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Da Geheimnis unserer Worte - oder: Wer ist eigentlich Harald Schmidt?

(ausgelöst durch die ZEIT, 51/2014 - Wissen, Seite 35 "Das Geheimnis unserer Worte") 

Wie tröstlich! Seit geraumer Zeit verstärkt sich schon der Eindruck, dass das Internet zunehmend ein Raum der Freiheit wird. In dem Maß wie sich internetgestützte Kommunikation als galaktisches Rauschen zu einer radikalen Variante einer ozeanischen Unübersichtlichkeit ausdifferenziert, dehnen sich die Freiheitsgrade ins Unendliche - allerdings nur in den letzten halbwegs zivilisierten Bastionen der westlichen Welt, in denen ein jeder - trotz NSA - sein Ding machen kann.

Allerdings wird diese Freiheit nun bedroht durch Erkenntnisse der Psychologie, die sich ja schon seit mehr als hundert Jahren müht, unser Eigentliches zu enthüllen. Ich vertrete in dieser Hinsicht mit Niklas Luhmann eine radikale Variante in der Abgrenzung von der Psychologie, indem ich seiner Auffassung folge, dass es "für eine Wissenschaft vom Menschen genug Wissen gibt und zwar, wenn man von der Psychologie absieht, allgemeines Wissen, das nicht im Verdacht steht, Vorurteile über den Menschen zu tansportieren" (Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 22).

"Das Geheimnis unserer Worte - Was wir sagen oder schreiben, verrät fast alles: Charakter, Lügen, Leidenschaft (ZEIT, 51/2014, S. 35)." Gottseidank gibt es da - selbst unter Psychologen - noch das Wörtchen fast. Also träumen einmal wieder "klinische Psychologen" - wie James Pennebaker - davon sich "tiefe Einblicke in unser Innerstes" zu ermöglichen. Sie versuchen einmal mehr die operative Geschlossenheit psychischer Systeme durch simple lineare Kurzschlüsse zwischen Wort und Sinn zu knacken. Dieses Mal nicht durch "die Wahrheit in den inhaltsschweren Worte", sondern den analytischen Zugriff auf "unscheinbare Wörter und Wörtchen":

"Nun ließen die Psychologen ein Computerprogramm Pronomen, Artikel, Präpositionen, Nagationen, Konjunktionen zählen. Und stießen auf Gold." Sie sprechen von atemberaubenden Ergebnissen: "Je stärker die Patienten von Text zu Text die Personalpronomen variierten -, desto besser ging es ihnen später. Sie wechselten offenbar die Perspektive, und das half ihnen dabei, ihr Trauma zu überwinden." Also zumindest die Pädagogik - im Gefolge der humanistischen Psychologie mit ihren authentizitäts- bzw. echtheitsaffinen Erwartungshorizonten à la Carl Rogers - kann nun endlich ihre zentralen Zieldimensionen, Emphatie und Perspektivenübernahme, empirisch begründen.

Dass aber ein Sich-Verwahren gegenüber der übergriffigen Psychologensucht nach "Einblicken in unser Innerstes" gerade eben aus den sogenannten antihumanistischen Implikationen einer Systemtheorie Luhmannscher Prägung resultiert, paradoxiert unsere Weltsicht wieder einmal auf faszinierende Weise. Die Exposition des Menschen in der Umwelt der Gesellschaft resultiert aus den antihumanistischen Prämissen eines systemtheoretisch begründeteten Trialismus (durch die System-Umwelt-Untscheidung).

Dietrich Schwanitz hat für diesen Zusammenhang - die Ausschließung des Menschen aus der Gesellschaft - eine höchst prägnante Formulierung gefunden: "Der Mensch wird aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben und treibt sich außerhalb herum, in der Wildnis seiner Psyche. Die Psyche gehört nicht zur Gesellschaft (siehe hierzu vor allem: "Gebrauche niemals den Imperativ!").

