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Zur Welt kommen – zur Sprache kommen (im Andenken an meine liebe Tante Annemie)

Der nachfolgende Text dient in erster Linie dazu, eine These zu validieren, die Maximilian Probst in Anlehnung an Heinz von Foerster formuliert (Maximilian Probst Teil III). Er behauptet hier, Heinz von Foerster habe mit seinem neuen ethischen Imperativ – Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst – richtiggelegen, genau wie Nietzsche mit seinem prophetischen Satz: „Vielleicht gab es noch nie so ein offenes Meer.“ Nur – meint Maximilian Probst – müsse man wohl hinzufügen: für Männer. Von Maximilian Probst (1977) trennt mich (1952) eine Generation. Ich gehöre dem Jahrgang 1952 an. Als zutiefst prägend und irritierend – mit Blick auf den gewaltigen, galaktischen Unterschied zwischen Männern und Frauen, was den Möglichkeitsraum angeht – erwiesen sich die Beobachtungen meiner Tante und ihres Schicksals in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren. Vor allem der Titel der nachfolgenden Auskopplung soll signalisieren, dass nur – und ich behaupte: nur und ganz und gar exklusiv – der Zugang zu Bildung gleichbedeutend ist mit dem Sloterdijkschen Versprechen: Zur Welt kommen – zur Sprache kommen (Suhrkamp – Frankfurt 1988). Innerhalb des sozialen Milieus, dem ich entstamme, kam man selbstverständlich zur Welt, aber in den seltensten Fällen zur Sprache. In der Verfügung über welterschließende und weltbeschreibende Sprache manifestieren sich im besten Fall die Aneignung differenzierten Wissens und damit qualifizierte Zugänge zu einer komplexen Welt. Die abschließenden Sätze in Sloterdijks Frankfurter Vorlesungen (Seite 175f.) lauten:

„Meine Damen und Herren, Gedichte und anderes frei Gesagte sind Atemschiffchen, die sich in Offene aussetzen. Daher sind freie Worte wichtiger als große. Doch kommt es vor, daß die freien sich als die großen erweisen. Ein Gedicht von Paul Celan spricht vom Auftauchen des unbedingten eigenen Wortes:

Maximilian Probst: Verbindlichkeit –
Ein Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend (Teil III)

Maximilian Probst widmet das komplette vierte Kapitel seiner Abhandlung über die unzeitgemäße Tugend der Verbindlichkeit der Ehe. Ich stoße auf einen Vertrauten aus der Frühzeit konstruktivistischer Theoriebildung. Probst zitiert Heinz von Foerster mit der ihm zugeschriebenen Formel: Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst – hierin sahen/sehen viele den neuen ethischen Imperativ einer der Freiheit verpflichteten Gesellschaft. Mit dieser Facette einer Vorstellung von Freiheit leitet Maximilian Probst seine Eintragungen zum 18. August ein. Um es kurz zu machen. Man kann lange darüber rätseln, warum Probst Heinz von Foerster just in diesem vierten Kapitel das Wort gibt und dann auch schlussfolgert:

„Heinz von Foerster hat mit seinem neuen ethischen Imperativ richtiggelegen, genau wie Nietzsche mit seinem prophetischen Satz: ‚Vielleicht gab es noch nie ein so offenes Meer.‘ Nur muss man wohl hinzufügen: für Männer (Seite 111 – in der Kreuzstraße 111 wohnte meine Tante Annemie – an ihrem Beispiel mag man nachvollziehen, wie unverzichtbar Maximilian Probst’s Hinzufügung ist).“

Maximilian Probst: Verbindlichkeit -
Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend (Teil I)

Maximilian Probst: (Verbindlichkeit, Hamburg 2017) hat mir vermittelt, dass ich in meiner Mittelmäßigkeit und Langweiligkeit möglicherweise zum Prototypen des Verbindlichkeit verkörpernden Menschen geworden bin. Seine zentrale Frage – konfrontiert mit postmoderner Beliebigkeit – lautet: Worauf kann ich mich verlassen? Verbindlichkeit – Verlässlichkeit als Ankerbegriffe in der Spätmoderne?

