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Harald Welzer: Biographisches – Kommunikatives – Kulturelles Gedächtnis

Was habe ich mit Vladimir Nabokov gemeinsam? Harald Welzer vermittelt mir am Ende seines X. Kapitels zu seiner Schrift Das kommunikative Gedächtnis (München 2017) den Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis – jenes kulturellen Gedächtnisses,

„das sich Aleida und Jan Assmann zufolge dann zu etablieren beginnt, wenn kein Erzähler mehr existiert, der das in Rede stehende historische Geschehen noch miterlebt hat“.

Und es wird auch klar, was den Unterschied zwischen beiden ausmacht, nämlich wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es bei letzterem deutlich mehr um Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik geht, also vor allem auch um politisch und moralisch definierte Formen der Angemessenheit, wie Harald Welzer feststellt. Er bemerkt nebenbei, man könne sich dies am besten an den Gestaltwandlungen vor Augen führen, die der Holocaust in den letzten Jahrzehnten im kulturellen Gedächtnis erfahren habe. Das kommunikative Gedächtnis ist an Akteure gebunden, an Menschen, die sich erinnern (Akteure II und III) und ihre Erinnerungen in einen kommunikativen Kontext einbringen. Geschieht dies nicht, kommt es zu kommunikativer, und in der Folge zu identitätsbedrohender Atrophie (durch Erzählmangel).

Lautverschiebung (Kapitel 22 aus Kurz vor Schluss – Teil II)

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen – so ist im Kästnerschen Sinne eine eigene lyrische Hausapotheke entstanden. Eine Art Seelenseismograph zeichnet existentiell ausgelöste Eruptionen auf und verdichtet sie zu lyrischen Impressionen bzw. Expressionen; in der Regel entlang wendepunktrelevanter Ereignisse und Geschehnisse. Die weiter unten wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu, eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachterhaltung zweiter Ordnung begründet. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand zu den Geschehnissen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naiv-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reiferen und realistischeren Perspektive weicht.

Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit III - Die Kunst des Vergebens (hier Teil I bzw. Teil II) und die Kunst des  Vergebens (Arnold Retzer)

Hat mir das Treffen am 26. März mit meiner Nichte allein schon durch ihre physische Präsenz – durch ihre schiere Existenz – die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit vor Augen geführt, so führt die sich daran anschließende Auseinandersetzung mit dem Verschwinden meines Bruders aus dieser Welt zu einer neuerlichen Betrachtung der Geschehnisse. Die Schuldfrage steht bis zuletzt und immer noch im Raum. Just in dieser Phase der Auseinandersetzung nimmt Arnold Retzer noch einmal Anlauf und stellt in der aktuellen Familiendynamik (48. Jg. – Heft 2/2023, Seite 92-103 – liegt seit gestern auf meinem Schreibtisch) sein Konzept des Vergebens vor. In der Zusammenfassung wird lapidar darauf hingewiesen, dass Schuld - schuldhaftes Handeln – die notwendige Voraussetzung für den Akt des Vergebens sei. Arnold Retzer selbst leitet seine Überlegungen mit dem Hinweis ein, dass es bei seinem Vorhaben um „einige basale existentielle Phänomene“ gehe – Phänomene, die sowohl in alltäglichen Lebensvollzügen als auch in außergewöhnlichen Grenzsituationen eine bedeutsame Rolle spielen, sowohl in Paar- und Familienbeziehungen als auch in Freundschafts- und kollegialen Beziehungen.

Kindheit im Spiegel von Fotografien

Auch hier ein älterer Text (aus dem Jahr 2021), der mir jetzt beim Durchforsten des Archivs begegnet. Wer wir sind, hängt nabelschnurmäßig mit der Frage zusammen, wer wir waren (oder mit Blick auf unsere Nachkommen, wer wir gewesen sein werden). Wie durch ein Brennglas treten die Antworten auf diese Frage in Erscheinung in all den Facetten, die uns in der Zusammensetzung des Mosaiks unserer Identitätsvorstellungen begegnen. Ob ich dieses Mosaik durch die Brille des Forscherpaares Grossmann/Grossmann betrachte oder durch die intime Brille des Soziologen Karl Otto Hondrich, immer drängt der Blick auf die Beantwortung der Frage, wie es sich schon in unserer frühesten Kindheit verhielt mit dem Urbedürfnis nach Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit und ob all dies dazu angetan war, uns ein Urvertrauen zu gewähren und zu bewahren in unseren sozialen Kernbeziehungen. Allein um der Beantwortung dieser Fragen willen rechtfertigen sich alle Bemühungen, unseren Lebenslauf in gleichermaßen selbstkritischer wie achtsamer Grundhaltung zu betrachten:

Der Elfte im Zwölften - wie der Zwölfte im Elften - sind eingebrannt in mein Gedächtnis. Am 12.11.2021 wäre mein Bruder Willi 66 Jahre alt geworden, am 11.12.2021 jährte sich der Geburtstag meines Vaters zum 99sten mal. Gestern - anlässlich des langen, langen Beitrags über Benjamin List- wurde mir ein unverhofftes Lob zuteil; Claudia lobte meine Art der Bilderfassung und -beschreibung mit Blick auf das Porträt von Benjamin List in der ZEIT. Eine eigene Sprache zum Bild zu entwickeln und buchstäblich zu entfalten liegt mir am Herzen, seit ich versucht habe die Fotos (in: Hildes Geschichte, Seite 200 und Seite 203 mit den jeweiligen Interpretationen - wenn man den Link öffnet, handelt es sich um das zehnte und elfte Foto) zu deuten, die meine Mutter und meine Schwester zeigen - und im Zeittakt ein Foto, das Hilde (unsere Mutter), Theo (meinen Vater) und meine Schwester (vermutlich im Sommer 1948) zeigen, dem Jahr, in dem beide geheiratet haben.

Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit II (hier Teil III)

Die Vorstellung, das menschliche Gedächtnis arbeite wie eine Art Videorekorder gehört erstens in die Mottenkiste der Gedächtnisforschung und müsste sich zweitens erst einmal mit der Frage befassen, was zeichnet denn ein Videorekorder auf bzw. was gibt er wieder? Denn die sprachlich insinuierte Suggestion ein Videorekorder zeichne unbestechlich die Wirklichkeit auf und speichere sie als Erinnerung im Gedächtnis ab – sozusagen als ein akkurates Abbild vergangener Ereignisse – erscheint ja selbst aberwitzig und zeugt von einer vollkommen unangemessenen, unterkomplexen Wirklichkeitsvorstellung.

Das Titelthema der aktuellen ZEIT (14/23) lautet: Die Erinnerung täuscht. Ich knüpfe an meinen letzten Blog-Beitrag an: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit I. Was im Dossier des ZEIT-Autors Bastian Berbner in Frage gestellt wird und – am Beispiel der hier durch Elizabeth Loftus repräsentierten Gedächtnisforschung – gezeigt werden soll, bezieht sich auf den Zusammenhang von Ereignis und erinnertem Ereignis. Dabei schiebt sich bereits höchstrelevant – zum Beispiel in rechtsförmigen Kontroversen – die Frage in den Vordergrund, ob ein Ereignis (als das erinnerte) überhaupt stattgefunden hat. Insofern sind die Erörterungen und Befunde für mich persönlich und unser familiales Erinnerungstrauma relativ irrelevant. Gleichwohl lohnt es, die aktuell weitgehend konsensual vertretene Vorstellung davon, was ein Gedächtnis leistet und wozu es imstande ist, einmal kurz zusammenzufassen:

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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