Eva von Redecker - Bleibefreiheit I
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Eva von Redecker stellt sich im Klappentext zu BLEIBEFREIHEIT (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023) als Philosophin und freie Autorin vor. Weiter ist zu lesen, dass sie als Wissenschaftlerin in Berlin, New York und Cambridge tätig war und zuletzt Marie-Sklodowska-Curie-Fellow an der Universität von Verona war. Sie beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik… seit Mai verfasst sie regelmäßig die Kolumne Ohne Geländer im Philosophie Magazin. Es ist zu lesen, aufgewachsen auf einem Biohof lebe sie heute im ländlichen Brandenburg.
Auffällig ist, dass in B L E I B E F R E I H E I T nicht die Rede von Heimat im traditionellen Sinn ist. Ihre Argumentation ist nüchtern und in ihren Grundunterscheidungen messerscharf. Man kann offenkundig in einem radikal veränderten Umfeld mit tiefgreifenden umweltbezogenen Veränderungen eine Idee von Bleibefreiheit entwickeln, die aber so gar nichts mit Heimattümelei zu tun hat.
Ich werde mich Seite für Seite durch diesen nur 159 Seiten umfassenden Essay lesen und ihn in gewohnter Manier kommentieren. Das heißt – wie bereits in den beiden kurzen Beiträgen angedeutet -, dass mir in erster Linie die Parallelen am Herzen liegen, die mein Denken und Fühlen und Schreiben seit Jahrzehnten schärfen, und die in Eva von Redeckers Auslassungen einen systematisch begründeten Werde- und Bleibeort vorfinden.
Die Ankunft der Schwalben (Seite 7-24) könnte uns dazu verleiten, eher eine Heimat in den Blick nehmende und verbürgende Perspektive zu vermuten. Die in den fünfziger und sechziger Jahren Aufgewachsenen – aber auch Eva von Redecker (Jahrgang 1982) werden in der Tat konfrontiert- oder besser im besten Sinne erinnert – mit bzw. an ein(em) Phänomen, dass so selbstverständlich war, dass wir ihm keinerlei Bedeutung zumaßen. Da muss erste eine junge Frau daherkommen, um einem gewohnten, selbstverständlichen Ereignis die Aura des Besonderen, die symbolische Bedeutung eines zeitenwendigen Phänomens zu attestieren. Der erste Satz:
„Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn die Schwalben wiederkommen?“
Erst Das Ausbleiben der Schwalben (Kapitelüberschrift Seite 19) versetzt uns Alte in die Lage, der einleitenden Frage jenes Gewicht beizumessen, das Eva von Redecker selbstverständlich erscheint. Selbstverständlich erschien uns das Selbstverständliche – die Ankunft der Schwalben. Die waren einfach irgendwann da. Eva von Redecker macht uns an der Reaktion Elisabeths – eine Generation älter als sie, ihre ehemalige Geschichtslehrerin – deutlich, was sich zeitenwendenträchtig so ganz en passent ereignet. Sie – Elisabeth – ruft Eva von Redecker im Frühjahr 2022 an:
„Sie kommt, wie ich, von einem Hof in Schleswig-Holstein und lebt in einem Haus mit Scheunenanbau. Elisabeth sprach mit merkwürdig klangloser Stimme, wie aus einer Welt ohne Echo. ‚Eva‘, sagte sie, ‚dieses Jahr sind bei mir die Schwalben nicht gekommen.‘ Stille. ‚Jetzt ist es wirklich vorbei‘, sagte sie, nicht einmal klagend, sondern als lese sie ein Messergebnis ab. ‚Jetzt erwarte ich gar nichts mehr.‘“
Im kleinen Kapitelchen zuvor - Schwindende Welt (Seite 16-19) – verhält sich die umfassend gebildete und informierte Philosophin wie eine Messstation, die nüchtern Messergebnisse vermerkt, wenn auch – wie Dieter Lenzen in Anlehnung an Niklas Luhmann sagen würde: Auch hier kann natürlich jede Repräsentation von Außenwelt nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein. Sie erscheint uns dann entsprechend gefärbt, manchen vielleicht tendenziös, indem sie bereits andeutet, welche Unterscheidungen ihr wichtig bzw. unhintergehbar erscheinen:
„Noch zu meinen Lebzeiten, wenn mir deren volles Maß gewährt sein sollte, werden weite Teile der jetzt besiedelten Erdoberfläche unbewohnbar sein.“
Und auch wenn – wie sie bemerkt – den meisten Menschen die Klimafrage mehr als bewusst sei und sie unterdessen den höchsten Gerichtshof bewege:
„Die Menge des ausgestoßenen CO² steigt jedes Jahr auf einen neuen Höchststand. Wir halten Kurs auf eine Welt mit mindestens vier Grad über vorindustriellen Temperaturen. Regenwälder, Gletscher und Korallenriffe werden verschwunden und der Anteil fruchtbarer Böden drastisch gemindert sein. Auch in den vergleichsweise verschonten Breiten werden Extremwetterereignisse und Überschwemmungen den Alltag heimsuchen, Lagerstätten für Atom- und Giftmüll durchkreuzen, Infrastruktur zerstören und Grundgüter wie sauberes Wasser verknappen.“
Der letzte Satz, den ich hier bewusst abtrenne, bringt gleichermaßen Aspekte von Resignation, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit zum Tragen, die der nüchternen Faktenwiedergabe den emotionalen Backround liefern:
„Wer soll da überhaupt noch zum Aufatmen kommen?“
Aber schon im nächsten Abschnitt wird das Programm kenntlich, was Eva von Redecker in diesem Büchlein verhandeln möchte: „Mich interessieren (allerdings) eher die Werkzeuge, die die Taubheit auflösen. Die Apokalypse ist längst da. Ich schaue bang in den Himmel voller heißer Sommerluft, er ist so leer, dass ich mich inzwischen bereitwillig von einer Mücke stechen lasse […] Das Gefühl einer einstürzenden Welt ist omnipräsent.“
Eva von Redecker verkündet sodann, dass wir nicht einfach im Holozän bleiben, jener freundlichen Epoche, die zwischen zwei weißen Polkappen eine üppige Zahl aufeinander abgestimmter Ökosysteme ermöglicht habe:
"Unser gängiger Freiheitsbegriff ist untauglich für das Anthropozän!"
(jene Epoche, die wesentlich durch die menschliche Einflussnahme auf die Erde geprägt ist).
Die nun einsetzenden Überlegungen erscheinen uns vollkommen ungewohnt. Sie schlagen ein neues Kapitel in der Reflexion über einen tradierten Freiheitsbegriff auf.