Ich versuche es selbst zunächst einmal mit Sprachspielen, da mir beispielsweise mit Arnold Retzer die anspruchsvolle Vorstellung dessen geläufig ist, was unter dem Begriff der Freundschaft verhandelt wird. Freundschaft wiederum – wer würde das bezweifeln – geht nicht in Freundlichkeit auf. Vielmehr schwingen in ihr Vorstellungen von Treue – auch Verbindlichkeit – mit, wie sie nur dem ehelichen Treugelöbnis vergleichbar sind. Nimmt man aber Freundlichkeit, dann gelangt man zu einer Haltung, die durchaus mit Unverbindlichkeit einhergehen kann: Sei freundlich, dann ist man freundlich zu dir! Während Freundlichkeit ein Oberflächenphänomen im Blick hat, geht es bei Freundschaft um alles. Hingegen erwächst – nimmt man Verbindlichkeit näher in den Blick - nicht wie aus der Sprachwurzel des Freundens (Retzer), die zu Freundschaft und Freundlichkeit gleichermaßen hinführen mag, eine ähnliche Differenzierung, die man mit Verbindlichkeit einerseits und "Verbundschaft" andererseits vornehmen könnte. Es gibt kein entsprechendes Substantiv auf Augenhöhe mit der Tiefendimension der Freundschaft. Aber Verbindung, Verbundenheit lassen sich ableiten. Um Verbindlichkeit den Rang einer sinn- und orientierungsstiftenden Idee oder Tugend zuzubilligen, greift Maximilian Probst zu folgender Definition. Er beschreibt Verbindlichkeit als ein Verhalten,

bei dem sich jemand einer Absichtserklärung unterwirft und sich verpflichtet fühlt, diese, so gut es geht, umzusetzen. Die Verbindlichkeit knüpft ein Band zwischen zwei Menschen, oder auch, wenn mehrere derselben Absicht folgen, einen Bund (Seite 24).“

Maximilian Probst: Verbindlichkeit -
Ein Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend (Teil II)

Mit Maximilian Probst (Verbindlichkeit - Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend, Hamburg 2017)) lassen sich die vier Gipfel des Moderne-Massivs lapidar auf den Punkt bringen: „Alles ist künstlich, alles ist käuflich, alles ist verstreut, alles ist rechtlich fixiert (Seite 86).“

Die Dimensionen haben sich allerdings verschoben. In den Jahren nach meiner Lebens-Mitte-Krise habe ich u.a. mit Hilfe Ulrich Becks versucht herauszufinden, wie denn eigenes Leben in dieser sich relativierenden Welt überhaupt noch funktionieren kann. Maximilian Probst zitiert ihn just an der Stelle, wo er meint, dass wir immer noch in der Zeit der universellen Käuflichkeit, Künstlichkeit und Zerstreutheit lebten – lediglich das Vertragsdenken weiche stellenweise auf. Er zitiert Ulrich Beck:

„Heute werden die Menschen nicht mehr aus ständischen, religiös-kosmologischen Sicherheiten in die Welt der Industriegesellschaft, sondern aus der nationalstaatlichen Industriegesellschaft in die Turbulenzen der Weltrisikogesellschaft entlassen (Probst, Seite 89).“

Seit einigen Jahren – Ulrich Beck ist 2015 verstorben – vollzieht sich die Transformation dieser Weltrisikogesellschaft in einer Rasanz – man kann sagen in einer Art hektischer Agonie, die Beck (und Übrigen auch viele andere) vorausgesehen haben. Maximilian Probst selbst hat sie im Übrigen in die Formel gepackt: Umdenken oder untergehen! Dazu später mehr. Da geht es ja um alles! In der Auseinandersetzung mit der (Spät-)Moderne hingegen geht es ja nur um die Frage, „wie man sich allgemein zur Moderne positionieren kann". Maximilian Probst gibt aus seiner Sicht vier mögliche Antworten auf diese Frage:

Erich Kästner in memoriam - Spielerei mit Worten

Die Großeltern haben Besuch (Erich Kästner)

Für seine Kinder hat man keine Zeit.
(Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehen kann.)
Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
dass man die Kinder ungefähr verstehen kann.

Spielt hübsch mit Sand und backt euch Sandgebäck!
Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
als ob man über einen Abgrund weg
in einen fremden bunten Garten sähe.

Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid.

Wir möchten euch auch später noch beschützen.
Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund