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Karfreitagsgedanken I

 

Eltern

Es gibt dicke Eltern und dünne Eltern;
Eltern die immer sehr ängstlich und besorgt sind,
und Eltern, denen alles egal ist.
Manchmal fehlt der Vater, der ist tot oder woanders,
manchmal fehlt die Mutter.
Das sind traurige Familien, da gibt es Tränen.
Am besten ist, wenn man außer den Eltern
auch noch einen Großvater hat.
Wenn die Eltern mal böse sind, geht man einfach zum Großvater.

(Walter Kempowski, Herr Böckelmanns schönste Tafelgeschichten)

Der Karfreitag hat mir schon den Traum vom Ewigen Frieden beschert. Karfreitagswetter – etwas trübe und regnerisch – veranlasst mich zum Räumen. Ich komme aber nicht weit. Zufällig fällt mir Pädagogik statt Therapie in die Hände – Rudi Krawitzens Habilitationsschrift (3. Überarbeitete Auflage, Bad Heilbrunn 1997). Und zufällig entdecke ich auf Seite 274 Walter Kempowskis lapidare Absonderungen zu den Eltern, die aber – und das lässt mich ein wenig schmunzeln – mit dem Gang zum Großvater enden (siehe zuletzt: Die Erfindung der Enkel oder: Großväter). Ich blättere vor und zurück und lese mich fest. Auf den Seiten 255ff. vollziehe ich noch einmal nach, was Rudi in den 90er Jahren über Eltern als „überforderte Träger der Erziehung, als Partner pädagogischer Praxis“ geschrieben hat. Es beginnt mit GG, Art. 6, 1, wo zu lesen ist, dass die Familie „unter besonderem Schutze der staatlichen Ordnung“ steht. Rudi Krawitz bezieht sich dann zunächst einmal auf soziologische Befunde, die den extremen Wandel von Aufwuchs-, Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen in den letzten drei Jahrhunderten belegen. Wie drastisch sich dies auch schon vor 30 Jahren ausnahm, mag folgende Auflistung zeigen:

„Nach dem Mikrozensus von 1992 wuchsen in Deutschland (alte und neue Bundesländer zusammen) 3.156.000 Kinder ohne Geschwister auf. Das heißt, unter den 1992 in Deutschland insgesamt erfaßten 23.656.000 Mehrpersonenhaushalten sind 10.050.000 Haushalte ohne Kinder; in 51% der verbleibenden 13.606.000 Haushalte mit Kindern wächst jeweils ein Einzelkind auf (Statistisches Bundesamt 1995). In der Ein-Kind-Familie muß die funktionale Sozialisation, die sonst ganz selbstverständlich zwischen Geschwistern in Gang kommt, durch intentionale Erziehungsbemühungen der Eltern – gewissermaßen kompensatorisch – ersetzt werden.“ (S. 258f.)

Rudi Krawitz schlussfolgert aus den von ihm zusammengetragenen Befunden, dass es heute in jedem Falle dringender denn je notwendig scheint¸

„die Eltern und ihre Kinder, in welchen Formen sie auch zusammenleben mögen, nicht allein zu lassen und durch professionelle Erziehungsarbeit in einer neuen pädagogischen Praxis so wirkungsvoll wie möglich zu unterstützen“.

Im Nachgang und in der Aufarbeitung der Lockdown-Maßnahmen wird diese alte Forderung mit Blick auf Versäumnisse und Verfehlungen gewiss eine neue Dimension erfahren.

Ich stoße auf eine weitere Fundstelle, die mir – als geflügeltes Wort – von Rudi immer nahe gebracht worden ist, und die ich in mein Langzeitgedächtnis übernommen habe. Rudi Krawitz spricht zunächst von der Notwendigkeit Erfahrungsräume (Seite 261-267) zu schaffen. Im Verlauf seiner Ausführungen geht er auf O.F. Bollnows existenzphilosophischen Begriff der Geborgenheit als Gegenbegriff zur Geworfenheit ein:

„Individuelle Geborgenheit zu finden und zu erleben, erfordert neben dem verläßlichen Umgang mit den vertrauten Mitmenschen, vielfältige Möglichkeiten intensiv gelebter primärer Erfahrung innerhalb der durch mitgestalteten Umgang vertraut gemachten Räume. Das ‚Wohnenlernen‘ in einer vielfältig entfremdeten und unwohnlich gewordenen Welt ist für Eltern und ihre Kinder eine erste pädagogische Aufgabe, deren Lösung zu jener Geborgenheit führen könnte, nach wir uns (heim-lich) alle sehnen, als rationalistisch Aufgeklärte jedoch nur ungern bekennen. Josef von Eichendorff hat in seiner romantischen Sprache die Dialektik von Geworfenheit und Geborgenheit in eine auch gerade für unsere Zeit gültige Sprachformel gebracht:

>Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?<

Ja, und auch die Schlussfolgerung mag trivial klingen:

„Damit Kinder lernen können an festen Orten zu wohnen, diese selbst- und mitgestaltend in Besitz zu nehmen, sich einzurichten und dadurch Geborgenheit zu finden, bedarf es erwachsener Vorbilder.“ (S. 264)

Eine weitere zentrale Herausforderung definiert Rudi Krawitz unter der Überschrift Leben begleiten (Seite 267-270). Hier geht es vor allem darum, Kindern „besonders in einer Zeit eines zunehmenden Erlebens von Sinnverlust und eines damit einhergehenden resignativen Pessimismus innerhalb der Erwachsenenwelt Geborgenheit zu vermitteln.“ Die gnadenlosen Zumutungen, die Richard Sennett mit dem Flexiblen Menschen auf den Punkt gebracht hat, markieren den Spannungsraum zu diesem so elementaren Bedürfnis nach Geborgenheit. Auch Rudi Krawitz begibt sich in dieses Spannungsfeld wenn er mutmaßt, was es denn bedeutet, „das Leben der Kinder sensibel zu begleiten“. Es geht seiner Auffassung nach um nicht weniger als „die Strukturen des eigenen Alltags mit den Bedürfnissen und Anforderungen des Alltags der Kinder abzustimmen und möglichst in Einklang zu bringen“.

Noch deutlicher wird das Erfordernis eines Spagats, wenn unter dem Rubrum Integration ermöglichen (Seite 271-274) zu lesen ist: Kinder können von ihren Eltern lernen und erfahren,

  • „daß sie nicht alleine sind und nicht alleine gelassen werden,
  • daß immer andere Menschen da sind, die Zeit haben, sich Zeit nehmen, zuhören, mitgehen, mitdenken oder mithelfen,
  • daß Erwachsene viele Erfahrungen schon gemacht haben und dabei oftmals auch gescheitert sind, aber vielleicht gerade deshalb daran auch wachsen konnten,
  • daß Erwachsene Schwächen und Stärken haben, vor Schwierigkeiten stehen, Lösungen suchen und finden, aber auch besondere Fähigkeiten besitzen, denen man nacheifern kann,
  • daß Erwachsene Mut machen können, bei Schwierigkeiten Unterstützung bieten und helfen können, Notsituationen zu überwinden,
  • daß Erwachsene in Frieden mit sich selbst, mit ihren Mitmenschen und mit der Natur leben können,
  • daß die Begegnung mit den Erwachsenen etwas über die eigene Persönlichkeit offenbart, daß am Du das Ich reift und wächst,
  • daß die Begegnung mit den Erwachsenen auch die vielfältigen Ausprägungen individueller Unterschiedlichkeit von Menschen deutlich werden läßt,
  • daß die Begegnung mit den Erwachsenen ermöglicht, andere so anzunehmen wie sie sind und dabei selber zu erleben, auch ohne Vorbedingungen uneingeschränkt angenommen zu werden.“

Rudi Krawitz vermerkt unmittelbar im Anschluss, dass die pädagogische Realität leider oft genug erschütternd sei, und daß Kinder von ihren Eltern und Erwachsenenvorbildern eher gegenteilige und negative Seiten der oben beschriebenen Verhaltensweisen erführen und lernten.

Eine etwas anders geartete, gleichwohl in die aufgezeigte Richtung weisende Empfehlung hat Karl Otto Hondrich formuliert – gewissermaßen ausgerufen. Auch das ist fast zwanzig Jahre her. Zuletzt habe ich im Verwandtenkreis einem Paar geraten, Arnold Retzers Idee der Vernunftehe zu Rate zu ziehen – ohne die von ihm entwickelte Vorstellung einer resignativen Reife wird man überhöhten Selbstansprüchen gewiss keine Rechnung tragen können. Sehr viel grundlegender setzt sich Eva von Redecker mit der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer Kehrtwende auseinander, die alleine die von Rudi Krawitz formulierten Empfehlungen in ein realistisches Bild rücken, in ein Bild, in dem wir uns die Frage erneut stellen, wer wir sind, was wir wollen und was wir können. Die Von EvR formulierten Gedanken zur Bleibefreiheit empfindet die Mehrzahl der Menschen wohl als Zumutung und Eingriff in ihr Freiheitsverständnis. Die Frage bleibt halt, wie groß der Leidensdruck werden muss, damit der Sloterdijksche Ruf: Du musst dein Leben ändern Resonanz erfährt.

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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