lichtes gekannt haben, das während solchen Wachens die Dunkelheit erfüllt.
Aus all der unvernünftigen, unanalysierbaren, oft verderblichen Allmacht der Liebe stammt der Gedanke – ist er wiederum eine Kinderei? -, daß Gott noch nicht ist. Daß er erst dann ins Sein treten, präziser, in manifeste Reichweite menschlicher Wahrnehmung gelangen wird, wenn es einen unendlichen Überschuß von Liebe über Haß gibt. Jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit, die Mensch oder Tier zugefügt werden, rechtfertigen die Befunde des Atheismus, insofern sie Gott an einem Kommen hindern, das allerdings ein erstes wäre. Doch ich vermag selbst in den schlimmsten Stunden dem Glauben nicht zu entsagen, daß die beiden bestätigenden Wunder der sterblichen Existenz die Liebe und die Erfindung der Zukunft beim Verb sind.“

Dazu passt die Intervention Dirk Baeckers. Sie hat mich vom Kopf wieder auf die Füße gestellt und mir ein wenig transparenter gemacht, wo das Herz seine Gründe hat (die es ja eigentlich nicht hat, weil es der Herzenslogik widerspricht) und wo der Verstand dem Herzen zur Seite springt, damit wir nicht völlig verrückt werden und Ikarus‘ Schicksal erleiden:

„Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen (Dirk Baecker, Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 632).“

Kurz vor Schluss - Teil II: Es ist ein verrücktes, ein spannendes Buch geworden – Antrieb und Vermächtnis zugleich, getrieben und getragen von der Einsicht, dass im Ozean des Vergessens vergeht und erlischt, was wir nicht erinnern - vielleicht auch von der Hoffnung Antworten auf Fragen zu geben, die einem nicht gestellt worden sind.

 

Kurz vor Schluss II

Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht – Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion

Vorbemerkung II

Ich bin alt, aber vermutlich noch nicht alt genug. Wenn ich erzähle und rekonstruiere, dann ist die alleinige Bezugsgröße mein eigener Lebenslauf. Niemand lebt sein Leben allerdings alleine! Vor mir liegen Rudi Dutschkes Tagebücher: Jeder hat sein Leben ganz zu leben (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003). Rudi Dutschke wollte wohl, dass seine Tagebücher veröffentlicht werden. Seine Frau – Gretchen – tut sich schwer mit der Veröffentlichung und beginnt ihr Nachwort mit dem Hiweis:

Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht

Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion

(zu den erwähnten Autoren finden sich am Ende der Aufzeichnungen die notwendigen bibliografischen Verweise - in Vorbereitung)

Einleitung:

Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert? Alard von Kittlitz (Vielleicht motiviert das schon mal: Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert, in: ZEIT 7/21) fragt: Woher nehmen wir die Zuversicht? Er spricht mit verschiedenen Menschen und befragt sie. Er kommt zu dem Ergebnis: „So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, am Ende ist ihnen eine fundamentale Erkenntnis gemein: Ohne ein realistisches Bild von uns selbst und von der Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sind wir verloren. Wir können nicht wissen, wohin wir wollen, wir können nicht wissen, wie wir irgendwohin kommen, wir werden vor Frustration stehen bleiben.“ Zuletzt befragt Alard von Kittlitz Schwester Ursula. Sie lebt im Kloster Arenberg bei Koblenz. Mit ihr erörtert er die Haltung des „Wirklichkeitsgehorsams“. Es geht um den aktuellen Lockdown. Es geht darum, dass der gewohnte Rhythmus radikal ausgesetzt ist. Auf die Unterstellung von Kittlitz‘, im Kloster herrsche doch „sowieso Lockdown ohne Ende“, antwortet sie zunächst, dass die Arenberger ein großes Gästehaus unterhalten für Menschen, die Ruhe suchten oder Ruhe brauchten. Nun aber könnten seit Monaten keine Gäste kommen und sie lebten von ihren Ersparnissen. Da sei es leicht, in eine Endzeitstimmung zu verfallen. Sie versuche mit der Situation zurechtzukommen, indem sie sich in einer Praxis übe, die sie als „Wirklichkeitsgehorsam“ bezeichne: „Ich muss immer wieder neu lernen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, statt zu sagen: Das darf nicht sein. Es ist ein furchtbar aufreibender Prozess, etwas nicht wahrhaben zu wollen. Eine Wirklichkeit zu verleugnen, davor davonzulaufen: Das ist letztlich tödlich. Siehe die Corona-Leugner.“

Und im politischen Fragebogen der gleichen Ausgabe auf Seite 54 antwortet Delphine Horvilleur auf die erste Frage: „Welches Tier ist das politischste?“ – „Der Mensch. Die Tatsache, dass die Menschheit an Geschichten glaubt und die Welt durch Geschichten erfährt, die zugleich ihre Verletzlichkeit und ihre Stärke zeigen, macht uns zu sehr politischen Wesen.“

Ich widme die folgende(n) Geschichte(n) meiner Frau, der Mutter meiner Kinder, ohne die die Gegenwart eine völlig andere wäre, ohne die schon die Vergangenheit eine sehr viel ärmere wäre, und ohne die die Zukunft weniger verlockend wäre – auch wenn sie meint, wir alle hätten doch überhaupt nichts Besonderes zu erzählen. Ich glaube an unsere Geschichten, und ich weiß, dass unser Weltverständnis ohne diese Geschichten ein anderes wäre. Sie zeigen zugleich unsere Verletzlichkeit, unsere Schwächen und unsere Stärken. Das ist letztlich auch der Grund, warum ich der Auffassung bin – so wie einst mein Neffe –, dass unsere Nachkommen sich vielleicht dafür interessieren könnten.

Am Anfang war die Tat (1)

Ein Menschenleben – im kosmischen Zeithorizont nicht einmal der sichtbare Bruchteil einer Nanosekunde. Und doch machen wir uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. „Ich bin nicht tot - Ich tausche nur die Räume - Ich bin bei Euch – Ich geh durch Eure Träume“. Für Michelangelo mag das zutreffen, aber für mich, für meinen Bruder, meine Schwester, meinen Vater, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder, meine Enkelkinder, die Familie im weitesten Sinne und all die, die schon zu Lebzeiten durch meine Träume geistern? Obwohl es sich eigentlich verbietet, gehen wir als Voyeure durch diese Welt; es verbietet sich nicht nur – es macht uns einsam; zu mörderischen Beobachtern unserer selbst und der anderen. Heute – Covid19 als Katalysator im Nacken – hocken wir vor unseren Laptops, Kindln und Mattscheiben. Dort regulieren wir unseren Gefühlshaushalt und versuchen zu verstehen, was mit uns los ist. So lassen wir uns die Welt erklären und sind froh, dass wir nicht verrückt werden. Die Verrückten unter uns hingegen werden der Gnade Gottes teilhaftig, wie George Steiner (Errata - Bilanz eines Lebens, Hanser - München 1999) meint. Diese Verrückten sind bereit ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie sind bereit sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen, die sich manchmal einschreiben in das Seelenpergament derer, die weder standhalten noch zu sich selber stehen.

Im Webmuster eines jeden Lebens, lässt sich ein roter Faden erkennen; manchmal dominiert er das Gewebe, zeitweise kann man ihn nur mit Hilfe einer Lupe verfolgen – ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zerreißen kann. Das Geflecht wirkt streckenweise wie Flickwerk. Dann möchte man das dünne Fädchen wieder aufnehmen und es erneut verknüpfen im dynamischen Patchwork so vieler Fäden. Man bekommt eine Ahnung davon, dass ein Gewebe aus vielen Fäden besteht, miteinander verknüpft, manchmal verstrickt und verknotet. Hilflos versuchen wir – oft genug – die Knäuel zu entwirren, suchen unseren Faden und möchten von vorn beginnen. Der Schreiber dieser Zeilen hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass zum Webzeug zuweilen auch die Schere gehört. Ist man jung, dann träumt man vielleicht davon, dass sich zwei Fäden verknüpfen zu innig miteinander verwobenen Lebensläufen, die erst der Tod zu trennen vermag.

Schau ich zurück auf mein Leben, dann lässt sich nicht verleugnen, dass das Flickwerk einer Schülerliebe in den Frühjahrstagen des Jahres 1979 endgültig in den Schredder geriet. Und der Schreiber meinte sich nicht um das löchrige und mottenzerfressene, ihm viel zu eng gewordene, gemeinsame Kleid scheren zu müssen. Dass er dabei das selbst entworfene Strickmuster verleugnete, war nicht zu übersehen. Er vertraute jetzt einer aufkommenden frischen Brise, die ihm die Segel mächtig blähte und weigerte sich umzukehren und gegen den Wind zu kreuzen. Er wollte sein Leben zurück – ganz! Die alte Liebe – das einst ersehnte ungewählte Band – landete ja nur deshalb im Schredder, weil es galt zwei füreinander eklatant ungeeignete Individuen vor sich selbst zu schützen. Und er hätte damals George Steiner (noch) widersprochen, wenn der ihm gesagt hätte, dass Sexualität bei alledem nebensächlich, vorübergehend sein oder sogar völlig fehlen könne; einer wie Steiner konnte da gut reden – als alter Mann. Der Schreiber dieser Zeilen war dagegen seinerzeit einfach zu jung. Ein Leben muss halt erst einmal gelebt werden, um einen Blick auf die Hinterbühne werfen zu können; eine Hinterbühne, die mit allen Registern – nicht nur der Biologie – dafür sorgt, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe – wie der alte Steiner sagt – in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und in die Seelen zaubert.

An einem trüben Märztag des Jahres 1979 – gegen 21 Uhr – setzte sich der Schreiber also in seine Traurige Lösung, so nannte man seinerzeit die zweitürige Fließheckvariante von VW (1500 TL). Noch in den siebziger Jahren war ihm seine Herkunftsfamilie ein sicherer Fluchtort. Ähnlich wie sein Vater, der als knapp 18jähriger 1941 zum Reichsarbeitsdienst und anschließend in die Wehrmacht einrücken musste, sehnte er sich nach Hause, wenn die Welt da draußen sich sperrig und feindlich zeigte. Hatte er Landskrone und Neuenahrer Berg mehrere Wochen nicht gesehen, rührte sich das Heimweh, wo andere das Fernweh in die Welt lockte. Die vergangenen Tage in seinem Dachzimmer – im geschützten Raum seiner Kindheit und Jugend – hatten in keiner Weise für eine Klärung seiner chaotischen Stimmungslage gesorgt. Ganz im Gegenteil drängten sich all die Bilder übermächtig wieder in sein Bewusstsein, die 1974 mit dem Aufbruch nach Koblenz verbunden waren. Zu sechst ging der Weg seinerzeit nach dem Abitur in die größte Garnisonsstadt Deutschlands – dorthin, wo niemand wirklich hinwollte. Die Universität zu Bonn hatte er sich erwählt als ehrwürdige Alma Mater - Germanistik und Philosophie waren die Fächer seiner Wahl. Wäre er seiner Wege gegangen seinerzeit, gänzlich andere Geschichten wären hier zu erzählen. Und die Lebensläufe so vieler Menschen hätten so gänzlich andere Wege genommen.

Am Abend des besagten trüben Märztages machte sich der Schreiber also auf den Weg und fuhr jene ihm vertraute Strecke ahrabwärts und dann rheinaufwärts Richtung Koblenz. Dass er sich entlang der historischen, mittelalterlichen Hauptverkehrsachse bewegte, die über 1000 Jahre lang  Frankfurt mit Aachen verband – 600 Jahre war Aachen Krönungsstadt – erinnerte ihn daran, dass viele der in Aachen zu krönenden Könige auf genau dieser Passage gereist waren. Der Weg diente zugleich als Heerstraße, Pilgerweg und gehörte auf diese Weise lange zu einer bedeutenden Handelsroute zwischen Italien und Flandern. Die ersten Kilometer, vorbei am Apollinarisbrunnen, durch Heppingen an Heimersheim und Lohrsdorf vorbei in Richtung Sinzig, gehörten allerdings nicht zur alten, historisch verbürgten Heerstraße, die von Bodendorf aus über die Grafschaft Richtung Aachen führte. Dort, wo sich nach einer scharfen Linkskurve das Ahrtal endgültig öffnet und den Blick auf Bodendorf und die Goldene Meile freigibt, überkam ihn seit Kindestagen regelmäßig eine merkwürdige bis unheimliche Anmutung. Dort in dieser scharfen Linkskurve war 1962 ein Freund seines Vaters bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ein bekannter Neuenahrer Taxiunternehmer, der wenige Wochen zuvor ihn selbst, seinen Bruder und seine Mutter nach Flammersfeld im Westerwald gefahren hatte. Nach einwöchigem Aufenthalt, dort, an einem Ort, der – jenseits einer aufmerksamen oder auch nur gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung – immer schon eine bedeutsame Rolle im Leben seiner Mutter und letztlich der Familie gespielt hatte, holte W.T. in Begleitung des Vaters die Mutter und die beiden Söhne ab, um weiterzufahren nach Frankfurt zu einem Besuch des Frankfurter Zoos – dem Zoo Bernhard Grzimeks. Damals fuhren sie in einem historischen Dreieck zuerst über die alte Heerstraße, dann über die Neuwieder Rheinbrücke über die Raiffeisenstraße durch den Westerwald und den Taunus nach Frankfurt, um auf dem Rückweg die Bäderstraße entlang zu fahren über Wiesbaden bis nach Lahnstein/Koblenz. Der Unfalltod des W.T. hatte sich eingebrannt in die kindliche Erinnerung. Er hatte einen Sohn im Alter seines Bruders, und er hatte vor allem eine außerordentlich humorvolle, tröstende und geduldige Haltung offenbart gegenüber seinen gleichermaßen peinlichen wie unabwendbaren Übelkeitsattacken auf den kurvenreichen Strecken durch Westerwald und Taunus.

Es kam dem Schreiber merkwürdig vor, wie sich verschwommene Eindrücke überlagerten, die ihn immer wieder erinnerten an das singuläre Ereignis Flammersfeld und die über fast ein Jahr täglich erfolgte Bahnfahrt von Bad Neuenahr nach Remagen, um dort umzusteigen und den Zielbahnhof Bonn anzusteuern. Nach der achtjährigen Volksschule war er seiner Cousine 1965 gefolgt und hatte nahezu ein Jahr verschenkt durch den Besuch einer privaten Handelsschule – obwohl: Wenn er sich jetzt so beobachtete, wie die Finger seiner beiden Hände über die Tastatur flogen, dann hatte er dort doch ein beträchtliches Kapital angehäuft, das ihm in Zeiten des Studiums immer wieder zu einem bescheidenen Zubrot verhalf und ihm vor allem immer wieder ermöglichte – fast in Echtzeit – seine Gedanken in mehr oder weniger sinnvollen Buchstabenfolgen – verdichtet zu Wörtern und Sätzen – auf den Bildschirm zu bannen. Aber das war lange nicht alles, was sich sozusagen an einem offenkundigen Wendepunkt seines jungen Lebens, der sich nur in Gestalt einer verschwommen Ahnung andeutete, beim langsamen Befahren der B266 kurz vor der Auffahrt zur B9 bei Sinzig an wirren Eindrücken in sein Bewusstsein drängte.

Er hatte es nicht eilig, obwohl er seine Ankunft in der Löhrstraße in Koblenz kaum erwarten konnte. Diese merkwürdige, paradox anmutende Spannung begleitete ihn schon seit Tagen und Wochen. Sie drängte nach Auflösung und Spannungsabfuhr, typisch für einen Zustand, in dem das Alte nicht sterben kann und die Geburtswehen des Neuen sich immer drängender in den Vordergrund schieben. Auf der unterdessen vierspurig ausgebauten B9 konnte er sich bedenkenlos zurücknehmen. Dass ihn fast alle anderen Verkehrsteilnehmer überholten, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der gewaltigen Kraft, die ihn vorwärtstrieb. Er kannte diesen Widerspruch aus seinem inzwischen zu einer absoluten Marotte ritualisierten Erleben der Adventszeit. So dehnte er die sich nach und nach aufbauende Erwartung bis hin zum 24. Dezember, dem Heiligen Abend, bis zum allerletzten Augenblick, in dem sich ein gleichermaßen einsames wie genüssliches Ausleben dieser Spannung in einem überaus kostbaren wie flüchtigen familiären Fluidum aufzulösen begann. Und die Zeit zwischen den Jahren – zwischen Weihnachten und Neujahr – glich einer Insel im Meer der Zeit, einem Zustand ex tempore.

Das lag nun schon für das Jahr 1978 viele Wochen hinter ihm; Wochen in denen sich für sein Leben – da blieb kein Raum für Zweifel – eine massive Wende ankündigte. Und wenn sich sein Leben wenden würde – auch da war er inzwischen alt und erfahren genug – bedeutete das für die Menschen, mit denen er verbunden war, gleichermaßen eine Wende. Während sich allerdings die vorwärtstreibende Kraft dieses Wandels für ihn mit einem Aufbruch verband, gerieten die Turbulenzen, die er auslöste, für sein bisheriges Gegenüber zu einem reißenden Strom, hinein in die Bodenlosigkeit.

Auch nach zweiundvierzig Jahren haben die Ereignisse des Frühjahres 1979 immer noch den Geschmack des harten Brotes dieser Tage. Geht man selbstgerecht mit allen Widrigkeiten und Verstrickungen um – wie es seiner anfänglichen Haltung entsprach –, dann findet sich im hintersten Winkel des Rucksacks dennoch und immer wieder eine Krume dieses Brotes. Man muss sie gemeinsam noch einmal hervorholen, um sie zu zerbröseln und dem Wind zu übergeben. Das Abwesende müsse präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist – so sagen die einen!?

Wenn nur einer darauf besteht, füreinander eklatant ungeeignet zu sein, muss er sich losreißen, wo der andere festhält. Gerät das Festhalten zum wimmernden Klammern, gerät das Klammern zu einer erbarmungswürdigen Selbsterniedrigung und vermag der andere dem nichts entgegenzusetzen als eine vollkommen erloschene Glut, ein Häuflein Asche als Erinnerung an den innigen Aufbruch, dann sind die Wunden tief und wollen lange nicht heilen. Die Bitterkeit dieser heillosen Lähmung gewann ihre Tiefe und ihren galligen Geschmack aus einer fatalen Umkehrung der Rollenverteilung. Sieben Jahre zuvor wollte sich der nun Flüchtige mit fortgesetzter Zurückweisung nicht abfinden. Hätte er doch nur damals aufgegeben – kam ihm nun immer wieder in den Sinn. Die Hypotheken, die er sich jetzt auflud, wogen umso schwerer und würden ihn eine lange Wegstrecke begleiten.

(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz?  Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)

Er versuchte solchen gedanklichen Attacken zu entkommen und näherte sich der Hochbrücke bei Andernach. Sein Fahrtempo entsprach nun der verordneten Geschwindigkeitsbegrenzung, und er kam sich selbst wie eine Schnecke vor, die mühsam über einen Kilometer aufwärts kroch – weg von der Talsohle auf die Höhe. Nach wenigen Minuten öffnete sich der Horizont und gab den Blick frei auf das Neuwieder Becken, vor allem auf den fertiggestellten Kühlturm des AKW Mühlheim-Kärlich, der wie eine riesige Blumenvase die Horizontale dominierte – das Menetekel eines historischen Irrwegs. Die verdrängte alte Welt sollte endlich einer Erwartung weichen, die sich allerdings nicht nur wegen der mühsam abgeschatteten Bedrängnisse keineswegs als gänzlich ungetrübt erwies.

Claudia wohnte damals – als Einzelkind auf der Flucht vor häuslicher und familiärer Enge – gemeinsam mit ihrer Freundin Gabi in einer 2ZKB-Wohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße. In der besonderen Weltwahrnehmung des Schreibers dieser Zeilen war die platonische Vorstellung von den zwei Hälften, die auf der ewigen Suche nacheinander sind, tief verankert. Die erste gewaltige Welle einer Destruktion dieser kindlichen Vorstellung rollte soeben wie ein Tsunami über seine heillosen Versuche einer ersten solchen Verirrung zu entkommen; nicht etwa um sein Weltbild zu korrigieren und einem wie auch immer begründeten Realitätsprinzip stärkere Geltung einzuräumen. Seit Monaten – eigentlich seit dem ersten Erscheinen auf der kleinen Bühne der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule – vernebelte ihm Claudia jeden Schritt in eine halbwegs von Liebesblödigkeit ungetrübte Weltsicht. Er blieb dem Steinerschen Verdikt tief verhaftet, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Die Ereignisse jener Märztage 1979 bildeten den grandiosen Auftakt dafür, dass hartes Brot für viele Jahrzehnte sein Leben begleitete; ein Auftakt, der auf so unfassbare Weise die Steinersche Weltsicht bekräftigen sollte, und der gewiss ohne die vielfältigen Einflüsterungen, die ihn begleiteten, wohl niemals jenen verrückten und aberwitzigen Verlauf genommen hätte.

Gegen 22 Uhr an jenem trüben Märztag lenkte der Schreiber sein Auto vom Friedrich-Ebert-Ring kommend rechts in die Obere Löhrstraße. Um diese Zeit war dieser Straßenabschnitt immer noch recht belebt, da die Spätvorstellungen in den Kinos liefen und die Restaurants gut besucht waren. Keine einzige freie Parknische bot sich an. Er musste in die Schleife rund ums Carré – Richtung Bahnhof, dann abbiegend in die Roonstraße, um über die Bahnhofsstraße und den Friedrich-Ebert-Ring erneut die Obere Löhr anzusteuern. Unmittelbar vor der Metzgerei Waldrich fand er unverhofft eine Parklücke und versuchte sich zu sortieren. Wie unendlich weit weg ist die Vorstellung heute, dass man nicht  j e d e r z e i t  per Handy seinen Standort, sein Kommen – auch sein Begehren, seine Sehnsucht, seine Verzweiflung, sein  D a s e i n  signalisieren konnte: Ich bin hier – wo bist Du?

Er stieg aus, sammelte sich, ging zur Haustüre, klingelte und wartete und klingelte erneut – und wartete. Es war kühl, er war nervös. Die Haustür war verschlossen und auch wiederholtes Klingeln – Sturmklingeln änderte daran nichts. Aber die Verabredung für den heutigen Abend war unmissverständlich beidseitig – abgesprochen in großer Vorfreude. Er hatte kalte Füße, ihn fröstelte zutiefst. War das alles ein Irrtum? Hatte Claudia noch kältere Füße bekommen, war sie vielleicht gar nicht zu Hause, oder verleugnete schlicht ihre Anwesenheit?

Die beiden kannten sich nicht. Die Lawine, in deren anschwellender Dynamik er sich jetzt wiederfand, hatte er selbst mit einer Einladung Claudias und ihrer Freundin Iris zur großen Sylvester-Fete zweier befreundeter Wohngemeinschaften losgetreten. Allein diese Einladung war schon ein absolutes Alarmsignal und bedeutete für E. – seine Lebensgefährtin – einen klaren Affront, hatte er dies doch bewusst und gänzlich ohne Rücksichtnahme auf noch bestehende Beziehungsverhältnisse verfügt. Im Winterchaos des Jahreswechsels 1978/79 kam es dann auch folgerichtig zur Verabredung auf einen Kaffee bei Claudia. Deren Wohnung war ihm sogar schon bekannt. Einmal hatte er sie und eine Freundin aus der Vorhölle, der Studentenkneipe auf dem Oberwerth, mit in die Stadt genommen und war noch auf ein Bier mit in die Löhrstraße gefahren. Und Gabi – Claudias Mitbewohnerin – hatte ihn zur gemeinsamen Einweihungsfete eingeladen. Das erste wirkliche und erklärte Antichambrieren, das unmissverständlich Claudia galt, war erst wenige Wochen her und hatte zur heutigen Verabredung geführt. Ganz und gar merkwürdig und für ihn vollkommen ungewohnt hatte er sich bei diesem Antichambrieren für fast eine Stunde zwischengeparkt gefühlt. Gabi, die Mitbewohnerin Claudias, die er schon länger kannte, hatte ihn an der Wohnungstüre empfangen und mit dem Hinweis in ihr Zimmer gelenkt, Claudia wäre noch im Gespräch mit einem Berater der Krankenversicherung. Er erinnerte sich an ein durchaus kurzweiliges Intermezzo bei Kaffee und verspätetem Weihnachtsgebäck. Jahre später sollte er erfahren, dass er tatsächlich in eine Warteschleife geschickt wurde, weil Claudia sich erst noch von einem Gast verabschieden musste, der ihm – und dem er – nicht begegnen sollte. Claudia war angeblich ohnehin lange der Meinung, er sei doch viel mehr an ihrer Mitbewohnerin interessiert und hatte schlicht mehrere Eisen im Feuer. Dass sie Feuer hatte, hatte sich ihm im Übrigen auf dieser Einweihungsfete extrem ins Gedächtnis eingeschrieben. Er war zu früh und bekam ein Telefongespräch zwischen Claudia und ihrem Vater mit – nie hatte er telefonisch ein solch gewitterträchtiges Funkenschlagen erlebt. Auf dem Höhepunkt dieser Fete kam es dann zu einem Eklat, weil wiederum R. sich eine kräftige Ohrfeige einfing. Irgendwie musste es mit der Tatsache zusammenhängen, dass er Claudias letzter fester Freund war, der sich noch darin zu üben hatte, den aktuellen Status quo zu realisieren.

All dies und noch viel mehr ging ihm durch den Kopf. Er stand vor verschlossener Haustüre wie ein begossener Pudel. Die Vorstellung, dass Claudia tatsächlich kalte Füße bekommen hatte, gab ihm mehr und mehr Sinn. Er hätte sich selbst nicht einen Millimeter über den Weg getraut; was sollte Claudia veranlassen Nähe zuzulassen, gar zu suchen – zu ihm??? War er doch nichts anderes als einer dieser typischen treulosen, orientierungsschwachen jungen Männer, die ihr reihenweise begegneten und den Hof machten! Den Hof machen?

Erst einmal wechselte er die Straßenseite. Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss und präsentierte sich zur Straßenseite hin mit zwei großen Fenstern, jeweils – in Ermangelung von Rollläden – mit schweren Stoffvorhängen abgedunkelt. Trotz dieser, keinerlei Einsicht gewährenden, blickdichten Vorhänge hatte er den Eindruck einen Unterschied auszumachen, so dass sich in ihm die Wahrnehmung breit machte, in Claudias Zimmer müsse eine Lichtquelle für einen sanften Unterschied sorgen – vielleicht Kerzenlicht? Die Gedankenorgel kam nun so richtig in Fahrt und die unteren Register bliesen ihm entgegen: „Das geschieht Dir Recht, mitten im Schlamassel eines ungeklärten Beziehungsdesasters, der alten Enge noch nicht wirklich entwachsen, zeigt Dir jemand deine Grenze; Claudia hatte ganz einfach diese Verabredung vergessen, oder ignorierte sie schlicht, beherbergte möglicherweise einen Gast (vielleicht jenen Gast, dem er seinerzeit schon nicht begegnen sollte) und schickte ihn dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ja, wo kam er denn eigentlich her?

Er wollte weg! Er hatte das Gefühl, seine Seele verkauft zu haben und wollte sein Leben zurück. Die Welt und das Herz war ihm eng; seit Jahren hatte er das Gefühl in dieser Enge zu ersticken. Der gemeinsame Weg von Bad Neuenahr nach Koblenz war unzweifelhaft ein Irrweg. Diese Einsicht hatte sich bereits nach wenigen Wochen des ersten gemeinsamen Wohnens in der ersten gemeinsamen Wohnung offenbart: Wo gehst du hin? Wo kommst du her? Wann kommst du zurück? Mit wem triffst du dich? Muss das denn schon wieder sein? Er hatte sich bereits zu Schulzeiten politisch interessiert und engagiert. Schon im November schloss er sich der GEW-Hochschulgruppe an. Der Weg mit den anderen Neuenahrern in eine Wohngemeinschaft führte 1976 zu einer vordergründigen Beruhigung und verdeckte viele Konflikte. Wie lernt man eigentlich Partnerschaft – wie gelangt man aus einer romantischen Liebesbeziehung in eine liebevolle, verantwortliche Partnerschaft, ohne sich gänzlich zu verlieren? Es war nur eine dumpfe Ahnung, dass einem die Welt gänzlich zum Nagel gerät, wenn man kein anderes Werkzeug zur Hand hat als einen Hammer.

Dass die erste Liebe auch die einzige bleibt, das soll vorkommen. Nach einem langen Leben nimmt man dies ungläubig zur Kenntnis und weiß es in der Regel besser. Aber er wusste es nicht wirklich besser. Und er wollte Claudia den Hof machen – den  H O F!!! In der der Gefahr wächst das Rettende auch! Das Rettende? Die Häuser der oberen Löhrstraße hatten dort ihre Hauptzugänge mit Eingangstüre und Klingel. Sie waren aber gleichermaßen über die Bahnhofstraße begeh- und vor allem befahrbar; die Warenanlieferung erfolgte über die Hinterhöfe und selbstredend gab es einen Hinterhofzugang, der in der Regel unverschlossen war. So bewegte sich der Schreiber auf kürzestem Weg um den Block und betrat das Grundstück über den Hinterhof. Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Er stieg die 18 Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf und versuchte es erneut: Klingeln – Klopfen – Klingeln – Klopfen! Zwischen Ernüchterung, Wut und Verzweiflung stellte sich die Frage: Was tun??? Den Schwanz einkneifen und den Rückzug antreten!? Dafür war er nicht hier, und dafür war er nicht gemacht – weiß Gott, danach stand ihm nicht der Sinn. Spontan brach sich die ihm eigene Sturheit, gepaart mit einer dumpfen Liebesblödigkeit Bahn. Lange vor Gerhard Schröder spürte er, wie sich alles Sehnen, alle Energie, aller Eigensinn begann zu fokussieren auf ein zentrales Ziel: Ich will hier rein – ich muss hier rein, jetzt und heute – unverzüglich! (hätte Schabowski gesagt). Und jener Steiner hätte nun beobachtet, dass sich Gott seiner erbarmte mit der Halluzination eines Lichts nicht von dieser Welt.

Er erlebte die folgenden Minuten in einer ähnlichen Entrückung. Und dennoch begann er mit kühlem Kopf die Gesamtlage zu sondieren: Das Treppenhaus verfügte unterhalb jedes Treppenabsatzes – jeweils etwa von der dritten Stufe treppab aus zu öffnen – über schmale Fensterluken, die auf einen Lichtschacht hin ausgerichtet waren. Öffnete man die Luke und kletterte auf die Fensterbank, erblickte man – schräg nach oben versetzt – das Fenster zum Badezimmer der Einlass verweigernden Wohnung von Claudia und Gabi. Unterhalb befand sich ein Glasdach, das den Lieferanteneingang zur Metzgerei vor Regen schützte. Das Badezimmerfenster verfügte über eine solide Fensterbank mit einer Tropfkante. Etwa einen Meter unterhalb dieser Fensterbank verlief in der Horizontale ein ca. zwei Zentimeter breiter Absatz in Art einer Putzkante. Gelang es in einem flüssigen Bewegungsablauf Fuß zu fassen auf diesem Absatz und gleichzeitig Halt zu finden an der Fensterbank, um sodann unverzüglich das Fenster aufzustoßen – sollte es nicht verriegelt sein –, oder aber im Falle der Verriegelung mit einem einzigen gezielten Ellbogenstoß die Fensterscheibe zu demolieren, hätte man die Chance, Einlass zu finden. Das Treppenhaus lag ruhig und verlassen, kein menschliches Wesen ließ sich blicken oder vernehmen. Er war alleine und unbeobachtet. Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Das worst-case-szenario würde  mit einem Absturz in das etwa zwei Meter unterhalb aufgespannte Glasdach enden. Dabei würde er sich aller Voraussicht nach nicht das Genick brechen, aber einen Höllenlärm verursachen und Gott und die Welt – und ganz sicher die Polizei – auf den Plan rufen.

Der Schreiber dieser Zeilen war in jenen Jahren ein durchtrainiertes Leichtgewicht, das bei 187 cm Körperlänge etwa 74 Kilogramm Lebendgewicht auf die Waage brachte; als Bezirksschulmeister im Hochsprung hatte er 1972 seine eigene Körperlänge übersprungen. Er trug eine Lederjacke und Boots mit einer recht steifen Besohlung. Was sich nun zutrug, stand möglicherweise unter göttlichem Segen, und sollte er hier bis heute einer Wahnvorstellung aufsitzen, so hatte er ganz unzweifelhaft eine andere Schutzmacht auf seiner Seite. Er wog die Chancen mehrmals ab, taxierte die Entfernungen und war schließlich fest entschlossen. Bei der worst-case-Erwägung kamen ihm seine Eltern in den Sinn; Vater und Mutter hatten immer blindes Vertrauen gezeigt, auch in wendepunktträchtige Entscheidungen, wie seinerzeit bei der eigenmächtigen Durchsetzung des Wechsels von der Privaten Handelsschule zum Are-Gymnasium in Bad Neuenahr. Ein letztes Zögern verbat sich nun allein schon aus den Einflüsterungen, die er – bei der Ehre seiner Mutter – überdeutlich vernahm. Er sah vor allem die Mutter, die ihn ermunterte und ihm die Sicherheit vermittelte das Richtige zu tun. Alle Erwägungen, ob dies nun Recht sei oder sittsam, spielten überhaupt keine Rolle. Sein Handeln stand einzig unter dem Steinerschen Verdikt, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Zugegebenermaßen war sein Vorhaben nicht nur irrational, sondern zweifelsfrei idiotisch, wenn nicht selbstmörderisch. Erst zwanzig Jahre später sollte er vollends begreifen, warum gerade die Mutter die Patenschaft für seinen aberwitzigen Husarenritt übernommen hatte.

Er vergewisserte sich, ob das Umfeld weiterhin ruhig blieb, stieg auf die Fensterbank der Luke zum Lichthof, taxierte noch einmal genau Abstände und Sachverhalte, den zu erreichenden Absatz und die Griffigkeit der Fensterbank – die schien aus geriffeltem Basalt zu bestehen. Dann atmete er tief durch, machte einen weiten Ausfallschritt, kam unterhalb des Badezimmerfensters zu stehen, versuchte gleichzeitig mit den Fingern der rechten Hand die ausgefräste Führung der Tropfkante zu greifen, während der Daumen im Verein mit den Fingern wie eine Zwinge die Fensterbank von oben klammerte. Dies gelang innerhalb weniger Sekunden. Und es blieben nur wenige Sekunden, sich klammernd auszubalancieren und in einem finalen Rettungsakt das Fenster aufzustoßen. Es verschwimmt zwischen akuter Panikattacke und einer verzweifelten Willensanstrengung zuerst realisieren zu müssen, dass das Fenster verriegelt war, um dann mit letzter Kraftanstrengung den linken Ellenbogen in die Fensterscheibe zu rammen, die splitternd und klirrend zerbrach (die Vorstellung jenes Badezimmerfenster hätte seinerzeit bereits über eine einbruchsichere Doppel- oder Dreifachverglasung verfügt, wirkt heute noch schweißtreibend). Der endokrine finale Mix aus Adrenalin und Testosteron hatte inzwischen jede abgeklärte, eiskalte Haltung in einen Zustand innerer Wallung verwandelt, so dass sich die nächsten Schritte wie in Trance vollzogen. Er fand sich inmitten des kleinen Badezimmers wieder. Der Einbruch selbst hatte sicherlich nicht mehr als eine gute Minute gedauert. Dass dieser Gewaltakt eine unüberhörbare Lautkulisse erzeugt hatte, brachte ihn sekündlich in die reale Welt zurück. Zu seiner Verblüffung blieb alles totenstill, in der Wohnung genauso wie im gesamten Haus. Nun half es nicht mehr Beistand bei Vater, Mutter und allen Schutzheiligen zu suchen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte er sich in einen irren Hasardeur, der glauben musste einen lupenreinen Grand auf der Hand zu haben. Aber das hier war keine Skatrunde, und urplötzlich stand die Frage im Raum, ob er sich nicht maßlos überreizt und verzockt hatte? Warum rührte sich nach dem Zersplittern des Fensters immer noch nichts. Dass Gabi nicht zu Hause war, war von Anbeginn seiner Bemühungen klar, aber was war – verdammt noch mal – mit Claudia?

Er schaltete das Licht ein und setzte sich auf den Badewannenrand, sah, dass er an der Hand blutete, stand auf und wusch sich das Blut ab. Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und blickte in das Gesicht eines… ja, in wessen Gesicht blickte er da? Eines irren, liebesblöden Einbrechers, der sich jetzt den Konsequenzen seines Handelns stellen musste!? Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob hier eine Heldengeschichte geschrieben wurde, oder ob ein betrogener Betrüger sein Waterloo erfuhr. Immerhin so viel lässt sich sagen, dass Claudia während der vergangenen Stunde, in der jemand alle Zustände des Verrücktseins durchlebte, Leib und Leben riskierte, straffällig wurde und alle mehr als berechtigten Selbstzweifel halluzinativ und endokrinologisch in Schach hielt und dabei das Vermögen entfaltete, dem Schacht zu entgehen, in aller Seelenruhe in ihrem Bett lag und schlief – fahrlässig zumal, weil sie einer Kerze erlaubte ein schütteres Licht auf ihre weltentrückte Schönheit zu werfen.

Und der Schreiber war gut beraten, 42 Jahre und 5 Minuten Abstand zwischen sich und den geschilderten Ereignissen wachsen zu lassen. So kommt er heute endlich in Augenhöhe mit Steiner, der vor gut zwanzig Jahren – damals just im Alter des Schreibers – glaubte behaupten zu können, dass erstens die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, einiges für sich hat, und dass sich zweitens damit die Schlussfolgerung ziehen lasse, dass all dies für die jeweils Handelnden Sinn mache – und zwar jenseits aller Vernunft, jenseits von Gut und Böse und sogar jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sei. Die hier geschilderten Ereignisse aus jenen trüben Märzstunden im Frühjahr 1979 befüllen jedenfalls eine bis heute nicht versiegende Sinnquelle.

Über den Sinn, den diese Ereignisse für das begehrte Gegenüber, jene einzigartige schlaftrunkene und weltentrückte Schönheit hatten, mag der Schreiber nicht wirklich spekulieren. Dass uns in wenigen Monaten die Rubinhochzeit (40 Jahre) winkt und die Glocken läuten für ein erhofftes fürsorgliches Finale mag als Antwort überzeugen. Und wenn Pascal sagt, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, so würde Pascal sich heute die Augen reiben: Denn das Herz triumphierte in den Märztagen des Frühjahrs 1979 – und man hört es heute noch pochen; und so wie das Herz den Verstand belebt, so gibt der Verstand dem Herzen heute so viele Gründe, an denen es sich erbauen kann. Allein aus diesen Gründen lohnt es den Geschichten nachzugehen, die der Schreiber hier festhalten möchte – auch für die Nachwelt

Das Wissen darum, wie Kinder in diese Welt kommen – Der absolute Zufall der Geburt (3)

Allein das Wissen darum, wie Kinder gemacht werden, war in dieser Welt mit einem Tabu belegt. Die junge Frau, die nun in Erscheinung tritt, hätte mit der Unterscheidung, ob man ein Kind will oder ob man Sex will, gar nichts anfangen können. Es gab nicht einmal eine Sprache dafür – geschweige denn Ansprechpartner, solche Unterschiede bedenken oder gar besprechen zu können. Auch Sex haben zu wollen war beispielsweise zu Beginn der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz sicher nicht das erklärte Ziel einer eben erst siebzehnjährigen jungen Frau. Und wenn sie noch geahnt hätte, dass das, was sie irgendwie wollte, von dem sie aber so ganz und gar nicht wusste, wie es sich zutragen würde und dass es gar dazu führen kann – und in ihrem Fall sogar unabwendbar dazu führte –, ein Kind zu empfangen, dann wäre die Schwester des Chronisten niemals geboren worden; und so auch nicht ihr Sohn und ihre Enkelin. Wie segensreich doch auch Unwissen sein kann!? Niklas Luhmann hat dafür nur die lapidare Bemerkung übrig, dass die Geburt zwar als Faktum deklariert und in der Regel beurkundet wird, dass sie aber – berücksichtige man, wie es dazu gekommen ist – einen extrem unwahrscheinlichen Zufall darstelle. Und ganz sicher markiert es einen extrem folgenreichen Umstand, wenn infolge des Unaussprechlichen ein Mädchen geboren wird, das seinen Vater niemals kennenlernen wird. Und mehr noch müssen die ursprünglichen Geschehnisse darüber hinaus abgeschattet und im Dunkel bleiben, so dass selbst der Vermerk: „Vater unbekannt“ in der Geburtsurkunde lange unbemerkt bleibt und im Familienarchiv mit einem radikalen Tabu belegt wird. Das hat Folgen, so wie die Tatsache Folgen hat, dass diesem Mädchen zwei Brüder – zwei halbe Brüder – geboren werden, deren Startbedingungen in dies Welt sich in so ganz anderer Weise ausprägen werden.

Exemplarisch mag dies daran greifbar werden, dass eine ungewollte – eine persönliche und familiäre Tragödie auslösende – Schwangerschaft für alle Beteiligten etwas völlig anderes bedeutet als eine erhoffte und mit Kräften ersehnte Schwangerschaft. Dies alles hat der Schreiber zehn Jahre nach dem Tod der Mutter in Hildes Geschichte bereits aufgeschrieben. Ungewöhnlich bis heute erscheinen die Bindungskräfte, die einerseits zwei Wunschkinder – beides Söhne – in starker elterlicher, auch mütterlicher Loyalität halten, die aber gleichzeitig eine starke geschwisterliche Bindung unter allen dreien von der Mutter geborenen Kindern erkennen lassen. Die Tragik dieser singulären Familiengeschichte, die so exemplarisch für ihre Zeit ist, hat viele Facetten: Der Preis, der für ein relativ normales Familienleben zu entrichten war, lag einerseits in der Schweigespirale begründet, die die Mutter-Tochter-Beziehung ganz offenkundig ein Leben lang belastet hat. Andererseits wuchsen zwei Söhne heran in einem familialen Fluidum, dass ebenso offenkundig dazu angetan war, diesen Söhnen eine Haltung zu vermitteln, die alle Formen der Ausgrenzung ausschlossen, eine paradox anmutende Formulierung, die auf sanfte Weise Loyalitätskonflikte andeutet, die auf ganz und gar originelle Weise einen Ausweg finden würden.

Kann man angesichts des historischen Weltbebens in Gestalt der NS-Terror- und Gewaltherrschaft unbefangen von einem kleinen Glück im großen Unglück sprechen? Begründet in den Umständen und dem Ort der Geburt der Tochter im Juni 1942 – genau vier Wochen vor dem 18. Geburtstag der Mutter? Das Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) Flammersfeld im Westerwald bot seinerzeit den absolut geschützten Raum mit geburtsvorbereitender und –begleitender Expertise auf der Höhe der Zeit. So kam ein gesundes, kräftiges Mädchen zur Welt, in dessen Geburtsurkunde aber bereits der Vermerk „Vater unbekannt“ lebensbestimmend werden sollte. Zwar in der Welt zu sein, aber in der Welt zu sein als Ausdruck eines vom Zeitgeist und den mörderischen BeobachterInnen in der Heimat immer wieder signalisierten Ausdrucks der Schande – im Übrigen auch eine Botschaft, die der Großvater der werdenden Mutter mit auf den Weg nach Flammersfeld gegeben hatte – das ist doch eine starke Hypothek!? Und dass zwischen der eigenen Geburt und der Geburt des ersten Bruders in Bad Neuenahr, mit der ich selbst das Licht der Welt erblickte, immerhin zehn Jahre liegen, mag ein äußeres Zeichen dafür sein, dass der Weg zurück in die zivilisierte Gesellschaft – für Ursulas Mutter in Gestalt der Enge einer streng katholischen Spießerwelt ein steiniger war. Ausspucken vor der verkörperten Schande und die üble Nachrede, die sich in Lauterkeit und moralischer Überlegenheit gebärdete, gehörten wohl anfangs zu den alltäglichen Formen der Ausgrenzung. Und diese Ausgrenzung vollzog sich auch im unmittelbaren nachbarschaftlichen Kontakt.

Die einzige vollkommene Ausnahme von diesem, in christlicher Lauterkeit geführten Exklusionsfeldzug manifestierte sich ausgerechnet in Gestalt des Nachbarsohnes. Er allein begann – vor allem auch gegen die eigene Mutter – schon früh seinen eigenen Feldzug zur Eroberung einer geschliffenen Festung. Diese Festung erwies sich vor allem deshalb als schier uneinnehmbar, weil es zur Entfernung der Trümmer, die sich da angehäuft hatten, kein geeignetes Werkzeug gab. Der Schreiber dieser Zeilen spricht andernorts von dem dicken Brett, das sein Vater, Theo Witsch, über viele Jahre gebohrt hat. Seine unendliche Geduld und Ausdauer führte gut sechs Jahre nach der Geburt Ursulas zur Heirat von Hilde und Theo – am 21. August (standesamtlich) bzw. am 18. September 1948 (kirchlich). Da musste sich die kleine Ursula – kurz nach der Einschulung – nicht mehr auf einen vollkommen fremden Mann einstellen, der zwar nicht ihr Vater war, der aber offenkundig schon lange vor der Heirat sein Herz geöffnet hatte für ein Mädchen, dass er dann an Vaters Stelle annahm, und dem er – dafür gibt es keine beredtere Zeugin als jenes Mädchen selbst – ein über die Maßen geliebter (Stief-)vater wurde. Vielleicht ist dies schon die Stelle, an der der überlebende der Brüder Zeugnis ablegen sollte über eine ungewöhnliche Integrationsleistung eines 1922 geborenen Mannes, der seine Jugend, ein Stück seiner Unbefangenheit und seine Gesundheit jenen verbrecherischen Hasardeuren opfern musste, die Europa und die Welt mit Terror und Krieg belegten. Auch er – der nur eineinhalb Jahre ältere Nachbarssohn hatte natürlich keinen Zugang zu dem, was sich in den späten August- und frühen Septembertagen 1941 in Bad Neuenahr zugetragen hatte und ihm schon eine Vaterschaft bescherte, bevor ihm eigene Kinder geboren wurden.

Der Schreiber hat sich sein Leben lang professionell mit der Frage auseinandergesetzt, was man wohl als zuträgliche Bedingungen für einen nachhaltigen positiven Start in sein eigenes Leben betrachten kann. Neben den Schlüsselkategorien Geborgenheit und Zugehörigkeit konnte er die Idee der bedingungslosen Liebe vor allem in Gestalt stetiger liebevoller Zugewandtheit nicht nur in der Theorie als notwendige Bedingungen ausmachen, sondern sie entsprachen auch vollkommen der erfahrenen Praxis im eigenen familialen Umfeld. So hatten die beiden Brüder stets guten Wind im Rücken. Die Schwester hingegen stand primär unter dem Schutzpatronat ihres Stiefvaters, von dem die Brüder erst spät begriffen, dass er nicht Ursulas leiblicher Vater war bzw. sein konnte. So hatten das Familiengeheimnis und das damit verbundene Tabu durchaus auch positive Seiten. In der Gestalt der Schwester – immerhin zehn bzw. fast vierzehn Jahre älter als ihre Brüder – wuchs eine starke, widerborstige, eigensinnige Persönlichkeit heran, die über ein außerordentliches Maß – heute würde man sagen – an Resilienz verfügt. Wer früh um Status und Anerkennung kämpfen muss, ist in seinem Leben eigentlich zu fortgesetztem und möglicherweise auch finalem Scheitern prädestiniert. Dass die Schwester standhielt, nie resignierte und immer – bei allen Rückschlägen und Widrigkeiten in ihrem Leben – Lebenswillen bewies und Lebenslust sich gestattete, macht sie bis heute zu einem besonderen und außergewöhnlichen Menschen. Bei aller selbstbezogenen und kämpferischen Ausrichtung der eigenen Lebensenergie – und ziele lässt sich ein Übermaß an Verantwortung und Empathie erkennen – dies umso ausgeprägter, je älter sie wird; unglaublich angesichts der frühen soziologischen Definition von Benachteiligung: katholisch, ländlich, weiblich – so definierte Erwin K. Scheuch (Kölner Soziologe) in den 50er Jahren die Situation katholischer Mädchen auf dem Lande, zumal im erzkatholischen Rheinland! So lernen wir eminent praktisch und aus Erfahrung heraus den gravierenden Unterschied zwischen formaler Bildung und Herzensbildung.

Bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass – so ganz anders als 1941 – die Bemühungen um (erneute) Schwangerschaft einem mühsamen Geduldsspiel gleichkamen. Franz Streit, dem leiblichen Vater des am 5.6.1942 geborenen kräftigen, gesunden Mädchens, hatte ein einziger Beischlaf genügt, um das Leben anzustoßen; ganz und gar ungewollt, unerwartet, aber billigend in Kauf nehmend, dass jenes Erweckungsgeschehen am 9. September 1941 in Remagen aus Hilde nicht nur eine Frau, sondern eine Frau machen würde, die fortan in guter Hoffnung sein würde, bis sie ihre Ursula hineinbefördern würde in den beginnenden Untergang, dessen Bilanz auch den finalen Blutzoll des Franz Streit am 23. September 1943 (gefallen im Dnjeprbogen bei Saporoshje) ganz selbstverständlich und beiläufig registrieren würde; eine Tatsache im Übrigen, die Hilde und seiner bzw. ihrer Tochter erst mehr als 60 Jahre nach Franzens Tod erreichen würde.

Fast 80 bzw. 70 Jahre nach diesen Ereignissen vermag man vielleicht deutlicher sehen, wie folgenreich sich Schwangerschaften im sozialen Umfeld auswirken: Kam die erste Schwangerschaft denkbar zu früh und ungewollt, so kam die zweite, herbeigesehnte und -herbeigebetete Schwangerschaft eigentlich – und auch zum großen Bedauern des Zweitgeborenen – zu spät. Zu spät, wofür? Eine der immer wieder erzählten Geschichten geht so, dass der Vater Theos und Schwiegervater von Hilde und Großvater von Franz Josef (und Wilfried) nach dem Tod seiner Frau (drei Wochen vor der Hochzeit von Hilde und Theo) keinen Lebensmut mehr hatte – man würde heute von einer durch den Verlust der Ehefrau ausgelösten Altersdepression sprechen. Zweimal hatten die beiden dem Vater mitgeteilt, dass Hilde sich in guter Hoffnung befände; beide Male kam es zum ungewollten Abbruch der Schwangerschaft. Endlich dann bei der dritten Schwangerschaft wollte man die Lehre ziehen und solange warten mit der frohen Botschaft, bis die Schwangerschaft auch stabil und aussichtsreich erschien. Der (Schwieger-)Vater hat – bevor er davon erfahren hat, so geht die Geschichte – dann bei der Fango-Produktion wohl bewusst und willentlich giftige Abgase eingeatmet und ist vor der Geburt seines ersten Enkels gestorben. Der zweite Enkel kam dann 1955. Die Familienplanung war damit abgeschlossen, und fortan lebten die fünf miteinander solange, bis der Tod die Eheleute schied.

Am 24. April 1988 – im Alter von 65 Jahren – starb Theo innerhalb einer Woche an den akuten Folgen eines Herzinfarkts. Zehn Tage zuvor hatte die Familie Theos 65sten Geburtstag in Bad Bodendorf noch groß gefeiert – den Vater auf gutem Wege wähnend. Die Feier ist allein aus einem einzigen Grund besonders zu erwähnen, weil dem Schreiber dieser Zeilen Jahre später beim Anschauen eines Videomitschnitts auffiel, dass zu diesem Festakt keiner der Söhne das Wort genommen hatte, sondern dass die Schwester die Laudatio hielt und dies in beeindruckender Bestätigung des Bekenntnisses, sich keinen besseren Vater vorstellen zu können. Jahrzehnte nach dieser Geburtstagsfeier wirkte dieses Bekenntnis noch einmal wie die verdrängte Bestätigung eines filigranen sozialen Gebildes, in dem der Vater auf unmissverständliche, gleichwohl diskrete Weise der entscheidende Integrationsmotor war.

Dies ist sicherlich umso bedeutsamer, als nach dem Tode Theos die Tochter – zuerst zaghaft, dann aber konsequent und rückhaltlos – damit begann die Frage nach ihrer (väterlichen) Herkunft zu stellen.

Wir machen uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. (2)

Warum sollte man sich darüber Gedanken machen, wie Menschen in diese Welt kommen? Das ist doch das Selbstverständlichste und Normalste überhaupt!? Einerseits ist dies gewiss nicht von der Hand zu weisen. Und am Abend dieses trüben Märztages im Frühjahr 1979 wurde ganz gewiss der Möglichkeit erheblichen Vorschub geleistet, dass aus einer Verbindung dieses liebesblöden, verrückten Einbrechers mit der schönen, weltentrückten Moselperle Kinder hervorgehen könnten – vielleicht zwei Mädchen, deren Vornamen mit L. und mit A. beginnen könnten. Und – besessen von Generativität – wäre es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass aus den beiden irgendwann sogar Omma und Oppa würden!?

Während Claudia alles richtig gemacht und sich in der Männerwelt umgesehen hatte, versuchte der nicht mehr ganz junge Hasardeur – wie weiter oben eindrücklich geschildert – soeben seine Freiheit zurückzugewinnen, um sie im gleichen Augenblick wieder zu verpfänden. Geht alles seinen Gang, finden sich die generativitätsverheißenden Keimzellen im besten Falle wie von selbst. Von außen betrachtet mag sich das Verknüpfen zueinander passender Fäden im Einzelfall zuweilen abstrus und irritierend ausnehmen. Schenkt man Biologen, Endokrinologen, Physiologen (insbesondere in Gestalt von Geruchsforschern) Glauben, hat die Natur in der Regel ihre Finger im Spiel. Vor zweieinhalbtausend Jahren hatte Platon mit seiner Vorstellung der beiden komplementären Hälften bereits eine idealisierte Variante dieser Paarungsidee in die Welt gebracht. Zu der Annahme, oder im besten Fall der gemeinsamen Überzeugung, dass sie nicht zueinander passen, - möglicherweise sogar eklatant ungeeignet füreinander sind – kommen Menschen häufig erst nach Jahren, manchmal erst nach Jahrzehnten des Zusammenlebens. So beiläufig, wie es ein Soziologe von Weltrang (Niklas Luhmann) formulierte, dass man sich nämlich unter Umständen nach der Scheidung als jemand wiederfinde, der das erreicht hatte, was er sich gewünscht hatte, und dann einsehen musste, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte, erleben viele Trennungswillige und Trennungsgeschädigte das Zusammenkommen und das Auseinandergehen nicht! Die Bedingungen und Varianten solcher Vorgänge sind unendlich, wenngleich sich grobe Muster erkennen lassen:

  • Die Liebe auf den ersten Blick – zwei Menschen vergucken, verbinden, verstricken und verbandeln sich miteinander. Manchmal geht das gut und aus Liebe wird liebevolle Partnerschaft, häufig verbunden mit der Gründung einer Familie und der Zugehörigkeit zu einer Sippe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben/lieben sie noch heute.
  • Einer verliebt sich und gibt nicht eher auf, bis ihn der/die andere erhört. Damit beginnt entweder eine Erfolgsgeschichte, man traut sich (oder auch nicht) und geht gemeinsam durchs Leben. Oder der Anfang vom Ende nimmt seinen Lauf und man erlebt, was der eine geahnt und der andere nicht sehen wollte/konnte.
  • Zwei Menschen sind befreundet – vielleicht beste Freunde – und nach und nach oder auch mit einem Mal gesellt sich zur Philia der Eros. Zur Frage, ob die beiden miteinander klar kommen (können), könnten vielleicht Harry und Sally etwas sagen!
  • Zwei Menschen verlieben sich unsterblich ineinander. Aber sie scheitern letztlich daran, dass die Einsicht, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, von beiden völlig gegensätzlich ausgelegt wird: Der tragischste aller Widersprüche auf dieser Ebene resultiert aus der ausweglosen Klemme, dass der eine Kinder will und der andere nicht (übrigens der einzige Grund, aus dem nach katholischer Rechtsauslegung das heilige Sakrament der Ehe aufgelöst werden darf). Expertin auf diesem Gebiet ist Eva Illouz!

Es ist wohl kaum anzunehmen, dass vor allem junge Menschen sich über solche Unterschiede Gedanken machen, zumal all diese Varianten sich in einer Welt zutragen, die sich in der sogenannten Moderne Phänomenen verdanken, die sich Aufklärung und Emanzipation nennen. Schaut der Schreiber – zugegeben nun selber schon alt – nur auf seine Eltern, dann wird er auf ganz andere Phänomene stoßen, die das schiere Gegenteil von Aufklärung und Emanzipation bedeuten.

Spurensuche I (4)

Gehen wir einmal – von 1988 aus gesehen – 28 Jahre rückwärts; wir landen im Jahr 1960, genauer im Juli 1960. Am 19. Juli 1960, an einem Dienstag, fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen, Franz Josef und Wilfried, nach Flammersfeld, so ziemlich genau 18 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Ursula. Die erste Frage, die sich heute stellt: „Was – um Himmels Willen – will sie dort in Flammersfeld?“ Die Erinnerungen des Schreibers dieser Aufzeichnungen sind dünn; hilfreich sind sechs Postkarten, die zum einen das Zeitfenster (19.7.-27.7.1960) exakt belegen, und die zum anderen etwas offenbaren über Umstände und Eindrücke dieser merkwürdigen Reise. Drei Karten sind adressiert an „Familie Theo Witsch“, jeweils eine Karte an „Familie Josef Lahnstein“, „Fräulein Ulla Witsch“ und „Herrn Theo Witsch“. Was am meisten irritiert, sind die Anreden, wobei die erste Karte (20.7.) an „Familie Theo Witsch“ einen rätselhaften, nicht mehr nachvollziehbaren oder irgendwie interpretierbaren Hinweis enthält (fett). Die Anrede irritiert, weil dem Schreiber dieser Aufzeichnungen die Anrede „Vati“ völlig fremd ist und in keiner Weise erinnerlich im Sinne einer alltäglichen Anrede (die lautete immer: Papa und Mama!) Da heißt es:

„Lieber Vati und Ulla, viele Grüße sendet Euch Mutti. Das geben 8 lange Tage. Franz-Josef sagte gestern Abend, da wäre er doch lieber zu Hause geblieben, immer nur spazieren gehen, das ist nicht das richtige. Im Schwimmbad ist kein Tropfen Wasser und spielen kann man auch nicht gehen. Jetzt gehen wir einen Ball kaufen, dann können wir wenigstens Fußball spielen. Der Herr mit Auto ist mir schon begegnet, war mir sehr peinlich. Nochmals Gruß Mutti.“

An ihre Eltern schreibt Hilde:

„Liebe Eltern! Viele Grüße senden Euch Hilde und Kinder. Hier kennt man sich nicht mehr aus. Flammersfeld ist noch 2-mal so groß, wie es war. Liebe Mutter, wie geht es Dir? Wenn es schlimmer ist, dann ruft mich vor 9 Uhr morgens an, die Nummer ist 286. Nochmals viele Grüße Hilde und Kinder.“

Am 21.7. gehen zwei weitere Karten nach Bad Neuenahr; eine an Herrn Theo Witsch und eine an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati, heute regnet es in Strömen, als ob die Welt untergehen wollte, und ich sitze hier mit den Beiden auf dem Zimmer (ich möch zefoß no Kölle jon). Kannst Du Dir das vorstellen. Aber vielleicht regnet es sich heute aus und wir haben dann doch noch ein paar Tage schönes Wetter. Die Leute sind sehr nett und wir bekommen ein prima Frühstück: 6 Brötchen, Brot in Mengen, 1 Ei, Käse, Marmelade, drei Stück Butter. Die Kinder bekommen Kakao. Man könnte es hier schon aushalten. Aber es ist eben zu Hause doch am schönsten. Für heute viele Grüße an Euch beide Mutti.“

Eine mit Bleistift geschriebene Postkarte – liniert – habe offenkundig ich geschrieben:

Lieber Vati und Ulla! Ich wünschte es wäre schon Dienstag. Heute hat es fast den ganzen Tag geregnet. Mama hat uns heute Morgen Regenkeps gekauft. Eben haben wir ein Reh gesehen. Sonst sieht man hier nur Kühe und Ochsen. Was macht Hansi? Für heute viele Grüße von Franz Josef und Wilfried. Auch viele Grüße an Oma und Opa.

Am 22.7. schreibt Hilde an ihre Tochter:

Aus Deinem Geburtsort herzliche Grüße sendet Dir Deine Mutter und Geschwister. Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst. Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens eine Karte schreiben. Für heute nun viele liebe Grüße sendet Dir Mutter.“

Und schließlich die letzte Karte vom 23.7. an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati und Ulla! Bis jetzt haben wir noch nicht einen Tag ohne Regen gehabt. Wir sind es richtig leid. Abends liegen wir schon um sieben Uhr im Bett. Wenn man mit dem Zug von hier fahren könnte wären wir schon wieder zu Hause. Aber von hier fahren nur Busse und da hat Franz Josef zu viel Angst. Bis am Dienstag viele Grüße und Aufwiedersehen Mutter.“

Versuchen wir das Wesentliche festzuhalten und es in einen Verstehenshorizont aus heutiger Betrachtung einzuordnen: Vom 19. bis zum 27. Juli 1960 fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen nach Flammersfeld im Westerwald, den Geburtsort ihrer Tochter. Diese Geburt ereignete sich – bezogen auf den 19. Juli 1960 genau 18 Jahre und 34 Tage zuvor. Auf der Karte, die Hilde ihrer Tochter schreibt, ist das Geburtshaus Ullas zu sehen, das sogenannte „Braune Haus“, das vier Geschossebenen aufweist, von denen drei auf der Postkarte eindeutig zu erkennen sind. Dieses sogenannte „Braune Haus“ beherbergte 1942 ein Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt – inzwischen ist es abgerissen. Bemerkenswert ist, dass Hilde die Karte mit dem Hinweis beginnt: „Aus Deinem Geburtsort …“. Ursula Witsch, geborene Lahnstein, bekam hiermit einen Hinweis, der ihr – nimmt sie ihn wörtlich – die Frage aufzwingt: „Warum bin ich nicht zu Hause bzw. in Bad Neuenahr geboren, sondern in Flammersfeld?“ Und genauso, wie sie all die kleinen Mosaiksteine gesammelt haben mag in ihrem Unterbewussten, wird sie diesen Hinweis abgespeichert haben auf der langen Liste von Fragen, die sich mit ihrer Zeugung und Geburt verbinden: „Wieso Flammersfeld – am 5.6.1942? Da war meine Mutter nicht einmal 18 Jahre alt!“ Dass Flammersfeld jene wendepunktspezifischen Qualitäten repräsentiert, die Niklas Luhmanns Lebenslauf-Definition entsprechen, wird in unmittelbarer Zukunft eine weitere markante Besonderheit offenbaren. Luhmann bemerkt ja in seiner unvergleichlich trockenen Diktion: „Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“ Und die Postkarte an ihre Tochter enthält weiteren Zunder, und man ist geneigt, Hilde zu unterstellen, dass sie hier bewusst zündelt: „Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst? Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens ein Karte schreiben.“ Stand die Beziehung zu jenem Ernst, der der Vater ihres Sohnes Michael werden sollte, soeben auf der Kippe? War es jener Sommer, den Ernst mit einem Freund in Dänemark oder Schweden verbracht hat, um sich die Hörner abzustoßen – seine Erzählungen sind legendär!? Das Zündeln hatte zwiespältige Folgen. Hilde hat gewiss weder damit gerechnet noch davon geträumt, dass es ihre Tochter ihr gleichtun würde, sich nämlich zu einem vergleichbar frühen Zeitpunkt schwängern zu lassen – irgendwann im März 1961, noch mit 18 – wenige Monate vor ihrem 19. Geburtstag. Am 14. Januar bringt sie ihrer Mutter den vielleicht – nein, den ganz sicher – innig begrüßten Enkelsohn zur Welt.

Aber bleiben wir zunächst in Flammersfeld – im Juli 1960! Das Entbindungsheim der NSV war unversehrt. Hilde ist gewiss an diesen Ort zurückgekehrt. Meine Erinnerung mag mich trügen, aber es gibt verschwommene Bilder, die mir zumindest einen Besuch signalisieren. Was zum Teufel hätte unsere Mutter genau an diesen Ort zurückführen sollen, wenn nicht die Hoffnung den ein oder anderen Akteur, die ein oder andere Beteiligte aus jenen Wochen ihrer Obhut im Heim der NSV wiederzusehen? Und welcher Herr ist ihr begegnet? Und warum war ihr diese Begegnung peinlich? Die Postkarten hat im Übrigen meine Schwester aufbewahrt, meine Schwester, die – nachdem sie gebenedeit war unter den Frauen – ihren Ernst heiratet auf dem Standesamt jenes Ortes, in dem sie das Licht der Welt erblickt hat – in Flammersfeld!

Eine Ironie am Rande all dieser Merkwürdigkeiten ergab sich  40 Jahre später bei der Rekonstruktion des Einsatzweges von Franz Streit in der Deutschen Wehrmacht. Wäre F.S. nicht im September 1943 gefallen, hätte er sich mit dem Stab seines Stammregiments (Panzerregiment 33 der 9. PD) am 15.3.1945 in Flammersfeld wiedergefunden. In den Regimentsunterlagen findet sich zum 15.3.1945 folgender Vermerk: „Die rückwärtigen Teile der Abteilung verlegen über Altenberg – Benzberg – Overath – Much – Schönenberg – Eitorf und Kircheib nach Mehren. Stab über Benzberg – Gummersbach – Auchel – Waldbröl – Wissen – Roth – Hamm – Lenscheid und Weyerbusch nach Flammersfeld.“ Quartier war mit Sicherheit das sogenannte „Braune Haus“, das seine Aufgabe als Entbindungsheim zu diesem Zeitpunkt gewiss schon hatte aufgegeben müssen. Franz Streit, der Hilde zuletzt und seine Tochter zum einzigen Male im Juni 1942 in Flammersfeld gesehen hatte, gehörte da bereits zu den Gefallenen seines Stammregiments, dem er seit der Aufstellung der Division angehört hat.

Es ist müßig über die Motive Hildes zu diesem einwöchigen Urlaub in Flammersfeld zu spekulieren. Dem Verfasser dieser Aufzeichnungen ist erst spät – eigentlich erst im Alter – die unaufgelöste Spannung bewusst geworden, in der Hilde lange gelebt haben muss, und die sie möglicherweise auch dazu veranlasst hat einer Heirat mit Theo erst so spät zuzustimmen. Gleichermaßen unbeantwortet bleibt die Frage, welcher Mann Jahr um Jahr sein Werben aufrechterhalten hätte – gegen alle bedeutsamen Anderen, vor allem gegen die eigene Mutter? Und mit der Heirat war das Menetekel nicht aus der Welt geschafft, dass irgendeines ungewissen Tages Franz Streit auftauchen könnte, um seine Tochter zu sehen und was sonst noch für Motive im Schilde zu führen. Die letzten Heimkehrer wurden 1955 aus russischer Gefangenschaft entlassen! Und da Franz Streit Hilde gegenüber eingestanden hatte, bereits verheiratet zu sein und ein Kind zu haben, lebte sie schlicht in der Ungewissheit über Franzens Schicksal nichts zu wissen. Hilde hat – nach eigenem späten Bekunden – alles vernichtet bzw. verbrannt, was mit Franz Streit zu tun hatte und was sie an ihn hätte erinnern können. Dass Franz Streit den Heldentod gestorben war und nicht nur einen Sohn, sondern derer zwei hatte, würde erst ihre Tochter 60 Jahre später ans Tageslicht befördern. Jahre, nachdem ihr Bruder Wilfried auf dem Weg nach Österreich mit dem Flugzeug abgestürzt war, würde Ursula in Wien (Gert) und in der Nähe von München (Werner) zwei weitere Brüder finden und so ein neues Kapitel ihrer ganz persönlichen Familiengeschichte aufschlagen.

Ein Schisma der Moderne liegt ganz gewiss in der Möglichkeit einer wirksamen, verlässlichen Empfängnisverhütung begründet. Die Zulassung der Pille in den sechziger Jahren bedeutet ein radikal neues Kapitel in der Beziehung von Frau und Mann. Während sich Hilde mit ihrer gänzlich ungewollten und ungeahnten Schwangerschaft tatsächlich einer Todsünde schuldig machte und den vollen Preis dafür bezahlte, bedeutete die Schwangerschaft ihrer Tochter ein deutlich geringeres Maß an Tragik, da ja immerhin der erfolgreiche Schütze aus der ersten Reihe in die Pflicht genommen werden konnte. Die Tragik war gewissermaßen eine nachgetragene, weil Ehen – ausschließlich auf den Tatbestand eines erfolgreichen Beischlafs gegründet – ihre eigenen Hypotheken mit sich schleppen. Weitere Schwangerschaften blieben dem Paar dann auch erspart, bevor die Ehe sich schließlich überlebte und vor dem Scheidungsrichter endete. Dem Prinzip der Generativität war genüge getan und die junge – überaus junge Großmutter – sorgte, so wie das gesamte familiale Umfeld dafür, dass der Enkel beste Startbedingungen für sein künftiges Leben erfuhr. Die lebensprägenden Umstände und die richtungsweisenden Lebensentscheidungen dieses Enkels werden – aus der puren Beobachterhaltung seines Onkels – noch eine raumgreifende Aufmerksamkeit erfahren. Alle in die Verantwortung bzw. das Geflecht von Erziehung und Beziehung einbezogenen – meinetwegen auch verstrickten – Akteure hatten bzw. habe ihre Sicht auf die Familiendynamik, die sich aus all den bereits erwähnten Hypotheken und Belastungen gleichermaßen ergeben. So wie der Schreiber dieses Berichts versucht eigene Spuren aufzudecken (und wo aufgedeckt wird, geht es immer auch um Verhüllung), kann – was den Enkel von Hilde und Franz Streit anbelangt – nur der Enkel selber etwas Licht ins eigene Dunkel tragen – wie er vor Jahren einmal meinte, ganz im Interesse seiner Kinder.

In der Folge sind alle Einzelkapitel zu dem hier vorgestellten Projekt: Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht – Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion mit eigenen Zugangslinks versehen, so dass auch einzelne Kapitel zur Lektüre ausgewählt werden können. Um dieses Vorhaben einer lebenslaufbezogenen Rekonstruktion einschätzen zu können, bieten sich die Vorbemerkung und die Einleitung an. Unter der Kapitelüberschrift, die eine Vorbemerkung ankündigt, verbirgt sich gegenwärtig noch der gesamte Textkorpus, so dass man hier nach der Vorbemerkung enden sollte (die im Übrigen dort endet, wo die Gliederung beginnt), sofern man das Ganze nicht als Ganzes lesen will.

Gliederung (in progress)

Das Herz (der Verstand) hat seine Gründe, welcher der Verstand (das Herz) nicht kennt (5)

Wer an dieser Maxime Pascals bislang gezweifelt hat, wird sicher über die vorstehenden Schilderungen ins Nachdenken geraten sein. Ja, in der Tat sind es nicht Gründe, die das Herz bevölkern. Wie George Steiner meint „sind es Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist.“

Der weiter oben geschilderte Husarenritt des Chronisten im aufbrechenden Frühjahr 1979 ist nichts anderes als ein gewaltiges Zeugnis für die Steinersche Hypothese. Der gewaltsame Einbruch in die Wohnung Claudias markiert eine folgenreiche Zäsur. Sie zeigt einen verrückten und liebesblöden Kerl, dessen Handeln sich nicht mehr um moralische Kategorien schert. Gut und Böse als mögliche Imperative bzw. Regulative werden von pragmatischen, zielorientierten Überlegungen mehr und mehr relativiert. Immer noch gebieten Scham und Respekt, den (die) Namen derer, die in den nunmehr zu schildernden unleugbaren Vabanque-Spielen nolens-volens – häufig unfreiwillige – Mitakteure waren, nur in Abkürzung bzw. Verfremdung anzudeuten. Die epochemachende – wenn auch heute umstrittene – von Alexander und Margarete Mitscherlich in den sechziger Jahren veröffentlichte Schrift „Die Unfähigkeit zu trauern“ (zuerst München 1967) bezieht sich zwar auf die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Dritten Reich. In ihrer zentralen These geht sie von der Weigerung aus, die Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten, das heißt, Trauerarbeit zu leisten. Der Begriff der Trauerarbeit ist umstritten. Was hingegen im vorliegenden Zusammenhang damit angesprochen wird, nämlich die Weigerung eigene schuldhafte Verstrickung überhaupt einräumen zu können, gilt – cum grano salis – in allen Lebenszusammenhängen.

Der Schreiber bewegte sich vom März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung, weil das Trennungsgeschehen, das er initiierte, für ihn einerseits alternativlos war, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbarte, die ein solches Trennungsgeschehen manchmal begleiten. Dazu wusste sich der Chronist dieser Geschehnisse nicht zu verhalten. In Briefen und auch in seinen mündlichen Verteidigungsreden beharrte er entschieden darauf, dass Trennungen eben vorkommen, dass sie – und seien sie noch so schmerzhaft und belastend – zum normalen Weltgeschehen dazu gehören. Und ganz gewiss hätte er damit auch uneingeschränkt Recht behalten, wäre seine Lebensgefährtin – immerhin über sieben Jahre – in der Dynamik dieses Trennungsgeschehens nicht lebensbedrohlich erkrankt. Schon im Mai 1979 wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, die zu einer Notoperation führte. Hier muss die Umkehrung der Maxime Blaise Pascals herhalten, um deutlich zu machen, dass allein der Verstand Gründe in Fülle hat, die dem Herzen fremd bleiben und ihm jeden machtvollen Einfluss verwehren.

(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz?  Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)

Es soll an anderer Stelle berichtet werden, dass diese Klemme – sich zu den Geschehnissen der Trennung von meiner damaligen Lebensgefährtin nicht angemessen zu verhalten – über zwei Jahrzehnte Bestand hatte, und welch simple Veränderungen dazu beitrugen, ihre Auflösung zu befördern.

Wenn wir nun schon an der biografischen Weggabelung angekommen sind, an der sich einerseits moralische Kategorien relativierten, so bedeutet das andererseits keineswegs, dass sie sich auflösten. Die Klemme im Frühjahr 1979 bestand vor allem darin, aufzubrechen in eine neue Welt und gleichzeitig die Frage zu beantworten, wie man die neu entstehende Bindungsdynamik beherrschen oder doch zumindest bezähmen könnte. Eine Vorwegnahme sei gestattet und drängt sich ja selbstredend auch auf, weil schon die Rede war vom bevorstehenden Fürsorglichen Finale. Das Frühjahr 1979 war also der Auftakt zu einem gemeinsamen Aufbruch, dem im Juni 2021 die Rubinhochzeit winkt. Und kurz vor dem Siebzigsten erfindet sich niemand mehr neu. Er hat vielmehr Mühe – wenn er sich schon der Mühe unterzieht Geschichten aufzuschreiben –, nicht in verlockenden Inkonsistenzbereinigungsprogrammen heillos unterzugehen, sondern letzte Reste von Glaubwürdigkeit und Authentizität zu retten. In einem ersten Gespräch über diese Aufzeichnungen mit einem langjährigen Freund, kamen wir auf die Schwierigkeiten zu sprechen, erstens die Frage redlich zu beantworten, wen all dies hier überhaupt interessieren könnte? Zweitens, wen es überhaupt etwas anginge? Und drittens, ob man nicht um des lieben Friedens willen sowieso den Blick viel besser nach vorne richten, und die Vergangenheit (endlich) auch Vergangenheit sein lassen sollte! Und mehr noch stellt die Frage, ob genau diese letzte Empfehlung nicht so etwas sei, wie die Überlebensgarantie für so viele, die beim Betrachten ihrer Vergangenheit ohnehin zu Totstellreflexen neigen (müssten)! Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten:

So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder aus den Augen verloren; Du bist ihnen fremd, und sie sind Dir fremd. Deine Enkel beginnen irgendwann zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? – manchmal zu spät. Den Aspekt der Flüchtigkeit hat kaum jemand eindrücklicher auf den Punkt gebracht als Botho Strauß – hier ohne generative Relevanz, was die ganze Sache auf lange Sicht – auf die lange Sicht des Botho Strauß erträglicher macht: "Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die, die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich - einst! seinerzeit! damals! - gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist diesselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Weges über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!"

Botho Strauß verflucht die Passanten-Welt. Er war – als er dies schrieb – noch ein relativ junger Mann. Blickt man als alter Mann zurück, ist man weniger versucht – oder auch nur geneigt – die Passanten-Welt zu verfluchen. Sieht man doch eindrücklicher und nachhaltiger die eigene Rolle in der Passantenschar. Und so mag es eben vorkommen, dass eine Schülerliebe all die Verheißungen nicht erfüllen konnte, die man sich im Aufbruch ausgemalt hatte. Der Verschleiß, der da früh einsetzt, ist dann gleichermaßen den eigenen Illusionen wie den eigenen Unfähigkeiten geschuldet. Früh schon bemerkt der Schreiber, dass er sich wieder einmal in die Gefahr begibt, das Erzählen weitgehend zu verfehlen; aus purer Angst und aus ehrlichem Respekt gegenüber den Beteiligten. So bleiben die Schilderungen Andeutungen, die aber aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hineinreichen in die Gegenwart. Sie erinnern erstens an die Altlasten einer verfehlten Erziehung und vor allem an einen Zeitgeist jenseits von Aufklärung, Emanzipation und sexueller Befreiung. Und sie erinnern bis heute an die ungelösten Herausforderungen, die Susanne Gaschke um die Jahrtausendwende folgendermaßen umschrieb:

„Auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen: Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei.“

Dass die Welt in Bad Neuenahr relativ heil geblieben war – mit Blick auf die von Susanne Gaschke angesprochenen zu bewältigenden traditionellen Probleme – verdankte sich schlicht einer Reihe von Zufällen. Für die in den zwanziger Jahren auf dem Land Geborenen stellten sich die Rollenzuweisungen weder im familialen und noch viel weniger im Zusammenhang mit einer sexuellen Identitätsbildung als irgendwie optional dar. Und ich schreibe es dem Zufall zu, dass die Fürsorge für alte Eltern bei uns nur noch gegenüber den Eltern der Mutter erforderlich war. Und es war Zufall, dass Vater und Mutter schon als Kinder Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße wohnten, so dass Fürsorge und Pflege perfekt zu organisieren waren. Und auch die Rollenverteilung ergab sich – gewissermaßen wie von selbst –, da Hilde die ältere der beiden Töchter war. Meine Oma starb 1968 und mein Opa 1970 – jeweils nach etwa halbjähriger Pflege bis zum Tode und vor allem zu Hause. Mein Vater hatte die Hosen an, und meine Mutter trug die Röcke, die dem Vater genehm waren, womit keineswegs gesagt ist, dass im ehelichen Zusammenspiel die Hosenrollen auch immer nach diesem Muster vergeben waren.

Eine kleine Reminiszenz soll hier verdeutlichen, wie ein Jota Veränderung in der familialen Ausgangskonstellation in dramatischster Weise zu spannungsreichen Verschiebungen und unversöhnlichen Konflikten führen kann. Kaum lässt sich auch nur ahnen, wie sehr das Handeln und die Grundorientierung der Akteure vom Zeitgeist bestimmt wurden:

Von 1971 bis 1978 wuchs mir eine zweite Familie zu, die leicht auch zu meiner Schwieger-Familie hätte werden können. Dort, an der Mittelmosel, in einem traditionellen und konservativen Milieu, zeigte sich die strukturelle Gewalt, die aus festgeschriebenen Rollenzuweisungen entspringen kann, in aller Härte und Gnadenlosigkeit. Hier hatte das – meiner Erinnerung nach 1926 geborene – Familienoberhaupt nie einen Zweifel daran gelassen, dass er, der zur Waffen-SS gezogen worden und in französische Kriegsgefangenschaft geraten war, dort, in Frankreich, heimisch geworden war und nur zurückkam an die Mittelmosel, weil er sich seiner Mutter verpflichtet fühlte. Wie die Ehe zustande gekommen war, aus der eine zuerst eine Tochter und dann ein Sohn hervorging, entzieht sich meiner Kenntnis, die sich fast ausschließlich aus den Erzählungen des Vaters und eigenen Beobachtungen nährt. Was mir damals als recht brutale Haltung eines Patriarchen begegnete, erklärt sich vermutlich nur aufgrund des erwähnten Jotas Unterschied. Denn hier gab es nur noch die Mutter des Vaters, die Schwiegermutter der Mutter, die Mitte der siebziger Jahre ihren bis dahin selbstständig geführten Hausstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeben musste und ein Zimmer im großen Haus des Sohnes zugewiesen bekam. Schwiegertochter und Schwiegermutter verstanden sich nicht, und die Mutter des vermutlich einzigen Sohnes, legte es immer wieder auf Machtkämpfe an, die zuletzt absolut unter dem lagen, was wir als Gürtellinie bezeichnen. In all diesen sieben Jahren haben die Eheleute einen einzigen gemeinsamen Urlaub in Langenargen am Bodensee verbracht. Für diese 14 Tage hatte die (Schwieger-)Mutter einen Platz in einem Altenstift des Nachbarortes. Das Ansinnen seitens der Ehefrau, dies sei doch vielleicht auch eine akzeptable Dauerlösung, führte zu einem erbitterten innerfamiliären Konflikt, bei dem sich die Tochter auf die Seite der Mutter stellte. Niemals zuvor und niemals danach habe ich ein einseitigeres Konfliktmanagment erlebt mit einer brachial durchgesetzten einseitigen Lösung. Die (Schwieger-)Mutter blieb in Abwendung einer unzulässigen Schande, die sich mit einer Heimunterbringung aus der Sicht des Vaters ergeben hätte, in der Familie. Enttäuschung, Wut, Hass, Machlosigkeit, Hilflosigkeit – all diese Empfindungen und Haltungen spiegeln die Ablehnung der Mutter wieder. Machtgebaren und Sturheit bis zur Bösartigkeit beschreiben die väterliche Demonstration von Deutungs- und Entscheidungshoheit. Mit Wut und Bitterkeit beantwortete die Tochter in dieser Phase die brachiale Machtdemonstration des Vaters. Meine eigene Verbindung zu dieser Familie endet 1978. Es mag wiederum der pure Zufall sein, dass meine damalige Lebensgefährtin sich entschloss, in dem Ort, in dem ich seit 1980 lebe, ein Haus zu kaufen. Ihre Mutter ist einige Jahre vor ihrem Vater verstorben, und die letzten Monate seines Lebens, der Pflege und Betreuung bedürfend, hat der Vater im Hause seiner Tochter verlebt. An solchen extremen Beispielen lassen sich die Bedeutung und die Eigendynamik von (innerfamiliär relevanten) Kategorien, wie Zeitgeist, Tradition, Konflikt, Ohnmacht, Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit recht authentisch diskutieren.

Es gibt viele Mosaiksteine in meinem eigenen Leben, die dazu beigetragen haben, hinsichtlich der von Susanne Gaschke definierten drei Kardinalprobleme eine konservative Haltung einzunehmen. Aber vor allem auch die erinnerten, soeben geschilderten Konflikte haben sich tief in mich eingeschrieben und zeitlebens daran gehindert, in der Fürsorge sowohl für die Jungen als auch die Alten nur ein Jota Verantwortung zu delegieren. So werden viele der hier aufgeschriebenen Geschichten die Langeweile in der langen Weile widerspiegeln, einzig lesenswert vielleicht durch die mehr oder weniger gelungene Art des Erzählens.

Kehren wir zurück in den Frühling 1979 – die Zeit des Aufbruchs und des Niedergangs. Dass eine neue Liebe wie ein neues Leben sei, diese massenwirksame Kollektivhypnose verfing auch zu Zeiten des geschilderten Wahns Ende der siebziger Jahre nicht mehr wirklich. Vier Männer (in mir) – dieses Gedicht ist zwar erst gut 20 Jahre später in mir gewachsen. Die zeitliche Differenz signalisiert denn auch eher die Tatsache, dass es Abstand braucht, um die Zusammenhänge trennschärfer wahrnehmen und einordnen zu können. Im Alter von Mitte vierzig zeigen sich denn auch die illusionsgeschuldeten Verirrungen im Selbstbild auf brutale Weise. Sie springen einem nicht nur schreiend ins Gesicht, sondern sie sind vielmehr einer Lebenspraxis geschuldet, die mit Feuer und Schwert den Schwachsinn der frühen Jahre beiseite fegt. Und auch wenn das Gedicht in seiner Sprache um Kultivierung bemüht ist und eine gewisse Verklärung der Zusammenhänge nicht leugnen kann, offenbart es doch, dass die Ereignisse im Frühjahre 1979 in ein Vorher und ein Nachher eingebettet sind:

Vier Männer in mir (6)

Wachgeküsst mit siebzehn.
Knospen, Triebe blühn.
Den Himmel rosa sehn,
Wie Feuerfunken sprühn.

Riechen, fühlen, flehen.
Das Fremde, unerreichbar fern,
Tastend sich ergehen,
Bliebst ein fremder Stern.

Im Liebesschmerz
Versinkt die Welt.
Zum Himmel steigt mein Herz
Und fällt, und fällt, und fällt.

Die zweite Liebe: tief -
Umworben!
Herz im Herzen schlief,
Ganz unverdorben!

Nun sollt ich wachsen,
Sehn die Grenze -
Will noch spielen, flachsen,
Keine Kränze.

Und wieder fallen,
Schnitt und Wende.
Blind für Fallen
Und das Ende.

Ende heißt Beginn!
Das Neue kann beginnen?
Schulden und Gewinn?
Wenn zweie nur gewinnen?

So hoch wir fliegen,
Tapfer träumen,
Schulden wiegen,
Denn wir säumen!

Ordnungen der Liebe
Weisen uns den Weg
Und wir werden Diebe,
Schmal und eng der Steg.

In der Lebensmitte
Darf ich wachsen!
Folgenreiche Dritte
Sind wir nun erwachsen?

Bin gelassen,
Seh die Grenzen!
Sich und andre lassen
An Gräben und vor Kränzen.

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt! Nach mehr als vierzig Jahren kann man sagen, dass Herz hat den Kurs vorgegeben – flankiert von einem wachen Verstand, der letztlich dafür gesorgt hat, dass das Herz vor allem auch in seiner Not nicht alleine geblieben ist. Eine Minute besteht aus 60 Sekunden; ein Stunde aus 60 Minuten, ein Tag aus 24 Stunden, eine Woche aus sieben Tagen und ein Jahr aus 52 Wochen – alleine aus dieser Zeitspanne, auch wenn ein langes Leben nicht einmal eine Nanosekunde markieren mag im kosmischen Rauschen, lässt sich überzeugend ableiten, das zur Herzenswelt die Herzensfreude genauso gehört wie Herzesleid. Hinter 42 Jahren verbergen sich 367.920 Stunden; sie gelebt zu haben, sie erlebt zu haben – dies erst verleiht Körper und Seele jene Gestalt, vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

Zeitgeist und Kontenausgleich I (7)

Dann wiederum ist man gut beraten, jene Wendepunkte besonders zu würdigen, die uns Gelassenheit vermitteln und die Einsicht, dass es nun gut ist. Lange bevor ich hier erzählen kann, wie ich in Heidelberg nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Verstand wiedergefunden habe, zwingt sich eine kleine Episode auf, die so viele Altlasten aus meinem Schuldenbuch getilgt hat:

Über drei Jahre habe ich in Heidelberg (IGST) an den Vorbereitungs- und Fortbildungskursen bei Gunthard Weber, Ulrich Clemens und Andrea Ebbeke-Nohlen teilgenommen und mir im Zuge dieser Jahre endlich einen Reim machen können auf mein destruktives, mörderisches Driften in der Vergangenheit. 2000 lag dies hinter mir, und ich fühlte mich einmal mehr bemüßigt auch die Papierhalden der letzten Jahrzehnte zu entschlacken. Im Zuge dieser Sondierungen stieß ich unter anderem auf Briefe, die Ende der siebziger Jahre im Zuge der Trennung zwischen E. und mir gewechselt worden sind. Es war schon die Rede davon, dass ich mich von März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung bewegte, weil das Trennungsgeschehen, das ich vorantrieb, einerseits alternativlos erschien, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbart, die ein solches Trennungsgeschehen ebenso unausweichlich begleiten. Bei der Lektüre dieser Briefe verstärkte sich der Eindruck, dass all dies auch mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen, kein versöhnliches Ende gefunden hatte. Zu dieser Zeit – im Jahre 2001 – wohnte E. bereits in Güls. Ich bereitete die Feier zu meinem fünfzigsten Geburtstag vor. Noch unter dem Eindruck dieser Briefe bewegte ich mich in den Gülser R-Kauf auf der Gulisastraße. An der Wursttheke kam unversehens E. neben mir zu stehen. Erstmals seit mehr als zwanzig Jahren begrüßte sie mich freundlich und mit einem lange nicht gesehenen Lächeln auf den Lippen. Von der Seite näherte sich ein Mann, den sie mir mit den Worten vorstellte: „Das ist K., mit dem lebe ich jetzt zusammen.“ Zu K. sagte sie: „Das ist Jupp, mit dem hab ich einmal zusammengelebt.“ Der Small-Talk, der sich anschloss war unbefangen und vermittelte erstmals eine gewisse Leichtigkeit. In diesen Minuten erfuhr ich körperlich, dass mir eine Last von der Seele genommen wurde. Im Nachgang habe ich den Kontakt zu E. aufrechterhalten. Im November 2001 lud ich sie zum Abendessen auf die Ankerterrasse in Güls ein. Sie nahm diese Einladung an. Ein weiterer Hintergrund ergab sich – wie schon angedeutet – aus den Vorbereitungen zu meiner Geburtstagsfete. Mit einem guten Jahr Vorlauf hatte ich mich entschlossen mir zu diesem Anlass eine eigene Festschrift zu erlauben. Es war ein erster Versuch, so etwas zu ziehen wie eine Lebensbilanz – mit vielen biografisch folgerichtigen Geschichten und Aufzeichnungen. Ein Kapitel widmete sich explizit der Studentenzeit – und hier in einem eigenen Unterkapitel der Bendorfer Wohngemeinschaft. Ich spürte deutlich die Verpflichtung E. dieses Kapitel als Entwurf vorzulegen und ihre Meinung dazu zu hören. Wenige Tage nach Lektüre der ersten Fassung teilte sie mir mit, dass ich unverzüglich mit rechtlichen Schritten zu rechnen hätte, wenn diese Fassung unzensiert in die Festschrift: „Komm in den totgesagten Park und schau – ich sehe was, was Du nicht siehst“ eingehen würde. Nach den gewünschten Änderungen gab E. ihr Placet und nahm meine Einladung zur Feier an. Vor allem die Einführung in die u.a. von Bert Hellinger entwickelte therapeutische Methode der Familienaufstellung unter der therapeutischen Begleitung von Gunthard Weber haben mir den angemessenen Weg zu einer Entschuldigung vermittelt, die (auch) nach zwanzig Jahren in ihrer Form und Ernsthaftigkeit den Boden für eine Versöhnung bereitet hat. Worauf es hierbei ankommt, hat Hellinger in einer schlichten Intervention deutlich gemacht, so dass Menschen in vergleichbaren Situationen und Konstellationen eine Perspektive erkennen können. Die wesentlichen Aussagen lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:

"Die Lösung (in festgefahrenen, unversöhnlichen Paarkonflikten – auch lange nachdem der gemeinsame Weg im Abgrund endete) ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden und alles, was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, habe ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen."

Nach mehr als zwanzig Jahren wurde hier gewissermaßen ein gordischer Knoten gelöst, der einen unbefangenen und vor allem unbelasteten Weg in eine befriedetee Zukunft nachhaltig belastet hat. Damit sind nicht alle Fehltritte zu entschuldigen, die in der Folge und innerhalb unseres lebensumspannenden Aufbruchs zu Beginn der achtziger Jahre geschehen sind. Der schwierige, krisenreiche Verlauf dieses lebenslangen Projekts gewinnt allerdings aus diesem Blickwinkel sowohl an Plausibilität als auch an Überzeugungskraft. Dass Claudia die Flinte nicht ins Korn geworfen hat, adelt sie. Wo Türen verriegelt schienen, öffneten wir ganze Scheunentore und bargen nicht nur eine Flinte, sondern ganze Feuerwerke aus dem Heu.

Spurensuche II: Vom Familien- zum Sippenkontext (8)

Der Schreiber dieser Aufzeichnungen lernte ja nicht nur seine zukünftige Frau kennen. Ihm wuchs im Alter von 27 Jahren nun tatsächlich eine zweite Familie zu, seine Schwiegerfamilie – bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Sein künftiger Schwiegervater war 1979 fünfundfünzig Jahre alt (Jahrgang 1924), seine künftige Schwiegermutter (Jahrgang 1923) ein knappes Jahr älter. Die Spannungen, mit denen er sich hier konfrontiert fühlte, waren zu Beginn nicht wirklich durchschaubar.

Die Rothmunds – beide selbstständige Existenzen –, sie als Schneidermeisterin von Ruf, er als freier Architekt, bastelten beharrlich an ihrer Altersvorsorge. Bei nur bescheidenen Aussichten auf Rente, sollte das Alter durch Immobilien gesichert werden. Früh – zu Beginn der fünfziger Jahre – hatte Claudias Mutter – das mittlere von sieben Geschwistern –, noch vor der Heirat mit Leo Rothmund, gemeinsam mit ihrem Bruder, Ignaz, ein Haus im Übergang von Metternich nach Lützel – im sogenannten Pollenfeld gebaut – ein zweigeschossiges Haus mit ausgebautem Dachgeschoss. Von Claudias Großmutter wurde das umgebende Gelände (unterstützt durch den oben erwähnten Bruder Ignaz, der mit seiner Familie das erste Obergeschoss bewohnte) seinerzeit und darüber hinaus noch als landwirtschaftliche Erwerbsfläche für den Anbau vor allem von Obst (Kirschen, Erdbeeren) genutzt. Nach der Heirat mit Leo am 21.2.1952 (das ist im Übrigen der Geburtstag des Chronisten) erhielt das Gebäude im Erdgeschoss einen Anbau zur Errichtung einer Werkstatt für die Schneiderei. Leo Rothmund, der Schwiegervater, stammte selbst aus einem bäuerlichen Haushalt in Ittendorf/Markdorf am Bodensee, ca. acht Kilometer von Meersburg aus im Hinterland gelegen. Er war das jüngste von drei Geschwistern – Halbweisen, die ihren Vater Ende der zwanziger Jahre schon verloren hatten. Ernst, der ältere Bruder ist im Zweiten Weltkrieg gefallen, Klärle, die um drei Jahre ältere Schwester, war ausgebildete Krankenschwester und gehörte nach Aussagen ihres Bruders Leo zu den sogenannten braunen Schwestern. Dies wird noch eine bedeutsame Rolle spielen. Jedenfalls sollte sie im Dorf bleiben und nach ihrer Heirat mit Emil Lang den Bauernhof übernehmen. Leo, der sich 1942 – eben achtzehn Jahre alt – freiwillig zur Wehrmacht meldete, um sich die Waffengattung – die Luftwaffe – aussuchen zu können, kehrte kriegsversehrt zurück und entschloss sich gegen Widerstände Maschinenbau am Konstanzer Technikum zu studieren. Er hatte eine Ausbildung als Maschinenschlosser bei der Firma Maybach in Friedrichshafen abgeschlossen und erhielt nach einer Aufnahmeprüfung die Zulassung zum Studium. In Koblenz landete er dann auf der Flucht vor einer vermeintlich in Aussicht stehenden Vaterschaft – fortgeschickt von Mutter und Schwester zu einem Onkel – in Koblenz-Metternich. Mit auf diese Flucht nahm er sein Geheimnis. Wie alle Geheimnisse entfaltete es eine Langzeitwirkung. Zunächst einmal ging alles recht zügig seinen Gang: Heirat, wechselnde Arbeitsverhältnisse, kurze Verweildauer beim neugegründeten Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (hier hat Leo sich ein Strafverfahren wegen Aktenveruntreuung eingehandelt, das er letztlich in einem mehrere Jahre dauernden Prozess gegen seinen Arbeitgeber, die Bundesrepublik Deutschland, gewonnen hat – mit Entschädigungsanspruch und vor allem Anspruch auf Wiedereinstellung, die er dann als unzumutbar zurückgewiesen hat). Denn er war da bereits Vertragsarchitekt bei der Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft. In den frühen sechziger Jahren hat er erfolgreich einen Antrag auf Zulassung als freier Architekt bei der Architektenkammer gestellt, um dann als Self-made-Man durchzustarten und als Workaholic und Berserker sein Ding zu machen. Schon zu Beginn der sechziger Jahre entstanden zwei Mehrfamilienhäuser in Koblenz-Metternich, 1967 erfolgte der Neubau des Familiensitzes in Koblenz-Güls (das Haus, das wir nach Umbau und Sanierung seit 2020 bewohnen).

Diese etwas ausholenden Hinweise eines Chronisten sollen ansatzweise biografische Hintergründe und vor allem die Bemühungen um eine angemessene Altersvorsorge verdeutlichen – just in der Phase, da ein potentieller Schwiegersohn die Bühne betrat. Denn 1978/79 hatte Leo Rothmund damit begonnen in Koblenz-Güls ein weiteres Mehrfamilienhaus zu erstellen, das Ende 1979 neun potentiellen Mietern Wohnmöglichkeiten eröffnen sollte. Die Rothmunds hatten mit ihrer Tochter – wie man so schön sagt – schon einiges mitgemacht und erlebt. Die früh schon erkennbaren Spannungen zwischen allen Dreien – Vater, Mutter und Tochter – verdankten sich augenscheinlich einem üppigen Nährboden. Der erste der potentiellen Schwiegersöhne aus neureichem Haus in Neuwied-Feldkirchen war angenehm, akzeptiert; es gab sogar einen gemeinsamen Urlaub der beiden Familien – ich glaube im Schwarzwald. Er wäre ein passabler Schwiegersohn geworden, war aber schlicht zu früh dran (später sollte dies im Leben der beiden noch einmal eine bedeutsame Rolle spielen). Claudia blieb nicht beim ersten Besten; sie tat sich um in der Männerwelt und angelte sich durchaus hochkarätige und ansehnliche Kerle. Die Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag eines in den siebziger Jahren landesweit erfolgreichen Vertragsspielers auf der Tennisbühne liegt vor mir. Kein geringerer als jener stadtbekannte Womanizer sollte es sein; danach ein stadtbekannter Gigolo, der im Laufe seines vertrackten Lebens durch windige Geschäftspraktiken das Häuschen seiner Eltern verzockte. Gerade Letzterer rief Leos erbitterten Widerstand auf den Plan. Alle Register der Ausgrenzung – inclusive Hausverbot – wurden gezogen; schon auch ahnend, damit die eigene Tochter erst recht in seine Arme zu treiben. Im Zuge dieser Konflikte verschwand dann Claudia auch für einige Zeit und besann sich erst auf Intervention der guten Seele – der Mutter besagten Hasardeurs – die eigenen Eltern vorerst zu beruhigen, indem sie immerhin telefonisch vernehmen ließ, dass sie wohlauf sei und dass es ihr gut gehe. Die finale Trennung von R. – er hatte schon seine erste tragende Rolle zu Beginn meiner Aufzeichnungen – ist ebenfalls eine kleine Reminiszenz wert; ich erzähle sie nach Claudias immer wieder kolportieren Erinnerungen:

Claudia hatte sich – von Fernweh geplagt – dazu entschlossen mit R. eine Reise – ihre Standardreise, zu der sich mich auch verlocken sollte – in den Süden zu machen; in die heißgeliebte Provence (die sie bereits mit W.H. erkundet hatte) und weiter nach Spanien. In Spanien trug sich dann das von Claudia so oft und süffisant erzählte Erweckungserlebnis zu. Das morgendliche gemeinsame Frühstück wurde im Wechsel der beiden organisiert. Während der eine duschte, bereitete der andere das Frühstück und besorgte Croissants. Eines Morgens beobachtete Claudia unbemerkt, wie R. bei Auftragen die Croissants miteinander verglich und gewissermaßen mit den Händen abwog und das für zu leicht befundene auf Claudias Teller platzierte, während er sich das vermeintlich größere zuschanzte. Claudia erklärt dies sei für sie sozusagen gleichbedeutend mit der exemplarischen, stellvertretenden Offenbarung der charakterlichen Schwächen des einst geliebten Gefährten gewesen – der Augenöffner par excellence! Die Reise ging zu Ende und die Liebesbeziehung der beiden gleichermaßen. R. hatte Mühe das zu realisieren und die zu Beginn der Aufzeichnungen erwähnte Ohrfeige gehört just in diesen Kontext.

Worauf hatte nun Leo untrüglich gewartet? Selbstverständlich auf einen schwiegersohntauglichen Kandidaten, der endlich die Besorgnisse der letzten Jahre vergessen machten könnte. Dem Erzähler nimmt es noch heute den Atem, wenn er sich das Tempo vor Augen führt, mit dem Leo Rothmund jemandem, der gerade dabei war, seine Unschuld vollends zu verlieren, ins Vertrauen zog und dabei offenkundig etwas erkannte, was dem so Erkorenen selbst noch gar nicht in den Blick kam. Leo hat als Fremder über diesen Vertrauensvorschuss hinaus – auch in Krisenzeiten – durch ein nie infrage gestelltes Vertrauen zweifellos die besten Seiten in mir zum Vorschein gebracht. Aber dem soll hier keinesfalls vorgegriffen werden.

Wir – das neue Paar – gerieten unversehens in eine komfortable Situation, die dazu führte, dass der Chronist im Rückblick dazu verleitet bzw. veranlasst wird, nicht nur über ein Leben zu erzählen, sondern – vielleicht einer Katze ähnlich – über die sieben Leben, die ihm auf einmal zuwuchsen und auch zur Zumutung wurden. Zugegeben: es waren keine sieben Leben, aber doch so viele, dass die Gefahr wuchs, den Überblick und die Kontrolle zu verlieren: Schon im Herbst 1979 stattete mich Leo Rothmund mit sämtlichen Vollmachten aus, um seine Häuser bzw. Wohnungen zu verwalten und die Vermietung des neun Wohneinheiten umfassenden, noch in der Bauphase befindlichen aktuellen Projektes zu organisieren. Gleichzeitig bot er uns an, eine der Wohnungen so herzurichten und auszustatten, dass wir – seine Tochter und ich – beste Startbedingungen für unser gemeinsames Leben vorfinden würden. Das Leben seiner Tochter in der Stadt – in einer Mietswohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße war und blieb ihm ein Dorn im Auge.

Ich hatte 1978 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz (EWH), Abteilung Koblenz mein Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen abgelegt. Noch 1977 hatte ich mich gemeinsam mit ca. 25 anderen Aktivisten im Kontext der seinerzeit Deutschland überziehenden studentischen Streiks zur Verhinderung eines allgemein abgelehnten, ja geradezu verhassten Hochschulrahmengesetzes vor dem Landgericht Koblenz verantworten müssen – wegen Nötigung, Beleidigung und Landfriedensbruchs. Ich stand allein schon deshalb im Zentrum dieser Auseinandersetzung, weil meine Unterschrift sich unter allen Beschlüssen und Verlautbarungen befand, die die Studentenschaft seinerzeit publizierte. Ich war Pressereferent im Allgemeinen Studentenausschuss unserer Hochschule – und einer der hartnäckigen Vertreter, die für die Verfasste Studentenschaft ein politisches Mandat beanspruchten. Ich hatte die Streitschrift des linken Juristen Ulrich K. Preuß zur Verfassten Studentenschaft akribisch gelesen und – soweit es in meinem Vermögen stand – für unsere politische Agitation und Argumentation auch entsprechend ausgewertet. Gemeinsam mit Hans-Werner Dinkelbach hatte ich für das Presseorgan des AStAs Wolfgang Abendroth (Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie in Marburg) in Frankfurt besucht, interviewt und als Kronzeugen für unsere Vorgehensweise pressemäßig ausgeschlachtet. Ein Jahr später war zwar die Klage abgewendet, das Verfahren eingestellt, aber die Nachwirkungen sollte ich noch schmerzlich zu spüren bekommen.

Ein kaum begreifbarer und in seinen Weichenstellungen für mich unabsehbarer Zufall – man könnte es schlicht eine überaus glückliche Fügung nennen – wollte es, dass ein aufstrebender Politikwissenschaftler an der EWH interessierte Wissenschaftler und Studenten um sich scharte und in den nächsten Jahren mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein potentes Projekt initiierte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems (PALEPS) – verantwortet von Prof. Dr. Heino Kaack und Prof. Dr. Reinhold Roth (Bremen). Noch im Wintersemester 1978 kam Heino Kaack im Rahmen eines Seminars mit der Frage auf mich zu, ob ich Interesse an einer Mitarbeit als studentische Hilfskraft hätte. Damit war eine der entscheidenden Weichenstellungen meines Lebens in Gang gekommen, auch heute nur begreifbar als ein Zusammenspiel von Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich kann und will dies an dieser Stelle abkürzen und auf Wesentliches beschränken, um es gewiss an anderer Stelle erneut aufzugreifen: Zum einen bekam ich aufgrund meiner Anklage aus 1977 nicht unmittelbar die Freigabe des Verfassungsschutzes – selbst nicht für die Tätigkeit als studentische Hilfskraft. Heino Kaack allerdings zählte zum liberalen Urgestein der Schule, die sich heute noch mit den Namen Karl-Hermann Flach, Ralf Dahrendorf, Burkhart Hirsch, und Gerhart Baum verbinden lässt. Er hat beharrlich das notwendige Brett gebohrt und die Voraussetzungen für eine Tätigkeit im Hochschuldienst erwirkt. Dies war allein schon deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil Heino Kaack in der Folge dafür gesorgt hat, dass ich bis 1984 nahtlos im Hochschuldienst arbeiten konnte; zuerst als studentische Hilfskraft, dann als wissenschaftliche Hilfskraft und zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Gleichzeitig ermöglichte er mir den Erwerb des Diploms und die anschließende Promotion. In einem Vieraugengespräch hat er mir als Gremienstratege – lange bevor die EWH schließlich das Promotionsrecht zugesprochen bekam und alle notwendigen Rechtsverordnungen über den Verfahrens- und Gremienweg abgeschlossen waren – dargelegt, was er vorhatte. Er gab mir einen ungedeckten Scheck in die Hand, getragen von der Zuversicht, dass sich der Verfahrensweg zeitlich exakt mit meinen wissenschaftlichen Fortschritten und Ambitionen decken würde. Gemeinsam mit Norbert Wolf, mit dem ich später lange zusammenarbeiten sollte, bin ich dann in der Tat 1984 als erster auf der Grundlage der eben installierten Promotionsordnung promoviert worden. In diese Zeit fiel die Zusammenarbeit mit Ulrich Sarcinelli und Klaus G. Troitzsch. Ich habe dort Klaus Troltsch, Monika Bethscheider, Andreas Engel und viele andere kennengelernt, Freundschaft mit Werner Simon geschlossen, über den ich schließlich Herbert Wackermann kennengelernt habe; neben Thomas Gauglitz der langjährigste Freund aus Hochschulzeiten. Zur fußballerischen Dimension von PALEPS wird an anderer Stelle zu lesen sein.

Apropos „ungedeckter Scheck“: Studium und Wissenschaft bildeten die Autobahn, auf der ich ganz persönlich – auch im Sinne einer zu begründenden beruflichen Karriere – unterwegs war. Die gleichzeitige Begründung eines ersten ordentlichen Hausstandes wurde mir von meinen künftigen Schwiegereltern nahegelegt. Hatte Leo – worauf auch immer gründend – offene Sympathien für den jungen Mann von der Ahr, so hielt ganz offenkundig auch die künftige Schwiegermutter ihren Segen in petto. Bei der ersten Begegnung in der Tennishalle des Postsportvereins muss ich einen passablen Eindruck hinterlassen haben. Sie war es aber dann auch, die im Zuge der Verhandlungen in Richtung gemeinsames Wohnen in Güls darauf bestand, dass wir dies nicht ohne Verlobung ins Werk setzen könnten. So feierten wir im Frühjahr 1980 in Bad Neuenahr Verlobung, um am 5. Juni 1981 den heiligen Bund der Ehe einzugehen. Das ging nun aber wirklich schnell! Und dieses rasante Tempo mag vielleicht ahnen lassen, dass mir dabei nicht nur die Ohren weggeflogen sind. Beim Kirschenklau im Vorfeld der Hochzeit hat Leo wortwörtlich zu mir gemeint: „Mein Lieber, ich stell Dir hier einen gesattelten Gaul hin, reiten musst du ihn selbst!“ Da hatten Leo Rothmund und Heino Kaack gewissermaßen die gleiche Idee.

War eine sieben Jahre andauernde Verbindung an ein fatales Ende gelangt, so vollzog sich im Anschluss daran innerhalb von zwei Jahren die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes. 1981 haben Claudia und ich standesamtlich und kirchlich geheiratet. Ich wuchs in zwei Voll-Time-Jobs hinein, die sich mental und physisch nur bewältigen ließen, erstens weil ich jung war und zweitens nicht frei von Hybris. Ein weiterer Vorzug, von dem ich selber noch so gar nichts wusste, resultierte wohl aus einem so nicht für möglich gehaltenen Maß an Anpassungsfähigkeit. Sich dies sozusagen in actu, unvermittelt einzugestehen, wäre aus damaligem Selbstverständnis und selbstbildbezogener Befangenheit überhaupt nicht denkbar gewesen. Die grundsatzpolitischen Auseinandersetzungen und die steilen Lernkurven im Kontext einer langen, gediegenen politischen Sozialisation an der Hochschule werden hier noch einer ausgiebigen Erörterung unterzogen. Zu Beginn der achtziger Jahre gerieten jedenfalls eine – wie auch immer schon gemäßigte sozialistische Orientierung – mit Handlungserfordernissen in Konflikt, die schlicht aus der stellvertretenden Wahrnehmung von Eigentümerrechten resultierten. Ich war umfassend bevollmächtigt (Miet-)Verträge abzuschließen, säumige Mietzahlungen anzumahnen und einzutreiben – im Extremfall Kündigungen auszusprechen. Meinem Naturell nach, über das ich in den Jahrzehnten dieser Tätigkeit mehr und mehr lernen musste und durfte, geriet dies häufig genug zu einem Balanceakt, über den Mieter- und Vermieterinteressen in Einklang zu bringen waren. Die Kosten für die eigene, gediegene 3ZKB-Wohnung mit gehobener Ausstattung wurden über meine Dienstleistungen abgegolten. Mitte der achtziger Jahre – nach Promotion und erfolgreichem Zweiten Staatsexamen –, aber ohne Job, auf dem Höhepunkt meiner freiberuflichen Tätigkeit, hatte ich 40 Wohnungen zu verwalten und auch zu makeln, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. In diese Zeit fiel auch mein schulpolitisches Engagement, immerhin als Gründungsmitglied und Vorsitzender eines Vereins, der sich um die Gründung einer Integrierten Gesamtschule in Koblenz bemühte (GfK). Gleichzeitig war ich im Vorstand der Fördervereins Café Hahn aktiv. Und schließlich, um den Aspekt berufliche Karriere abzurunden, ergab sich 1994 – über die Ausschreibung von Ratsstellen im Fachbereich I an der Uni Koblenz – die einmalige Chance vom Schuldienst wieder zurück in den Hochschuldienst zu wechseln. Die Promotion, das erworbene Ansehen bzw. die Qualifikationen in den fünf Jahren meiner Hochschultätigkeit sowie das klare, sachlich begründete Votum des seinerzeitigen Institutsleiters, Prof. Dr. Anton Menke, verhalfen meiner Bewerbung schließlich zum Erfolg. Nach Vertretungen und Lehraufträgen wechselte ich mit Wirkung vom 1. Juli 1994 als Akademischer Rat an die Uni Koblenz und übernahm im Seminar für Allgemeine Didaktik Lehr-, Verwaltungs- und Prüfungsaufgaben mit der Perspektive einer Habilitation; genau neun Tage nachdem mein Bruder Wilfried im Alter von 38 Jahren bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt war.

Selbst beim kontrollierten Schreiben dieser Zeilen wird mir im Nachhinein noch einmal der Wahnsinn dieser Tage vor Augen geführt. Vierzehn Tage zuvor hatte ich meinen Bruder zu einem Vorbereitungstreffen mit Blick auf den siebzigsten Geburtstag unserer Mutter in Güls zuletzt gesehen. Wir waren durch den Rohbau unseres im Bau befindlichen Hauses gegangen, das unter der Planungshoheit und Bauleitung meines Schwiegervaters soeben im Entstehen war. Es war die Zeit, die durch ihre Fülle und durch ihre Veränderungen und Anforderungen in der Lebensmitte herausfinden will, was Menschen im Stande sind auszuhalten. Bei der Frage, wer ich denn nun sei, Mann meiner Frau, Vater meiner Kinder, Onkel meiner soeben Halbweisen gewordenen Nichten, Bauherr, Berufswechsler, Verwalter, Vereinsvorsitzender hatte ich noch nicht wirklich das prekäre Gefühl den Überblick zu verlieren. Dass dies schleichend und immer dramatischer der Fall sein würde, stellte sich erst im Laufe der kommenden Jahre heraus.

 Assimilation und Akkomodation: Was machen wir, wenn das Unfassbare geschieht? (9)

Es gibt über die ersten Stunden, nachdem mich die Nachricht vom Flugzeugabsturz in der Nähe von Landshut erreicht hatte, sowohl Blogeinträge als auch Tagebuchaufzeichnungen, die Jahre später entstanden sind. Bezeichnend ist die absolute Sprachlosigkeit in den ersten Tagen, Wochen, Monaten, sogar Jahren. Gedanken, eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Nunmehr fast 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, also mit großem zeitlichem Abstand, sind die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Vielleicht beginne ich mit der Selbstbildfacette der Hybris! Mir gegenüber und der Welt gegenüber im Recht zu sein, vor allem auch Recht zu behalten – selbst gegen bessere Einsicht –, war mir in der ersten Hälfte meines Lebens wichtig! Es war der Legitimationsfeiler einer Weltsicht, die erstens auf der Erkenntnis beruhte, dass die Menschen und die Welt schlecht waren: unsere Eltern und Großeltern hatten es nicht gut gemacht – außer natürlich meinen eigenen Eltern und Großeltern. Alles in allem war die Welt moralisch ein Trümmerfeld, Politik und Verwaltung(en) waren korrupt – alles, was in der Welt Bestand hatte, hätte man besser machen können; alles war suboptimal. Wir alle hatten den Anspruch es besser zu machen und begannen mehr und mehr zurückzublicken auf Trümmerwelten, die wir mehr und mehr auch selbst zu verantworten hatten. Aber zuerst lautete die These: Wir sind die Guten! Ich habe alles richtig gemacht: Ich bin von zu Hause weggegangen und habe mein Ding gemacht – als erster Abitur – als erster Studium (vier Abschlüsse!) – Diplom – Promotion – beamteter Lehrer und Hochschullehrer – Ehemann und Familienvater – Häuslebauer – Weltverbesserer – der, der seine Eltern liebt und ehrt – der, der die perfekten Geschwisterbeziehungen pflegt??? Hinter dieser Fassade lebte der, der seine romantisierenden Ideale schon früh verraten hatte; der, der seine politischen Überzeugungen und seine alltägliche Praxis in einer Art Quadratur des Kreises miteinander unter einen Hut zu bringen suchte; der, dessen Schwester dem eigenen Sohn – seinem Neffen – zeitweise den Umgang mit ihm und seinem Umfeld verboten hatte; der, der Zweifel an den stets idealisierten Geschwisterbeziehungen stets zurückgewiesen hat; der, der zunehmend daran scheiterte, auch die Schwiegerfamilie zu befrieden!

Mit diesen Verfalls- und Lähmungserscheinungen trat also jemand den neuen Job an, bastelte weiter an Familie und dem viel zu großen Haus, ohne wirklich zu merken, wie die Luft, die er atmete, immer dünner wurde. Da bewegte ich mich also in meiner statistischen Lebensmitte. Ich habe bereits die Zahl 367.920 an irgendeiner Stelle erwähnt; so viele Stunden verbergen sich etwa hinter 42 Lebensjahren. Und nur an diesem – sich im Zeitfluss – allen Vorstellungsbemühungen entziehenden Stundenhaufen kann man ansatzweise erahnen, was denn eigentlich unvermeidbarer Weise geschieht, wenn jemand versucht, sich zu erinnern. Und was sollte bzw. was kann man überhaupt erinnern?

Mit aller Vorsicht lese ich bei Ken Wilber (Eros – Kosmos – Logos, Frankfurt 2001, hier S. 567): „Der Geist trachtet sich zuerst durch Empfindung, dann durch Wahrnehmung, dann durch Impuls selbst zu erkennen.“ Immerhin wird hier schon deutlich, dass große Erzähler diese drei Ebenen der Selbstrepräsentation vielleicht miteinander zu integrieren vermögen, indem sie uns nahebringen, was jemand denkt, was er fühlt und wie er handelt! In der von mir eher bevorzugten Sprachregelung spricht man von gelebtemerlebtem und erzähltem Leben. Gleich welcher Unterscheidungen man sich auch bedienen mag, es gilt groß aufzuräumen mit einer der zentralen Prämissen meines frühen Selbst- und Weltverstehens. Ken Wilber geißelt in seinen großangelegten Bemühungen sowohl die Ego-Zentristen als auch die Öko-Zentristen und sucht sie zu entlarven als jeweils sich selbst ausschließende Weltbild-Terroristen erster Ordnung. Und auch ich gerate ins Okular des Wilberschen Teleskops, mit meinen eigenen frühen abstrusen Aufbruchsphantasien, mit denen ich mich und die Anderen in die Irre führte:

„Wenn wir also auf ursprüngliche Weise wirklich unsere Gefühle leben können, werden auch all unsere existentiellen Probleme dahinschmelzen. Dass meine Gefühle nicht einmal im Ansatz den Standpunkt des anderen einnehmen können, dass meine Gefühle, als Gefühle selbstreflektierend sind, dass sie egozentrisch um sich selbst kreisen, dass sie aus sich selbst heraus niemals in den intersubjektiven Kreis aufsteigen, wo allein Liebe wirklich hervorstrahlen und wo allein Mitgefühl gedeihen kann – dass die Propagierung einer Ethik des ‚Sich-gut-Fühlens‘ als primärer moralischer Impuls mich direkt in den göttlichen Egoismus und die existentielle Hölle katapultiert: über all das nicht ein Wort.“

An den zu schildernden Tiefpunkten meines empirischen Lebens – den Monaten meines selbstverordneten Knasts – in der Mitte des Jahres 1997, getrennt von Kindern und Familie – begann dann jene späte Erweckung, die nach so vielen Bemühungen – jetzt 2021 – zu einem neuerlichen Aufbruch führen. Auch die will ich mit Ken Wilber kurz markieren. Das liegt deshalb nahe, weil ich gegenwärtig das Heranwachsen zweier Enkelkinder erlebe und Ken Wilber jene Lektion anbietet, die am Anfang jedes Erwachsenenlebens stehen müsste und die etwas zu tun hat mit nicht auslassbaren Entwicklungsabfolgen. Diese Lektion geht einher mit dem Hinweis, dass wir alle tunlichst etwas wissen sollten über die erste Differenzierung zwischen dem Ich und dem anderen, zwischen Subjekt und Objekt. Hier – so Wilber – gehe es um die Ablösung vom „ursprünglich-archaischen Zustand der undifferenzierten und indissoziierten Partizipation“, die meist in den ersten zwei bis drei Lebensjahren erfolge.

„Diese notwendige Differenzierung  wird völlig mit der Dissoziation verwechselt und wird deshalb als Ur-Verlust, als Ur-Entfremdung interpretiert, die das Ich für immer von den anderen trennt, von sich selbst und von der Natur. Und folgerichtig wird dann alles darauf folgende menschliche Sehnen, aller menschliche Antrieb, alle Motivation und alle kulturelle Anstrengung als eine Reihe zum Fehlschlag verdammter gequälter Versuche gesehen, dieses Verlorene Paradies wiederzugewinnen.“

Es geht bei Ken Wilber um  G R E N Z E N – theoretisch haben wir alle das einmal gelernt, dass es elementare Differenzierungen gibt von physischem Ich und physischem anderen, des emotionalen Ich vom emotionalen anderen, des begrifflichen Ich vom begrifflichen anderen, des kulturellen Rollen-Ich vom Rollen-anderen. Das gelebte Leben – meine Biologie –, das erlebte Leben – meine gedankliche oder auch Bewusstseins-Welt – trennen sich von meiner sozial erfahrenen und gestalteten Welt, von meinem erzählten Leben. Interessanterweise führt Ken Wilber auch die Haut-Grenze ein, die Unterscheidung von Innen und Außen:

„Mein mentales Ich beispielsweise enthält alle möglichen Arten von Identifikationen mit Familie, Werten, Anliegen, Gruppen, Nationen etc. und keine von ihnen existiert innerhalb meiner Haut-Grenzen.“

In konsequenter Auslegung dieser Prämisse meint Ken Wilber, diese Unterscheidungen von Innen und Außen seien nicht überschreitbar und wendet sich gegen ein aus seiner Betrachtungsweise fatales Missverständnis und betont noch einmal, dass der Verlust des archaischen prädifferenzierten Zustands keine unwiderrufliche Entfremdung darstelle, sondern in Wirklichkeit nur die erste Stufe des Erwachens – zum Erwachsenen-Dasein (möchte man hinzufügen):

„In ähnlicher Weise wird eine andere Person ein Teil deiner emotionalen Ausstattung, wenn sie in deinem emotionalen Raum ist, nicht in deinem Magen. Der emotionale Raum existiert außerhalb der Haut-Grenze …] Ich kann mich emotional identifizieren mit Menschen, Anliegen, Gruppen, Nationen, unabhängig davon, wo sie sich örtlich befinden: Sie werden ein Teil von mir, wenn ich sie in meine emotionale Identität aufnehme, in meinen emotionalen Raum, und dann handeln sie innerhalb dieses Raumes, folgen seinen besonderen Gesetzen oder den Mustern meiner affektiven Gemütszustände, die sich wiederum daran anpassen oder ihre Tiefenstruktur verändern könnten, um neue Dinge zu assimilieren. Der mentale Raum bewegt sich auf ähnliche Weise außerhalb des emotionalen Raums (der kognitiv-mentale Raum kann buchstäblich die ‚Rolle des anderen‘ annehmen, anderen ‚unter die Haut dringen‘, ‚durch ihre Augen‘ sehen, neue Ideen assimilieren/akkomodieren etc.) und der spirituelle Raum befindet sich außerhalb des mentalen und in der Weite des Kósmos.“

Unter die Haut gehen in meinem emotionalen Raum – der Tod meines Bruders war eine Grenzerfahrung, die so ziemlich alles auf den Kopf und wiederum vom Kopf auf die Füße stellte, was bis dahin Geltung hatte. Da war zunächst einmal gar nichts gebacken im Sinne einer schlichten Assimilation; einer schlichten Integration eines brachial über mich – über uns hereinbrechenden Tsunamis. Ganz im Gegenteil wurde damit ein Akkomodationsprozess in Gang gesetzt, in dem sich über Jahre vollkommen neue Bewältigungs- und Verarbeitungsmuster herausbilden sollten.

Dass das finale Ereignis eines Flugzeugabsturzes nur wenige Minuten andauerte – und von den Beteiligten (bis auf den Piloten) auch nicht durchschaut wurde, vermutlich bis wenige Sekunden vor dem Zerbersten des Viersitzers auf freiem Feld, unter blauem, wolkenlosem Himmel, muss ich mir auch heute noch immer wieder vor Augen führen. Darin liegt der Auslöser für immer wieder aufwallenden Zorn und zugleich ein gewisser Trost. Es bleibt bei der tröstlichen Vorstellung, dass die vier Männer aus Bad Neuenahr (zwischen Ende dreißig und Ende fünfzig), von denen mein Bruder Willi der jüngste war, diesen Flug – in Vorfreude auf ein verlängertes Wochenende in Zell am See (Österreich) – bis kurz vor 10.00 Uhr am 21. Juni 1994 bei herrlichem Mittsommerwetter als reinen Genuss und außergewöhnliche Abwechslung und Bereicherung in einem für alle arbeitsreichen Alltag genossen haben. Da spielte es keine Rolle, dass ich meinen Bruder mal wieder als Idioten ansah, der keine Gelegenheit auslassen konnte, die man gemeinhin als puren Luxus oder meinetwegen als so überflüssig, wie einen Kropf betrachten konnte. Es spielte keine Rolle, dass er dafür eigentlich überhaupt kein – sozusagen überflüssiges Geld – zur Verfügung hatte (sein Konto war bis zum Anschlag überzogen). Es spielte keine Rolle, dass er sich eigentlich in einer kritischen Phase bewegte, in der seine Ehe lange auf dem Spiel gestanden hatte, er eine Affäre beendet hatte und sich wieder zurück bewegte in seine Familie mit zwei heranwachsenden Töchtern, von denen die eine sieben Jahre alt war und im September achte Jahre alt werden würde und die andere eben – im April – fünf Jahre alt geworden war. Es konnte gar keine Rolle spielen, dass die Mutter eben einmal in 14 Tagen ihren 70sten Geburtstag feiern sollte – wir hatten die Vorbereitungen dafür ja miteinander noch wenige Tage zuvor abgestimmt! Warum – verdammt noch einmal – musste mein idiotischer Bruder die Nase wieder mittendrin haben??? Er gehörte ja gar nicht dazu!!! Die beiden anderen hatten die Reise bei einer Tombola gewonnen. Er war nur als Ersatzkandidat eingesprungen für jemanden, der die Reise nicht antreten konnte. Warum war da nicht irgendjemand anderes – vielleicht partner- und kinderlos – interessiert gewesen, diese Reise anzutreten? Und warum – verflucht noch einmal – musste diese Maschine von einem gewissenlosen, ausschließlich an seinen eigenen Interessen und Motiven ausgerichteten Egomanen gesteuert werden??? Dieser Mann, den man gemeinhin für die ideale Besetzung dieses Parts im gesamten Arrangement hätte ansehen müssen, und der als Held von Landshut in der Bild-Zeitung abgefeiert wurde – diesem schon immer mit einem puren Filtrat aus reiner Scheiße gedruckten, waffenscheinpflichtigen Drecksblatt –, dieser Mann entpuppte sich nach der sorgfältigen Untersuchung des Bundesluftfahrtamtes als über die Maßen fahrlässiger Pilot. Entgegen seiner Verantwortung hatte er vor Abflug weder das Logbuch noch den Füllstand des Tankes überprüft. Der Check war abends zuvor erfolgt. Dass die Maschine nach seiner Abnahme nochmals für einen Schleppflug bewegt wurde, war so seiner Aufmerksamkeit – trotz ordnungsgemäß erfolgten Eintrags ins Logbuch – entgangen. Wenige Liter Sprit haben gefehlt, um das Fluggerät vorschriftsmäßig auf dem Landshuter Flugplatz zu landen. Bis in alle Ewigkeit hätte niemand Kenntnis erlangt von der Fahrlässigkeit des erfahrenen Bundeswehrpiloten. Dann – aber auch nur dann, unter genau dieser Maßgabe – hätte der Vergabe einer Lizenz zur Erteilung von Flugunterricht nichts im Wege gestanden. Onkel Günther, der Schwager unseres Vaters, ist noch am 21.6.94 nach Landshut gefahren und hat schon unter dem unmittelbaren Eindruck der Absturzstelle – wie dann von der Luftfahrtbehörde bestätigt – gemutmaßt, dass es ein Leichtes gewesen wäre die Maschine auf freiem, abgeernteten Gelände notzulanden; n o t z u l a n d e n! Darum war es dem Piloten zu tun, nämlich genau dies zu vermeiden. Braunschweig geht akribisch und unerbittlich jeder außerregulären (Not-)Landung nach. Die Maschine hatte nicht gebrannt – der Tank war staubtrocken. Der Pilot hatte zu hoch gepokert. Um zu verhindern, dass man ihm Fahrlässigkeit und Versäumnisse nachgewiesen und damit selbstredend die Erteilung einer Lizenz als Fluglehrer verweigert hätte, hat er leichtfertig sein eigenes und das Leben der drei ihm anvertrauten Männer aufs Spiel gesetzt – und verloren. Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Nie ist mir diese Luhmannsche Lebenslaufformel zynischer und erbarmungsloser vorgekommen.

Das Leben meines Bruders war innerhalb von Sekunden ausgelöscht; unsere Mutter hatte ihren jüngsten Sohn verloren, seine Kinder ihren Vater und seine Frau ihren Mann. Fast 27 Jahre nach diesem Ereignis kann man natürlich sehen, dass die Welt sich weiter gedreht hat. Der eingetretene Verlust soll jedenfalls aus meiner Sicht – zumindest für die Blutsverwandtschaft – in seiner elementaren und existentiellen Dimension kein Gegenstand für Spekulationen sein. Auch die Frage, ob die Ehe Bestand gehabt hätte, sollte in ihrer rein spekulativen Perspektive hier keine Rolle spielen. Relativ früh habe ich begonnen den gesamten Blickwinkel umzukehren und meinen Bruder zum Adressaten von Briefen und Mitteilungen gemacht, wie es denn hier bei uns weitergegangen sei; eine Adresse hatte ich nicht, aber die Zustellung ist auch nicht verweigert worden. Warum ich mich der Spekulationen enthalten will, hängt zusammen mit dem Respekt, mit dem ich auf die Lebenswege der unmittelbar Betroffenen schaue; da gäbe es für meinen Bruder nichts zu meckern. Gleichwohl begleitet mich die Frage, was beispielsweise ein früher Verlust des Vaters für Töchter bedeuten mag, manchmal in meinen Träumen, aber auch im Wachen.

Die Frage, die ich mir hingegen erlaube und der ich mich gar nicht entziehen kann, hängt mit uns Brüdern zusammen, mit dem Ausmaß, in dem ich ihn vermisse und seinen Segen erhoffe. Mit unserer Schwester und unserer Cousine fühle ich mich da in nahtloser Übereinstimmung. Willi war in seiner Frohnatur meiner Schwester näher als mir; in einer vorsprachlichen, vollkommen selbstverständlichen Dimension von Zugehörigkeit und emotionaler Bindung muss man vermutlich lange nach einem vergleichbaren Brüderpaar im Geiste und im Herzen suchen. Dafür gibt es ein so unendlich dichtes feinstoffliches und feinmaschiges Gewebe, das diese tiefe Intuition auch nach 27 Jahren trägt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass ich wenige Jahre nach Willis Tod in seine Fußstapfen getreten bin und mich selbst nicht schützen konnte vor den Lektionen, die er bereits – als der Jüngere – dabei war zu lernen. 1997 hat er seinen Beitrag dazu geleistet, mich zu besinnen und endlich erwachsen zu werden – auch um herauszufinden, wer ich denn eigentlich bin. Um dorthin zu gelangen, musste die Welt sich weiterdrehen. Unsere Mutter musste sterben, und neben die neuentdeckte Lust am Leben musste ein preußisch anmutendes Pflichtethos treten, so dass ich tatsächlich ganz werden konnte.

Gaudeamus igitur – Studium

Ein erster kleiner Exkurs: Werde der du bist – Wissenschaftssozialisation (10)

Ich sitze hier im umgebauten und sanierten Haus meiner Schwiegereltern; der Blick auf den querterrassierten Heyerberg – inmitten von Weinbergen – signalisiert mir zumindest, dass ich angekommen bin. Es ist meine zehnte Adresse in einem Leben, für das sich im kommenden Jahr (2022) das siebte Jahrzehnt runden würde. Dorthin gelangt zu sein – an diesen Ort, erfüllt mich gleichermaßen mit Genugtuung wie mit schlichtem Unglauben. Von den Pferden, die man mir angeboten hat, und die ich bestiegen habe, bin ich nicht – zumindest nicht final – heruntergefallen. Sie haben mir treu zur Seite gestanden und bekommen bei mir ihr Gnadenbrot. Das eine hat mich durch die Welt des Berufs und der Wissenschaft getragen; das andere, dessen Zügel ich nicht immer fest in der Hand hatte, hat immer – manchmal auch ohne mein Zutun – den Weg zu den Futtertrögen gefunden. Die wenigsten von uns bleiben souverän in allen erdenklichen Lebenslagen. Dass ich nun schauen kann, hat zu tun mit einer materiellen Auskömmlichkeit. Was mir anvertraut worden ist, habe ich zumindest nicht verschleudert. Wie ich nun in die Welt zu schauen vermag, das wiederum verdankt sich einer verrückten Drift durch die Welt der Bücher und des Geistes. Wenn ich mit zunehmendem Alter und vielleicht auch zunehmender Reife die sogenannte Luhmannsche Lektion lernen durfte, bedeutet, dass mir das Herz (und auch der Kopf) sehr viel leichter ist als noch vor mehr als vierzig Jahren. Manchmal fühle ich bis heute die Versuchung, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen, sie zumindest als Vehikel nutzen zu können, das mir sowohl Erinnerungen erlaubt als auch – immer wieder neu – die Chance eröffnet, die mir nahen Menschen meiner Liebe über den Augenblick und das konkrete Handeln hinaus zu vergewissern – am Anfang war das Wort. Und ganz gewiss – dies hat sich über all die Jahrzehnte bewahren lassen – war Sprache immer das Medium, über das ich mich von missliebigen Phänomenen oder Zeitgenossen distanzieren konnte, bis hin zur finalen Attacke (da kann auch schon einmal die Frage auftauchen und auf Beantwortung drängen, ob Alexander Gauland  und Björn Höcke Drecksäue sind, und ob man mit einer solchen Annahme sus scofra – den Wildschweinen – nicht zu nahe treten würde.

Ganz behutsam habe ich dann mit der Zeit die Seiten gewechselt, weil ich Norbert Bolz folge, wenn er bemerkt, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen: „Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren. Auch reicht der Bezug auf die Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb ‚nur‘ als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft. Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit“, darum gehe der Streit zwischen Luhmann und Habermas (40).

Der Seitenwechsel:

1986 – vor 44 Jahren – habe ich meine Dissertation veröffentlicht. Die wissenschaftstheoretischen Kernaussagen hatten Bekenntnischarakter – zumindest war ich selber fest davon überzeugt. Mit einem offenen Bekenntnis wäre ich ganz sicher auf den Widerstand meiner Betreuer gestoßen (Prof. Dr. Heino Kaack und seinerzeit von PD Dr. Ulrich Sarcinelli). Wenn ich nun eine längere Passage wiedergebe, verblüfft mich vor allem, wie sehr ich mich heute mit der seinerzeit als kritikwürdig betrachteten Position Luhmanns identifiziere und die kritischen Vorbehalte Habermasens für mich relativiert habe. Ja, auch damals ging es schon um die wissenschaftstheoretischen Giganten Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Es ist im Übrigen frappierend und erhellend, wenn man die folgende Passage im Kontext der Covid19-geschuldeten Politik liest – insbesondere mit Blick auf die Debatte um die Einschränkungen von Grundrechten (Dissertation, S. 100ff.):

„Die Kernaussage Luhmanns impliziert – sozialisationstheoretisch gewendet – einen Sozialisationstyp, der ein nahezu motivloses, selbstverständliches Akzeptieren bindender Entscheidungen soweit verinnerlicht hat, dass – wie Easton/Dennis formulieren – ein funktionaler Handlungsspielraum des politischen Systems durch einen ‚diffuse support‘ seitens der Bevölkerung gewährleistet ist …] In gewisser Weise – so Luhmann – ist ‚Opportunismus bestandswesentlich geworden, denn Werte können nicht mehr durch sture Rangprioritäten festgelegt werden. Dem entspricht die Bedeutung von kognitiven Wertstrukturen, die auf der Grundlage abstrakter Grundhypothesen (z.B. die Verteilung sozialer Chancen und Positionen erfolgt in dieser Gesellschaft nach gerechten Kriterien = Leistung) relativ enttäuschungsfest sind.“ Weiterhin ist die Rede von einer „effektiven Systemintegration, die – zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften – unauflöslich an eine komplementäre funktionale Sozialintegration“ gebunden ist. Und nun einmal genau hinschauen und – jetzt in der zweiten Februarhälfte 2021 beobachten, was sich nach einem Jahr Pandemiedruck und –erfahrung möglicherweise verändert: „Das heißt, die Voraussetzungen für eine effektive Systemintegration (Regierbarkeit) sind voraussichtlich in dem Maße gegeben, wie der einzelne bzw. die Masse der Bevölkerung z.B.

  • den Staat als Rechtsstaat bewertet, in dem politische Entscheidungen durch legitimierte Gremien zustande kommen;
  • glaubt, seine/ihre Interessen – zumindest überwiegend – in einer wählbaren Partei vertreten zu sehen;
  • davon ausgeht, durch politische und wissenschaftliche Eliten (rationale) Problemlösungsstrategien angeboten zu bekommen, die er durch seine Wahlentscheidungen beeinflussen kann;
  • davon ausgeht, das politische System sei 1. in seinen politischen Eliten glaubhaft und identifikationsfähig, 2. auf der Problemlösungsebene effizient und 3. In seinen Leistungen bzw. Entscheidungen sozial und gerecht.

Jürgen Habermas geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass ‚im Publikum der Staatsbürger‘ die gebrauchswertorientierten – und das heißt: an Erfolg kontrollierbaren Erwartungen zunehmen. Das steigende Anspruchsniveau verhalte sich zum wachsenden Legitimationsbedarf proportional: die fiskalisch abgeschöpfte Ressource ‚Wert‘ müsse die knappe Ressource ‚Sinn‘ substituieren. ‚Fehlende Legitimationen müssen durch systemkonforme Entschädigungen ausgeglichen werden. Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche schneller steigen, als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht mehr befriedigt werden können.‘ Diesem Bedürfnistyp entspricht eine politisch abstrakte Grundhaltung, verbunden mit einer überwiegend privatistischen Karriere-, Freizeit- und Konsumorientierung. Habermas hat den zugrundeliegenden Einstellungskomplex in den zwei Syndromen des ‚staatsbürgerlichen und familial-beruflichen Privatismus‘ zusammengefasst.“

Im Februar 2021 gewinnt man den Eindruck, dass sich das gesellschaftliche System – im Zusammenspiel seiner Subsysteme – auf einen Kipppunkt zubewegt. Erstaunlich waren bislang die Akzeptanzwerte zum politischen Krisenmanagement, so dass man Jürgen Habermas weitgehend entgegenhalten kann, dass es selbst angesichts der drastischen Einschränkungen über die letzten 12 Monate nicht wirklich zu einer nachhaltigen Legitimationskrise gekommen ist, etwas worauf die AfD in überlebensgieriger Haltung wartet. Spannend in diesem Mega-Wahl-Jahr wird nunmehr sein, inwieweit die oben genannten Kriterien für eine über das politische System gewährleistete Systemintegration weiterhin Bestand haben! Erosionserscheinungen lassen sich deutlich erkennen mit Blick auf das Impfdesaster sowie mit Blick auf erkennbare Kommunikationsdefizite hinsichtlich der sogenannten Inzidenzwerte (50 bzw. 35 pro 100.000) und die damit nach wie vor begründeten Einschränkungen.

Aber eigentlich wollte ich ja nur verdeutlichen, wie ich behutsam von der einen Seite (Jürgen Habermas) zur anderen Seite (Niklas Luhmann) geraten bin – hierzu ein Zitat, mit dem ich die Festschrift zu meinem Berufsausstieg 2017 eingeleitet habe:

„Denn es geht hier (bei vielen privaten und öffentlichen Konflikten, Anm. Verf.), möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

Der neuerliche Versuch, den eigenen Spuren zu folgen und wortschöpfend jene Erinnerungs- und Reflexionsinseln einzudeichen, die sich vordrängen und die man aufspüren muss/will, soll zeigen inwieweit man aus der von mir als Luhmannsche Lektion bezeichneten Einsicht, Gewinn ziehen kann. Mit Blick auf mein Vorhaben bedeutet dies nichts anderes, als durch einen zweiten und dritten Blick vorschnelle Urteile und Bewertungen zu vermeiden.

Welche Wege hat man denn gewählt bzw. welche Wege haben sich denn angeboten oder gar aufgenötigt, um die Luhmannsche Lektion für sich annehmen zu können? Katholisch, vom Lande, aber ein Junge – vielleicht war letztere Variable in den 50er und 60er Jahren doch noch der entscheidende Unterschied, der beispielsweise die Wege meiner Cousine Gaby – ca. sechs Stunden älter als ich – und meine Wege Mitte der sechziger Jahre aus dem Gleichschritt gebracht hat? Sie hatte mich ja noch motiviert – orientierungslos, wie ich war – gemeinsam mit ihr nach der Volksschule in Bonn eine Private Handelsschule (Dr. Köster) zu besuchen. Der Hinweis ist ja bereits erfolgt, wie sehr ich mich dort deplatziert gefühlt und letztlich gequält habe. Erwähnenswert sind lediglich meine Fingerfertigkeit an der Schreibmaschine/Tastatur, und dass ich eine Zeit lang die Schulbank mit Hannes Bongartz gedrückt habe. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, wie ich auf die Werbekampagne des Aufbau-Gymnasiums in Bad Neuenahr – meiner Heimatstadt – aufmerksam geworden bin. Jedenfalls habe ich mich aus eigenem Entschluss für die Aufnahmeprüfung angemeldet und diese Prüfung auch bestanden. Wenn ich versuche mir die Frage zu beantworten, welches Selbstbild denn hier zugrunde lag, dann lohnt ein Blick zurück in die Volksschule. Ich war zuletzt – in der Klassenstufe 7/8 ein guter Volksschüler. Die Leistungsanforderungen und die Arbeitshaltung, die dort erwartet wurde, entsprachen fast zur Gänze meinem Persönlichkeitsnaturell. Natürlich müsste ich hier andere befragen. Aber ich werde kommenden Sonntag 69 Jahre alt, und ich kenne viele Geschichten über mich, auf die ich hier zurückgreifen werde.

Kindheit, Jugend und Schule (11)

Ich war ein ängstliches Kind, ein Muttersöhnchen ganz klassischen Zuschnitts. Die Mutter war der Hafen, sie verkörperte das Nährende und vor allem das Gewährende, das Weiche und Herzliche auch von ihrer körperlichen Seite her – so auch emotionaler Rückhalt auf allen Ebenen des Denkens, Fühlens und Hoffens. Die väterliche Seite war davon nicht wirklich trennscharf zu scheiden. Über ihn habe ich schon im Zusammenhang mit Ulla, meiner Schwester, berichtet. Gerade ihr gegenüber und aus ihrer Sicht zeigt sich mit Abstand bis heute, dass wir von einer Vaterfigur der besonderen Art sprechen. Er war schlicht ein Ermöglicher im Rahmen seiner Möglichkeiten – Fußball stand mit Abstand an erster Stelle, Fußball war sein Leben, dieses Gen hat er in allen Ihm Entwachsenen und Anvertrauten mit nachhaltiger Wirkung verankert. Beim Räumen bin ich auf einen Zeitungsartikel aus den 60er Jahren gestoßen: Schülerstadtmeister im Tischtennis – Doppel: Peter-Georg Witsch und Franz Josef Witsch, weder verwandt noch verschwägert, aber Nachbarskinder und Schulkameraden; Schülerstadtmeister im Einzel: 1. Platz: Peter-Georg Witsch – 2. Platz: Franz Josef Witsch. Der Vater hatte eine Tischtennisplatte gekauft, die bei gutem Wetter in der Garageneinfahrt und bei schlechtem Wetter in der Garage selbst platziert wurde. Hier haben wir alles gelernt, was man zum (Über-)leben braucht: Gemeinschaftssinn und taktische Finessen in der Doppelkonkurrenz, Durchsetzungsvermögen im Einzel sowie die nötige Frustrationstoleranz, um angemessen mit Enttäuschungen und Niederlagen umgehen zu können. Und wenn wir gar zu viele waren, dann wurde Tischtennis einfach im Rundlauf gespielt. In Klein-Frankreich, so der Name des Straßenzuges von der Landgrafenstraße bis zum Ostende der Stadt, lebten viele Kinder. Vor mir liegt das Foto der Dahlienkönigin aus dem Jahr 1965 – Helene Steinborn; ihrer Einladung zu Kakao und Kuchen waren zweiunddreißig (32) Kinder im Alter von vier bis vierzehn Jahren gefolgt.

Die Kombination von Individualsport (Tischtennis) und Mannschaftssport erwies sich als hohe Schule mit nachhaltigen Sozialisationseffekten. All dies taugte dazu den Wert von Gemeinschaft wie die Erfordernisse von individueller Durchsetzungskraft gleichermaßen zu vermitteln. Das hatte auch etwas zu tun mit der Verankerung eines Leistungsgedankens, der uns beispielsweise 1969/70 sowie 1970/71 in der A-Jugend-Sonderrunde des Fußballverbandes Rheinland die Chance eröffnete, unsere Kräfte in der für uns höchsten Spielklasse zu messen. Gerade der Fußball übt(e) bis ins hohe Fußball-Alter hinein eine große Faszination aus. Er war auch in die Studentenzeit hinein und weit über sie hinaus ein außerordentlicher Integrationsfaktor; sogar in der Wertschätzung meines Doktorvaters – ein motorisch bescheiden ausgestatteter Egg-Head – stieg ich in ungeahnte Höhen, als wir mit der Projektmannschaft PALEPS die Hochschulmeisterschaften im Hallenfußball gewinnen konnten.

Springen wir noch einmal zurück in eine Kindheit und frühe Jugend, die so unfassbar eindrücklich geprägt war von absoluter Freiheit einerseits und dem Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit andererseits. Entscheidend für dieses Lebensgefühl war die Tatsache, dass wir buchstäblich am Rande der Stadt wohnten. Mein Elternhaus – Kreuzstraße 113 (Baujahr 1900) stand lange einsam und alleine wie ein Monolith als zivilisatorischer Außenposten da. 1936 bauten meine Großeltern mütterlicherseits zunächst eine einzige Etage – ein unterkellertes Erdgeschoss an das etwa 11 Meter hohe Elternhaus meines Vaters (Kreuzstraße 111) – ein skurriles Panorama. Erst nach und nach, zu Beginn der fünfziger Jahre folgten in lockerer Bebauung mehrere Einfamilienhäuser in der Kreuzstraße. Diese Straße verfügte im Sinne eines singulären Alleinstellungsmerkmals auf der Höhe der beiden Elternhäuser über einen freien, ungehinderten Blick auf den gegenüberliegenden Sportplatz und darüber hinaus in die Parkanlagen – unverbaubar bis heute! Dort war mein Heimatverein der Sportclub 07 (SC07 Bad Neuenahr) zu Hause. Unterhalb dieser Sportanlage folgten die Zirkuswiese und daran anschließend der Schuttabladeplatz. Letztere Liegenschaften verschafften diesem Viertel das zweifelhafte Etikett Klein-Frankreich. Der Zirkus gehörte ein- bis zweimal im Jahr zu den kalendarischen Höhepunkten; alle Zirkusfamilien von Rang, ob Althoff, Barum, Knie, Krone oder Sarrasani machten bei uns Station. Ansonsten war die Zirkuswiese eine beliebte Anlaufstelle für das fahrende Volk – wir nannten sie damals Zigeuner. All dies umso mehr, als sich die Stadtverwaltung endlich entschloss auf der Höhe der Zirkuswiese einen Hydranten zu installieren. All die Jahre zuvor stellten die Häuser 111 und 113 in der Kreuzstraße die Zapfstellen zur Verfügung. Außergewöhnlich – auch unter dem Aspekt möglicher Gefährdungen – wirkte sich der Schuttabladeplatz aus. Die Kreuzstraße war bis auf die Höhe der Hausnummer 115, dort wohnte ab den frühen 50er Jahren die Familie Heinz, mit einer spiegelglatten Asphaltdecke versehen – für unsere Rollschuh-Aktivitäten eine geradezu paradiesische Voraussetzung. Die abknickende Apollinarisstraße war lange – bis in die sechziger Jahre – nicht mehr als ein befestigter Feldweg. Die Kreuzstraße selbst ging in ihrer Verlängerung über in einen befestigten Feldweg, der an der erwähnten, von Hainbuchen eingefriedeten Zirkuswiese, vorbei Richtung Osten zu einem großen als Schuttabladeplatz genutzten Areal führte. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es noch nicht einmal Rudimente eines Umweltbewusstseins. Es gab keine Mülltrennung. Die Lastkraftwagen und seinerzeit vielfach noch Pferdefuhrwerke – vor allem der Bauern Hansen und Moog – verbrachten alle Sorten von Müll dorthin; Schlachtabfälle genauso wie Bauschutt oder das, was wir heute Restmüll nennen. Um allein das Müllvolumen zu begrenzen, wurde der Müll abgefackelt – je  nach Windrichtung waren wir grundsätzlich die ersten, die nicht nur den Qualm, sondern auch die Geruchsemissionen zu spüren bzw. zu riechen bekamen. Dies galt im Übrigen auch für den nach wie vor mit Dampfloks betriebenen Personen- und Güterverkehr auf der Ahrstrecke; die verlief etwa fünfhundert Meter nördlich parallel zur Kreuzstraße. Das gesamte Areal dazwischen war zu unserer Kindheit und Jugendzeit Wildnis. Wir verfügten so über eine unfassbare Vielfalt an Gelände, dass für alle erdenklichen Spielanlässe und –vorhaben alles bot, was Kinderherzen höher schlagen lässt. Die Gärten wurden abgelöst durch wilde Brombeerhecken, verwilderte, aufgelassene Gärten mit allen möglichen Obstbäumen. Es gab den Fußballplatz, der im Süden an die Ahr grenzte; die Ahr war im Sommer Badeplatz, bei Hochwasser gefürchtetes Wildwasser, das im Übrigen so manchen Fußball in die weite Welt entführte – über die Ahr in den Rhein und so bis in die Niederlande, die auf diese Weise zum ersten Mal überhaupt mit Fußbällen in Berührung kamen. Auf der anderen Seite der Ahr erstreckten sich weitläufige Parkanlagen – auch diese in allen Variationen, vom französisch inspirierten hingezirkelten Lenné-Park bis hin in den englischer Parkkultur nachempfundenen Kaiser-Wilhelm-Park – inmitten eine große Teichanlage, der sogenannte Schwanenteich; müßig zu betonen, dass von all den Kindern in Klein-Frankreich kaum eines einen Kindergarten von innen gesehen hat.

Von diesem Vorposten der Zivilisation musste man sich einige hundert Meter stadteinwärts bewegen, um zu realisieren, dass man tatsächlich in einem kleinen, aufstrebenden Kurstädtchen lebte. So war denn auch unser Schulweg geprägt von einer ländlich anmutenden Ausgangslage, von der aus wir uns dann – der Kreuzstraße folgend – zuerst über die Landgrafenstraße hinweg, die Wendelstraße kreuzend, die Jesuitenstraße rechter Hand liegen lassend über die Poststraße hinweg die Telegrafenstraße erreichten (an keinem Tag musste irgendjemand von uns Kindern diesen Schulweg alleine gehen). Nach wenigen Metern standen wir dann vor der imposanten Rosenkranzkirche. In unmittelbarer Nähe mit vorgelagertem Schulhof befand sich die Volksschule – das alles fest in katholischer Hand. Die Schule, in die wir Ostern 1958 eingeschult wurden, war kein vertrauenserweckender Ort, kein Ort, von dem man annehmen und erwarten konnte, dass wir im Mittelpunkt einer uns zugewandten, uns freudig und respektvoll empfangenden Institution stehen würden. Das ganze Gegenteil war von Beginn an der Fall. Die Klassen waren mit bis zu 60 Kinder in dafür nicht ausgelegten Räumen überfüllt. Die bewährten Rezepte einer äußerst schwarzen Pädagogik ließen in ihren Methoden immer noch die Handschrift einer mehrheitlich von nationalsozialistischen Erziehungsidealen geprägten Lehrerschaft erkennen. Mir genügt ein einziges, zentrales Beispiel, um dies eindrücklich zu belegen: Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Esch, führte über den gesamten Vormittag eine Liste, in der sämtliche, von ihr als Vergehen gegen Ordnung und Disziplin erachtete Vorkommnisse vermerkt wurden. Am Ende des Schulunterrichts kam ihr Kollege Ostermann und schritt zur Exekution der verhängten Strafen. Die in der Kladde vermerkten Schüler mussten vor der Klasse antreten und sich mit ausgestreckten Armen hinstellen. Fräulein Esch entschied – je nach Schweregrad der Vergehen –, ob der Schüler die Handflächen oder die Handrücken zeigen musste. Mit einem Reis wurde dann entweder auf die Handinnenflächen oder die Handrücken geschlagen. Diese Vorgehensweise missachtet die Grundregeln auch körperlicher Züchtigung, deren Einhaltung selbst pädagogische Vertreter entsprechender Maßnahmen als unverzichtbar annehmen: Zwischen Vergehen und Bestrafung darf keine eklatante Zeitdifferenz – ein ganzer Schultag oder mehr – treten; neben dem Delegieren von Strafmaßnahmen vermittelt Schülern dies die Erfahrung pures Objekt von Sühnemaßnahmen zu sein, ohne dass der Strafende auch nur in der Lage ist, die von ihm vollzogene Strafe in ihrer Berechtigung und Angemessenheit begründen oder nachvollziehen zu können. Die Prügelstrafe gehörte zum alltäglichen Repertoire der Unterrichtsführung. Disziplinarische Verfehlungen oder Leistungsverweigerung (vergessene Hausaufgaben) wurden häufig durch Schläge geahndet.

Nach der vierten Klassenstufe verließen uns einige unserer Mitschüler Richtung Realschule oder Gymnasium. Rektor Müller empfahl meinen Eltern für mich den Übergang auf die Realschule alternativ auch das Gymnasium. Soweit ich mich erinnere, war dies nicht annähernd eine denkbare Option. Von all den Kindern, die das Gruppenfoto mit der Dahlienkönigin des Jahres 1965 zieren, besuchten nur wenige eine weiterführende Schule. So blieb ich ganz selbstverständlich auf der Volksschule. Wir zogen um – zuerst in einen Altbau in der Weststraße, später in einen Neubau in der Nachbarschaft, die heutige Grundschule Bad Neuenahr. Aufgrund akuten Lehrermangels fasste man die Klassenstufen 5/6 und 7/8 zu großen Lerngruppen zusammen mit jeweils über 50 Schülern. Der Schulunterricht war nach Geschlechtern und Konfessionen streng getrennt. Dass die Empfehlung eine weiterführende Schule zu besuchen nicht gänzlich unbegründet war, zeigte sich dann im Verlauf der weiteren vier Schuljahre (die seinerzeitige Volksschule schloss damals noch mit dem Besuch der achten Klasse ab). Die Lehrerschaft verjüngte sich rein altersmäßig. Mein Lieblingslehrer in den klassischen Fächern Deutsch, Rechnen, Heimat-/Erdkunde war der Lehrer Wilhelm. Er ermunterte mich zu konstanter mündlicher Mitarbeit, und er stellte meine Heftführungen als beispielhaft in den Raum. Meine Volksschulhefte haben die vielen Umzüge leider nicht überlebt. Ich entdeckte seinerzeit die Möglichkeit mittels Pauspapier Abbildungen, Risse, Zeichnungen in mein Heft zu übertragen und auf diese Weise die rein sprachliche Seite enorm aufzuwerten. Legendär waren meine Übertragungen der Erdteile in mein Erdkundeheft – vor allem die politischen Karten mit Ländergrenzen, Hauptstädten und Metropolen müssen eine reine Augenweide gewesen sein. So lernte ich die politische Geographie der Erdteile auswendig und illustrierte sie in meinen Arbeitsheften. Wer konnte denn damals schon aus dem Stehgreif die Hauptstädte von Uruguay oder Paraguay nennen? Der Enkel dieses von mir hochverehrten und geschätzten Lehrers, so alt wie mein Neffe Michael, hat als junger Mann Südamerika bereist, eine Straßenkinderprojekt „Menino“ (der Name auch der von ihm begründeten Band) begründet und ist schon als junger Mann mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Ein zweiter überaus prägender Pädagoge war der von uns allen hochgeschätzte Sportlehrer Erno Mahler. Die Begriffsverwendung Pädagoge gibt hier hohen Sinn, da wir alle gleichermaßen in Berührung kamen mit einer individualpädagogisch ausgerichteten Haltung eines Lehrers, der es Verstand die sachlich-fachlichen Anforderungen und Angebote mit den Entwicklungsmöglichkeiten seiner Schüler in einer wohlverstandene Passung zu bringen. Eine wohlkalkulierte didaktische Überforderung kitzelte ungeahnte Potentiale wach – immer gepaart mit einer individuell wertschätzenden Grundhaltung des Herrn Erno Mahler. Er lebt 82jährig in Bad Neuenahr und hat sich bis heute einen jungenhaften Charme bewahrt. Noch heute bewahre ich Zeitungsartikel auf, wonach das Basketball-Spiel auf der Volksschule geradezu kultiviert wurde und unsere Schulmannschaft auf Stadtebene einen schulübergreifenden Wettbewerb gewann.

Der Abschluss der Volksschule war mit einer Weggabelung verbunden, die vor allem auch alte, gewachsene Freundschaften über die Jahre relativierte, bis sie teils vollkommen absanken in jeweils getrennte Welten. Mein bester Freund, Peter-Georg Witsch, Namensvetter und Sparringspartner in allen Disziplinen, an denen sich Jungen-Identität – inclusive aller konkurrenzorientierten Individualisierungsschübe – ausbildet, machte nach der Volksschule eine Lehre zum Wasser- und Heizungsinstallateur. Mit Mitte dreißig wechselte er ins örtliche Spiel-Casino, im Übrigen ein Weg, der mir auch offen gestanden hätte, da unsere beiden Väter dort als Croupiers arbeiteten. Ende der achtziger Jahre führte ihn sein Weg in die Justizvollzugsanstalt Koblenz, weil er sich einer kriminellen Vereinigung angeschlossen hatte zum Zweck eines fortgesetzten Betrugs seines Arbeitgebers durch technische Manipulation der Spielgeräte. Wir haben uns danach noch einmal wiedergefunden, er hat – gemeinsam mit seinem Bruder, Karl-Heinz – das legendäre Fest zu meinem fünfzigsten Geburtstag im Café Hahn besucht und ist leider schon acht Jahre danach – im März 2010 – an einer Krebserkrankung verstorben. Er, sein Bruder, mein Bruder und Bernd Jobst, dem hier ein eigenes Kapitel zu widmen ist, bildeten Anfang der sechziger Jahre schon einmal so etwas wie eine zwielichtige Vereinigung, der sogenannte K9-Klub. Wir trafen uns in unserer Freizeit in einer Scheune bei Jopa (Bernd Jobst). Wir alle wohnten in einer Straßenflucht, in Klein-Frankreich, in der Kreuzstraße auf einem Straßenabschnitt, der eben einmal 100 Meter Wegstrecke umfasste. Wir organisierten unsere Spiele, kleine Fahrradtouren und erkundeten die Umgebung, beschafften uns auf unlautere Weise die notwendigen Utensilien und Lebensmittel für unsere kleinen Gelage. Während einer dieser Erkundungen – hoch über dem Apollinarisbrunnen (heute verläuft dort die Trasse der A61, nachdem sie das Ahrtal in Richtung Bonn/Köln überquert hat) – packte Jopa plötzlich eine Kamera aus und meinte: „Heute machen wir einmal ein Foto von uns allen!“ Ungläubig sahen wir unseren Spinner an – Jopa war schon damals ein recht exzentrischer Sonderling, und meinten: „Und wer fotografiert???“ Mit einer überlegenen Geste wischte er unsere dumme Frage hinweg und klärte auf: „Das ist eine Kamera mit Selbstauslöser. Ich stelle einen ausreichenden Zeitvorrat ein, und wir postieren uns in etwa 10 Meter Entfernung.“ Jopa platzierte die Kamera auf einem kleinen planierten Erdhügel, nachdem er den Kameraausschnitt überprüft und justiert hatte. Wir lagen schon bereit. Er drückte auf den Auslöser und spazierte in aller Seelenruhe zu uns hin, legte sich neben uns, mahnte uns zum Stillhalten, bis der Auslöser vernehmlich das Objektiv zur Belichtung öffnete. Das Foto, das ich hüte, wie meinen Augapfel, zeigt von links nach rechts zuerst den Jupp, dann den Peter, seinen Bruder Karl-Heinz, meinen Bruder Willi und schließlich den Meisterfotografen Bernd Jobst, unseren Jopa. Drei dieser damals etwa acht- bis etwa zwölfjährigen Jungs strecken ihre jeweils linken Unterschenkel himmelwärts – eine Bewegungsrichtung, die von drei im Hintergrund stehenden Zaunpfählen aufgenommen wird. Diese drei, Willi, Jopa und Peter, sind die ersten drei Verstorbenen, Willi 1994 im Alter von 38 Jahren, Jopa 1995 im Alter von 41 Jahren und Peter-Georg 2010 im Alter von 59 Jahren – zuletzt folgte der jüngste der K9er, Karl-Heinz, der vor wenigen Jahren im Alter von eben erst 60 Jahren verstorben ist – der einzige Überlebende kommt jetzt seiner Chronistenpflicht nach.

Von uns Fünfen war es mir alleine vergönnt von der herkunftsgemäßen, vorgespurten Bahn (Schullaufbahn) abzuweichen. Voraussetzung dafür war der einsame Entschluss die verspätete gymnasiale Laufbahn zu wagen. Mitte der sechziger Jahre zeigte sich die von Georg Picht ausgerufene und diagnostizierte Bildungskatastrophe in all ihren verheerenden Auswirkungen. Er kritisierte in einer Artikelserie die Situation des seinerzeitigen Bildungswesens in der Bundesrepublik an und löste eine intensive Debatte mit ersten schulpolitischen Konsequenzen aus. Dabei ging es vor allem um die im internationalen Vergleich niedrigen Bildungsausgaben in Deutschland und die geringe Quote an Abiturienten und die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land. Im Raum stand die Forderung nach grundlegenden Reformen des dreigliedrigen Schulsystems und der Erwachsenenbildung. Die SPD mit ihrer Gallionsfigur Willy Brandt forcierte mit ihrer Parole Mehr Demokratie wagen auch eine Kehrtwende in der Bildungspolitik. Die Mobilisierung von Bildungsreserven lief unter anderem auch über die sogenannten Aufbau-Gymnasien, die qualifizierten Volksschulabsolventen und Realschulabgängern einen Übergang in die Mittel- bzw. Oberstufe des Gymnasiums ermöglichten. Ich wechselte nach bestandener Aufnahmeprüfung 1966 auf das Are-Gymnasium Bad Neuenahr. Schon in der Obertertia erwischte es mich zum ersten Mal. Das Anforderungsniveau und das Tempo erwiesen sich als zu rasant. Ich benötigte einfach eine etwas längere Anpassungsphase – und da war noch etwas anderes: Ich fand auf dem Aufbaugymnasium alte Freunde aus der Volksschule wieder, sowie gescheiterte Gymnasiasten, die hier ihre zweite Chance suchten. Vor allem aber versammelten sich auf dieser Schule junge Menschen, die im Alter von 14, 15, 16 Jahren vielleicht schon etwas deutlicher sehen konnten, dass sie hier eine unverhoffte Chance bekamen, ihrem Leben gewissermaßen eine Wende in Richtung Bildungserfolg (mit der Perspektive Studium und beruflichem Aufstieg) geben zu können. Der Radius, der sich schlagen lässt, um die Herkunftsorte der Schüler zu erfassen, lag sicher zwischen 100 und 150 Kilometern. Dies lag daran, dass das Are-Gymnasium eine Internatsschule war; ab 1965 mit den Jungeninternat auf der Hauptstraße (das sogenannte Päda) und dem Walburgisstift für die Mädchen auf der südlichen Seite der Ahr in Beuel, wo auch der Schulneubau – eingeweiht 1965 – entstand.

So trug sich ein Aufbruch in zweifacher Hinsicht zu: ein Aufbruch in ungeahnte Bildungswelten und vor allem hinein in die ausgehende zweite Hälfte der sechziger Jahre. Damit bewegten wir uns nicht nur in einem beginnenden sozialen Umbruch, sondern die kulturelle und politische Dimension dieses Umbruchs begegnete und konfrontierte uns mit unglaublich vielen Facetten und Möglichkeiten:

Der – vordergründig betrachtet – faszinierendste Einfluss ging von der Musik aus. Beatles und Rolling Stones waren schon seit Anfang bzw. Mitte der sechziger Jahre unterwegs; Beach-Boys, The Who, Small Faces und Bee Gees gleichermaßen. Und dann betraten Jimmy Hendrix, Jim Morrison, Bob Dylan, Joan Baez und so viele andere die öffentliche Bühne. Alles ging dann sehr schnell. Ich hatte mit Wolfgang Bialek und Fredy Biedermann Weggefährten aus der Volksschule wiedergefunden, hinzu kamen Percy Wilhelm und Alfred Mayer. Schon 1967 hoben wir The Lice aus der Taufe. Dazu bedurfte es zunächst einmal lediglich einiger akustischer Gitarren; Wolfgang bekam als Einzelkind von seinen Eltern ein Schlagzeug und einen Bass geschenkt. Nach den ersten zaghaften Versuchen stand der Entschluss. Wir waren fleißige Jungs, die sich manche Mark nebenher verdienten, und so hatten wir 1968 ein komplettes – wenn auch bescheidenes Equipment beieinander und legten einen beeindruckenden Fleiß und eine enorme Energie an den Tag, um schnellstmöglich bühnenreif zu werden. Im Keller der Borromäus-Bücherei fanden wir einen Probenraum. Wir nahmen schon im Frühjahr 1968 am lokalen Wettbewerb regionaler Bands im Bürgerhaus Heppingen teil und hatten recht schnell ein passables Repertoire beieinander, um eineinhalb Stunden auf der Bühne (be-)stehen zu können. Dabei kam uns enorm zugute, dass wir mit Fredy Biedermann einen excellenten Sänger in unseren Reihen hatten, hinter dem wir alle miteinander ein Stück weit abfielen: Unsere Paradestücke schöpften wir aus den Megahits der Bee Gees (Words, To Love Somebody), natürlich der Stones (Satisfaction, Paint It Black, Tim Is On My Side, Under My Thumb, Jumpin‘ Jack Flash), dann ein Paradestücke von Small Faces (All Or Nothing), bei dem der Fredy Biedermann zur absoluten Höchstform auflief; dies galt gleichermaßen für „Give Me A Ticket For An Aeroplane“ von den Box Tops. Dazu kamen von den Tremoloes „Silence Is Golden“ und vor allem von Otis Redding: „(Sittin On) The Dock Of The Bay“. Stücke, die bei keinem Auftritt fehlen durften, waren selbstredend „House Of The Rising Sun“ von Eric Burdon & The Animals und „Hey Joe“ von Jimmy Hendrix. Das Kultstück aber schlechthin war Nights in White satin! In den Osterferien 1968 machten wir – Wolfgang Bialek, Fredy Biedermann und ich – uns mit den Fahrrädern auf den Weg. In einem weit ausholenden Dreieck fuhren wir drei Jugendherbergen als Zwischenziele an: Die erste Station war Boppard am Rhein. Von dort aus fuhren wir auf die Höhe durch den Hunsrück bis nach Simmern, und dann weiter nach Cochem an die Mosel, um anschließend den letzten Tagesritt von dort aus durch die südliche Eifel zurück nach Bad Neuenahr in Angriff zu nehmen. Zu unserer Grundausrüstung gehörte ein Koffer(Transistor)Radio, das abwechselnd an der Mittelstrebe unserer Fahrräder mit Klebestreifen fixiert wurde. Auf jeder Tour hörten wir mehrmals Nigths in White Satin und waren uns einig, dass diese Herz-Schmerz-Ballade zu unserem Standardrepertoire gehören sollte. Für mich ganz persönlich bildet dieser Song ein gewaltiges Hintergrundrauschen bei meinen ersten unglücklichen Liebesdramen. Aber unserer Band war nur ein einziger, kurzer Sommer beschieden: Fredy Biedermanns Eltern waren früh geschieden, und Fredys Vater – ein bunter Hund – unterhielt in Remagen einen Club. Er verschaffte uns sonntagsnachmittägliche Auftrittsmöglichkeiten. So ansehnlich und so verlockend anfangs die Gelegenheiten waren auf der Bühne im Rampenlicht zu stehen, so schnell war dann der Spaß auch vorbei. Rampensau-Qualitäten hatte ohnehin ausschließlich Fredy Biedermann.

Ich war ja bereits in der Obertertia hängengeblieben, und meine Schulleistungen waren im Keller. Es gab ein klärendes Gespräch zwischen der Mittelstufenleitern, Frau Ledig – sie wohnte in der Kreuzstraße, drei Häuser stadteinwärts von der 113 aus gesehen – sozusagen in der Nachbarschaft. Sie machte unmissverständlich klar, dass ich bei gleichbleibenden Leistungen die Schule verlassen müsste. Die Wochen und Monate, die sich anschlossen, kommen annähernd dem gleich, was ich Wendepunkte im Luhmannschen Sinne nenne. Schon nach wenigen Wochen eröffnete ich meinen Kumpels von „The Lice“, dass sie in Zukunft ohne mich auskommen müssten. Ich war in mich gegangen und hatte eine klare Entscheidung gegen die Band und für die Schule getroffen. Das Ergebnis kann man hier in aller Kürze abhandeln und kommentieren: Heute nennt man das wohl Mobbing, was ich dann erlebte. Die Jungs schnitten mich, kein Wort – sie gingen mir schlicht aus dem Weg. Diese Entscheidung war absolut weichenstellend – so etwas hat sich immer wieder einmal in meinem Leben zugetragen. Keiner meiner Bandkollegen hat Abitur gemacht. Allesamt haben den Übergang in die Oberstufe nicht geschafft. Mein Schulweg war auch danach mühsam und von einem weiteren Rückschlag begleitet, da ich die Unterprima wiederholen musste. Mein bestes Zeugnis auf dem Gymnasium war mein Abiturzeugnis, auf dem keine Note schlechter als befriedigend ausfiel – außer Mathematik (mangelhaft). Aber damit konnte ich seinerzeit bestens leben. Die sozialen Kontakte verschoben sich allmählich – Erwin Josten, Günther Traub, Edmund Lenz, Dieter Rolser waren dabei die engsten Freunde; nicht unerwähnt bleiben darf meine unglückliche und unerfüllte Liebe zu Karin Franzen. Sie war lange Jahre die Gefährtin von Jochen Scharfenstein, der ein unzertrennliches Duo mit Arnold Retzer bildete. Beide gehören – wie ich – dem 52er Jahrgang an, und beide haben mir Nachhilfe in Mathematik erteilt, so dass ich wenigstens ein mangelhaft ins Abitur retten konnte. Arnold Retzer hat dann mehr als vierzig Jahre später die Laudatio zu meinem Berufsausstieg 2017 gehalten – wir haben dabei gemeinsam gleichermaßen Van Morrison und excellenten Gülser Weinen die Ehre gegeben.

Drei prägende LehrerInnen möchte ich erwähnen: Zum einen die bereits genannte Nachbarin aus der Kreuzstraße, Fräulein Ledig, lange Jahre meine Lateinlehrerin, die – so glaube ich – häufig (ohne meine Kenntnis) ihre schützende Hand über mich gehalten hat. Dann einen Drecksack erster Güte: Wolfgang Groß, genannt „Goofy“ (Mathematik und Physik). Besonders er ist mir in Erinnerung als ein Vertreter einer rabenschwarzen Pädagogik – vielleicht hatte er mich, aus welchen Gründen auch immer, besonders auf dem Bildschirm. Mindestens einmal in der Woche war ich auserkoren entweder Hausaufgaben oder auch einfach nur im Laufe der Unterrichtsstunde gestellte Aufgaben an der Tafel zu lösen: „Witsch, bitte an die Tafel, zeigen Sie uns doch bitte einen möglichen Lösungsweg!“ Wohlwissend, dass er mich genüsslich und krachend scheitern sehen würde, während er mit übergeschlagenen Beinen auf dem Tisch süffisant meine – in der Regel – aussichtslosen Bemühungen beobachtete. Die gänzlich andere Seite – sozusagen im Sinne eines pädagogischen Leuchtturms – repräsentierte Magister Karl Heinz Klein; der war kein Lehrer, sondern kam aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ich meine WDR Köln) als Deutschlehrer zu uns und entpuppte sich als der Förderer und Facilitator schlechthin. Er regte mich zum Literaturstudium an, beobachtete und förderte meine ersten lyrischen Versuche. Im Vorwort meines ersten Lyrikbändchens 2003 habe ich mich seiner erinnert und ihm für seine Unterstützung und Ermunterung gedankt. Wir haben uns mehrfach getroffen und einen kleinen, späten Schriftverkehr begründet.

Schule war dann natürlich noch sehr viel mehr. Die späteren „Bendorfer“ sind die gesamte Oberstufe gemeinsam marschiert und dachten seinerzeit Freundschaften fürs Leben zu begründen – immerhin waren es ja auch drei Paarbeziehungen, die es bis nach Koblenz bzw. nach Bendorf geschafft haben. Heute nenne ich nicht einmal mehr die Namen bzw. ich erwähne sie nur noch kürzelweise, weil sich alle Bindungen und Verbindungen nach meinem 50sten Geburtstag 2002 aufgelöst haben und alle Versuche der Kontaktaufnahme – zumindest zu T. und Ev. – zurückgewiesen wurden; nichts ist für immer.

Will ich meinen merkwürdigen Weg in allen mir erinnerlichen Facetten nachvollziehen, dann müsste hier meine Abiturrede folgen – sie löste 1974 einen Skandal aus (ich werde sie gelegentlich einfügen). Das Schreiben des seinerzeitigen Schulleiters, des ehrenwerten Dr. Helmut Bauer, liegt mir noch vor und ist in seinem Tenor sehr hellsichtig richtungsweisend gewesen.

                                Er schrieb mir am 19. Juni 1974

                                „Lieber Franz-Josef Witsch!

Ich möchte nicht mit einer Briefschuld in die großen Ferien gehen und versuche deshalb eine vorläufige Antwort auf Ihre ‚Stichworte‘, die Sie mir bei der Abiturienten-Entlassungsfeier übergaben. Sehr beeindruckt hat mich die Tatsache, dass Sie die Worte auf dem Grundstein unserer Schule ‚Sum ut fiam‘ zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen machten. Wie dieses Motto eigentlich gemeint war, hatte ich einmal bei einer Abiturienten-Entlassungsfeier näher ausgeführt. Solle ich noch einen Durchschlag davon finden, könnte ich Ihnen diesen gern noch zusenden. Vorläufig als kleiner Dank für Ihre Aufmerksamkeit ein Rest-Exemplar des Jahresberichts 1964/65, der Ihnen zusammen mit dem natürlich inzwischen auch veralteten Prospekt einer kleine Erinnerung sein soll.

Erst durch Ihre Äußerungen wurde mir klar, in welch desolatem Zustand Ihre Generation unserer Welt sieht. Ob die gleich Überzeugung von Ihnen noch in wenigen Jahren geteilt werden wird, möchte ich allerdings bezweifeln. Solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung ist, misst man sie an einem selbstgesetzten Ideal. Das ist das Vorrecht jeder jungen Generation. Später versucht man, einfach für andere dazusein, ein Werk nach bestem Wissen und Gewissen zu tun und in allem ‚sein Bestes‘ zu geben, was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wir gelingen können.

Die Begründung Ihrer verzweifelten Grundhaltung, dass es sich hier um eine ‚Selbstentfremdung handele, scheint mir allerdings nicht eigener, sondern übernommener Ansicht zu entspringen, wobei hinzuzufügen ist, dass keiner in Denken und Ansichten den Zeitströmungen zu entrinnen vermag, in denen er unvermeidlicherweise befangen ist.

Zur behaupteten ‚Hypokrisie‘ allerdings vermag ich keinerlei Stellung zu nehmen, da diese, so allgemein ausgesprochen, sich nicht verifizieren lässt.

Zum Schluss darf ich Ihnen noch sagen, dass mich eines sehr erstaunt hat: Sie sprechen immer vom Erziehungsanspruch der höheren Schule und erwähnen nicht ein einziges Mal das, was sie mit Bildung eigentlich zu erreichen versucht; d.h. mit der Vermittlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne die geistige Arbeit gar nicht möglich wäre. Um das aber zu erreichen, sind ‚Kärrner‘ notwendig, die ihre harte tägliche Pflicht tun und nur hoffen können, dass gestreuter Same aufgehe und Frucht bringe.

Mit guten Wünschen für Ihre persönliche Zukunft und freundlichen Grüßen

Dr. Bauer (Oberstudiendirektor)

So brüsk und entrüstet ich seinerzeit die Hinweise Dr. Bauers zurückwies, wenn ich die Welt weiterhin so düster und durch eine völlig überzogene, unangemessene moralinsaure Brille betrachten würde, hätte ich eine gleichermaßen düstere Zukunft vor mir, so uneingeschränkt muss ich ihm rückblickend zustimmen. Fast fünfzig Jahre nach diesen besorgten Worten, wäre er vermutlich ein wenig stolz auf mich, weil ich mir nahezu seine gesamte Argumentation zu eigengemacht habe; gewiss bin ich seiner Weltsicht eher gefolgt als meiner spätpubertären Weltschelte und habe nach bestem Wissen und Gewissen etwas getan – mein Bestes gegeben –, „was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wird gelingen können“. Im Scheitern jedenfalls bin ich ein Meister fast aller Klassen geworden.

Zu meiner düsteren Weltsicht passten die ersten Versuche, sich politisch zu positionieren und zu profilieren. Ich arbeitete in der Schüler-SV mit. Es bildete sich eine erste, sich marxistisch nennende und sich als solche verstehende Schülerzelle. Ein bekannter Schülertreffpunkt befand sich am Beginn der Jesuitenstraße, die schräg gegenüber des Jungeninternats zuerst als Gabelung, von der Hauptstraße südlich in Richtung Kreuzstraße führt. In der Gabelung befindet sich ein Heiligenhäuschen. Die vorgelagerten Stufen dienten vor allem im Sommer als Sitzgelegenheiten, die häufig von Schülern belagert wurden. Ende der sechziger Jahre lernten wir bei dem seinerzeit mit Abstand versiertesten Gitarristen der Stadt die ersten Riffs. Der Junge war Ulrich Schmücker, der am 5. Juni 1974 in Berlin ermordet wurde. Schmücker hatte sich der Vereinigung „2. Juni“ angeschlossen. Nachdem er mit führenden Mitgliedern 1972 in Bad Neuenahr verhaftet und nach einem Jahr entlassen wurde, ging er nach Berlin zurück und arbeitete – vom Verfassungsschutz angeworben – als V-Mann. Nach seiner Enttarnung wurde er Opfer eines Fememordes. Über die genauen Zusammenhänge und die Verstrickungen des Verfassungsschutzes herrscht nach wie vor Unklarheit.  Im längsten Prozess der Justizgeschichte der Bundesrepublik versuchte man die Ermordung Schmückers aufzuklären. Dies ist bis heute nicht abschließend gelungen, so dass wir es bis heute von einem peinlichen Justizskandal sprechen müssen.

Dies findet hier Erwähnung, weil der Weg in die siebziger Jahre – nach Koblenz und ins Studium – letztlich auch im Hinblick auf meine politische Sozialisation von einer Reihe von Irritationen begleitet war. Die Erschütterung über die Verirrungen Ulrich Schmückers und seinen Tod haben bis heute ihren Nachhall nicht verloren.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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