Zur System-Umwelt-Unterscheidung bei Niklas Luhmann (angelehnt an eine Idee von Arnold Retzer)

Wir unternehmen hier einen erneuten Versuch diese schwierige Vorstellung plausibel und transparent zu beschreiben (siehe vor allem auch: "Die Luhmannsche Lektion"):

Um “Ordnung in die Welt zu bringen” treffen wir Unterscheidungen. Durch die gewählten Unterscheidungen ziehen wir eine Grenze. Wir bezeichnen das Eine und nicht das Andere. Mit den Worten Niklas Luhmanns: “Wir reduzieren auf die uns mögliche Weise Komplexität”. Die folgenden Unterscheidungen beziehen sich auf den Bereich des Lebendigen, des Lebendigen deshalb, weil dies wohl der allgemeinste Begriff ist, mit dem es möglich ist, sowohl über das einzelne Individuum, als auch über die Interaktionssysteme, an denen es beteiligt ist, nachzudenken. Die Grundunterscheidungen, von denen wir ausgehen, lassen sich in Anlehnung an Luhmann bezeichnen als

  • Gelebtes Leben
  • Erlebtes Leben
  • Erzähltes Leben

Wir teilen also das „Individuum“ in drei Teile ein (Trialismus) und unterscheiden damit drei Systemebenen:

Unter “gelebtem Leben” verstehen wir die Biologie, die Physiologie, die Anatomie eines Menschen, also das, was der “Gegenstand” der Mediziner - zumindest in der Ausbildung - ist. Also die anatomischen, die physiologischen Bestandteile eines Menschen – seine Biologie.

Unter “erlebtem Leben” verstehen wir das, was man , je nach Modell, als Bewusstsein, als Psyche oder auch ganz einfach als “Erleben” bezeichnet.

Unter “erzähltem Leben” verstehen wir das, was in die Kommunikation zwischen Menschen eintreten kann. Dies kann eine Erzählung im wörtlichen Sinne des Wortes sein. Es kann aber auch generell das sein, was hervorgebracht wird und von einem Beobachter mit Hilfe von Zeichen beschrieben und mit Bedeutung versehen werden kann. Die Bestandteile des erzählten Lebens sind kommunikative Akte.

Alle drei Phänomenbereiche wirken als Umwelten füreinander. Die Elemente dieser Systeme treten nicht in das jeweils andere System ein, sondern operieren nur jeweils im eigenen, operational geschlossenen Bereich. In allen drei Bereichen findet eine charakteristische Form der Selbstorganisation statt, die als Autopoiese bezeichnet wird. In diesem Prozess vermag ein lebendes System die Elemente, aus denen es besteht, selbst mit Hilfe der Elemente, aus denen es besteht, zu erschaffen.

Diese theoretisch vielleicht merkwürdig erscheinenden und von vielen Menschen abgelehnten Unterscheidungen lassen sich an einem konkreten Beispiel im Hier und Jetzt erläutern. Arnold Retzer skizziert diesen Zusammenhang folgendermaßen:

"Während ich hier zu ihnen spreche, laufen hunderte von biochemischen Prozessen in meiner Leber ab. Diese biochemischen Prozesse in meiner Leber sind Operationen, sind Teile meines gelebten Lebens. Während ich hier zu ihnen spreche, denke ich für mich - wenn ich es nicht aussprechen würde, nur für mich: “Oh, meine arme Leber, was ich der gestern Abend unter Zuhilfenahme von Alkohol und fettem Essen wieder angetan habe.” Dieser Gedanke, nur für mich gesprochen, wäre eine Operation, ein Teil meines erlebten Lebens. Wenn ich ihnen hier ganz offen und freimütig über meine arme Leber etwas erzähle, dann wird daraus ein kommunikativer Akt, also ein Teil (meines) erzählten Lebens. Das wären die drei Teile!"

Er meint - und dies wissen wir aus eigene Erfahrung - dass irgendwas Verbindendes schon da sein sollte, oder da ist, zwischen diesen drei Teilen. Ein Mensch, der keine Anatomie und keine Physiologie mehr habe, bei dem finde weder Erleben noch Erzählen statt; es müsse ein Zusammenhang existieren zwischen diesen drei Phänomenbereichen. In Anschluss an Niklas Luhmann definiert er das Verhältnis, den Zusammenhang zwischen den drei Bereichen als ein Verhältnis von System und Umwelt.

Bezogen auf psychische und soziale Systeme, von denen im übrigen nur letztere die soziologische Beobachterperspektive Niklas Luhmanns interessieren, erscheinen folgende Unterscheidungen bedeutsam:

Psychische Systeme:

  • Operieren im Modus des Bewusstseins (Gedanken produzieren Gedanken im Netzwerk von Gedanken)

Soziale Systeme:

  • Operieren im Modus der Kommunikation (Kommunikationen produzieren Kommunikationen im Netzwerk von Kommunikationen)

Beide Phänomenbereiche wirken als Umwelten füreinander. Die Elemente beider Systeme treten nicht in das jeweils andere System ein, sondern operieren nur im jeweils eigenen, operational geschlossenen Bereich.

 

Ein kleiner Exkurs (aus dem Jahr 2001) Harald Schmidt zu Ehren und in Würdigung meiner Karriere als Nachttischschubladen-Lyriker- oder vielleicht noch ganz anders: Unsere Worte sagen nichts über uns aus und das Beste: Es interessiert niemanden - zumindest erliegt Harald Schmidt - früh in seiner Karriere - einer nachhaltigen Sinnkrise (ausgelöst durch Aufmerksamkeitsverluste), so dass wir 15 Jahre später fast schon fragen können: Wer ist eigentlich Harald Schmidt?

Kennt ihr ein Medium (im Sinne von Verbreitungsmedien), das in unseren Zeiten eindringlicher und penetranter den Modus des Wirtschaftssystems von "Haben und Nicht-Haben" oder etwas operativer von "Zahlen und Nicht-Zahlen" zum öffentlichen Ritual erhoben hat als die Fernseh-Unterhaltung??? Spätestens seit der privatrechtlichen Öffnung von Fernsehen und Rundfunk bestimmen Quotenterror und der ökonomisch ausgefochtene Kampf um Fernsehrechte die Angebote und Strukturen des Radios und der Bildschirme. Als öffentlich-rechtlich Sozialisierter, der noch mit den "Kindern von Bullerbü", "Peterchens Mondfahrt" und "Sport-Spiel-Spannung" á la Sammy Drechsel und Klaus Havenstein groß geworden ist, hängt mein Herz zu einem Fitzelchen immer noch an den fetten Trögen von ARD und ZDF, die uns bald die „dritte Heimat“ (ja, das ist fast 15 Jahre her) bescheren werden. Jawohl – ein klares Bekenntnis zu den hoffentlich noch lange geltenden Privilegien des öffentlich-rechtlichen Fernsehbetriebs.

Andererseits haben die Privaten mit Harald Schmidt die „inkongruente Perspektive“ schlechthin hervorgebracht. Oder ist es wohl umgekehrt? Bei den vom ZDF veranstalteten Mainzer Tagen der Fernsehkritik beispielsweise hat Schmidt sein Medium als „Schrott, Müll und Scheißdreck“ beschimpft (nachzulesen im Spiegel 22/01, 101). Interessant ist aber weniger diese – Schmidts Durchschnittsniveau unterschreitende – Schimpfkanonade als vielmehr die Motive, mit denen Schmidt seine Fernsehaktivitäten begründet. Das Spiegel-Interview titelt mit der Selbstbeschreibung: „Ich mache es gegen die Langeweile“ (was macht der Mann denn heute???) und wartet dann im Verlauf mit grandiosen Paradoxien auf. Verbreitungsmedien wie der Spiegel oder auch das Fernsehen, ein privatwirtschaftlich geführter Sender wie Sat. 1 im Besonderen, sind darauf aus, so könnte man mit Luhmann sagen, die Unwahrscheinlichkeit zu bearbeiten, dass die Kommunikation ihre avisierten Adressaten erreicht; und zwar derer möglichst viele (Quote/Auflage). Und dazu fällt Schmidt, dessen Marktanteile von April 2000 bis April 2001 kontinuierlich von 14 % auf 11 % gesunken sind, in besagtem SPIEGEL-Interview folgendes ein:

„Ich habe heute in der „FAZ“ gelesen, dass jetzt auch mein Sat. 1-Chef Martin Hoffmann zum Intellektuellen abgestempelt wird. Sat. 1 der Intellektuellen-Sender, große Idee: ‚Früher brauchtest du etwas in der Hose, jetzt brauchst du was im Kopf, Sat. 1.’ Aber wäre es nicht besser, so einen richtig irren Chef zu haben, der sich nachts die Sendekassette mit wahnsinnigem Gekreische anschaut, sie dann ins Regal stellt und niemandem mehr zeigt? Oder wenn Rudolf Augstein die neue Ausgabe des SPIEGEL drucken, in LKW packen und dann die ganze Auflage in die Nordsee kippen lassen würde? ‚Ein gigantisches Heft, aber ihr dürft es nicht lesen!“ (SPIEGEL, 22/01, S. 102)

Ja lieber Harald, du überhebliches, ignorantes und gleichermaßen arrogantes Arschloch – ich schätze im Übrigen seine Qualitäten als Entertainer durchaus – das könntest du doch leichter haben: Versuchs doch mal mit Lyrik; die kannst du schreiben und gleich in der Schublade verschwinden lassen, „gigantische“ Lyrik, und du kannst dir ins Fäustchen lachen und dir sagen: „Aber ihr dürft es nicht lesen!“ Was soll eigentlich dieses larmoyante Gejammer über die Untiefen und Seichtigkeiten öffentlichen Broterwerbs im Intellektuellenhabitus?

Ist dies nicht ein grandioser Übergang von der Seichtigkeit der Spaßgesellschaft zu den wahrhaften Anstrengungen der Daseinsbewältigung. An den Rändern der Gesellschaft und mitten in ihr wird noch gedichtet, was das Zeug hält, aber – lieber Harald Schmidt – keiner merkt was davon. Du quotengeiler Fernsehknecht, schau dir doch mal die Auflagen von Lyrik an – selbst in renomiertesten Verlagen ein absolutes Luxusgut, knapp, knapper am knappesten. Mensch Schmidt, hier könntest du dich austoben. Höre, was Peter Fuchs in systemtheoretisch brillianter Diktion dazu sagt: „Das Ereignis ‚Gedicht’ ist abgeschirmt gegenüber der schnellen Zuweisung von bestimmtem Sinn. Zeitaufwendigkeit bezieht sich dann darauf, dass kommunikativen Anschlüssen das Moment einer leichten Identifikation von Fremdreferenz verweigert wird... Die Zeitaufwendigkeit kommt mithin sozial zustande, sie kommt einher als Kommentar, als De-Chiffrierung, als Rekonstruktion eines nicht feststellbaren Sinnes oder auch als ein weiteres Gedicht. Kommunikationsspezialisten sind damit ein Erfordernis, die sich einlassen auf eine Verweigerung und die sich, weil selbst zeitentlastet (wie Wissenschaftler, wie Dichter, wie Kritiker, wie Liebhaber), die Zeit nehmen können, die dieser Sonderdiskurs beansprucht. Es ist ein Diskurs der Langsamkeit, der das Tempo der Moderne nicht teilen kann, die auf schnelle, sofortige, am besten gestrige Anschlüsse setzt (Fuchs/Schmatz 1997).“

Das ist schon eine beeindruckende Vorwegnahme systemtheoretisch angeregter Reflexion über moderne Lyrik oder Lyrik in der (Post)Moderne. Aber ich wusste es schon immer – vor fünfzehn Jahren genauso gut wie heute – wir Hobby- und Feiertagsautoren und –dichter sind die wahren Könige und Königinnen in dieser versandeten, verödeten Gesellschaft, vor unseren Schreibmaschinen, pardon tablets, und vor allem vor unseren Nachttischschubladen, pardon versteckten Dateien: Speichern unter: "Meine Gedichte" - eine kleine, mohnverhaftete Auswahl!

Deshalb gilt es auch für uns Nachtischschubladenlyriker zu bedenken: Wir verlassen die Wildnis unserer Psyche, wenn wir unsre Gedanken aufschreiben auf Papier oder Spuren legen in der virtuellen Cyber-Welt, wie z.B. mit dem Link: Café Hahn-Lyrik 

 

 

 

 

   
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