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Byung-Chul Han: Das Zuhören ist kein passiver Akt

„Der Terror des Gleichen erfasst heute alle Lebensbereiche. Man fährt überallhin, ohne eine Erfahrung zu machen. Man nimmt Kenntnis von allem, ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen. Man häuft Daten und Informationen an, ohne Wissen zu erlangen. Man giert nach Erlebnissen und Erregungen, in denen man aber sich immer gleich bleibt. Man akkumuliert Friends und Follower, ohne je einem anderen zu begegnen. Soziale Medien stellen eine absolute Schwundstufe des Sozialen dar.“

Damit hat Byung-Chul Han 2016 meinen Blick auf eine sich rasant verändernde Gesellschaft geschärft. Seine pauschale Kritik – überschrieben mit dem Signum eines Terrors des Gleichen – beflügelte meine Streitbarkeit im letzten Jahr meines aktiven Berufslebens ebenso, wie mir die drohende Versetzung in den Ruhestand schließlich wie eine Erlösung zukam.

Die Austreibung des Anderen – Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute nennt Byung-Chul Han seine Essay-Sammlung, die 2016 bei S. Fischer erschienen ist. Die letzten neun Seiten tragen den Titel Zuhören (Seite 63-102):

„In Zukunft wird es womöglich einen Beruf geben, der Zuhörer heißt.“

Gespeist von der Not, dass es sonst kaum jemand mehr gibt, der dem Anderen zuhört, sieht Han die Kehrseite der sozialen Medien nüchtern  und abgeklärt. Er sieht eine atemberaubende Fokussierung auf das Ego – verkörpert in Narziss, der die liebende Stimme der Nymphe Echo nicht hören könne; sie gerät ihm zur schalen Wiederholung der eigenen Stimme. Im eigenen immerwährenden Posten und Inszenieren verliert sich ein wechselseitig lebendiger Resonanzboden im Akkumulieren von Friends und Followern.

„Das Zuhören ist kein passiver Akt.“

Ich höre zu – auch wenn mein Gegenüber jeweils weit, weit fort ist oder gar, wie in einem meiner nächsten geplanten Beiträge schon gestorben ist. Aber was heißt das schon – wie im Falle Karl Otto Hondrichs (*1937 +2007), dessen Rufe uns heute vorkommen müssen, wie die Eingebungen eines Sehers, der all das, was heute im Kleinen wie im Großen unser Miteinander bestimmt, voraussehen konnte. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

Byung-Chul Han meint, eine besondere Aktivität zeichne das Zuhören aus:

„Ich muss zunächst den Anderen willkommen heißem, das heißt den Anderen in seiner Andersheit bejahen. Dann schenke ich ihm Gehör. Zuhören ist ein Schenken, ein Geben, eine Gabe […] Das Zuhören bringt den anderen erst zum Sprechen.“

Das Akkumulieren von Friends und Followern hingegen ist nur scharf auf’s Echo – Qualität verliert sich in Quantität. Eine – wie Han sagt – verantwortliche Haltung gegenüber dem Anderen drücke sich in Geduld aus:

„Die Passivität der Geduld ist die erste Maxime des Zuhörens.“

Die Kultur des Gefällt-mir lehne jede Form der Verletzung und Erschütterung ab – Verletzung, Erschütterung??? Ja, Byung-Chul Han vertritt die Auffassung, dass, wer sich ganz der Verletzung entziehen wolle, nichts erfahre:

„Jeder tiefen Erfahrung, jeder tiefen Erkenntnis wohnt die Negativität der Verletzung inne. Das bloße Gefällt-mir ist die absolute Schwundstufe der Erfahrung.“

Dahinter stehen elementare Unterscheidungen, die durch die digitale Revolution scharf gestellt werden:

„In der analogen Kommunikation haben wir in der Regel einen konkreten Adressaten, eine personales Gegenüber. Die digitale Kommunikation fördert eine expansive, entpersonalisierte Kommunikation, die ohne personales Gegenüber, ohne Blick und Stimme auskommt. Auf Twitter etwa senden wir ständig Botschaften. Aber sie sind nicht an eine konkrete Person gerichtet. Sie meinen niemand. Soziale Medien fördern nicht unbedingt Diskussionskultur. Sie sind oft affektgesteuert. Shitstorms sind eine ungerichtete Flut von Affekten, die keine Öffentlichkeit bildet.“

Gemeinschaft als Zuhörerschaft: Die wichtigste These: „Das Zuhören hat eine politische Dimension. Es ist eine Handlung, eine aktive Teilnahme am Dasein Anderer und auch an deren Leiden.“

Was uns heute gewiss als unzureichende Vorstellung vorkommt, nimmt bei Byung-Chul Han noch 2016 zweifelhafte Gestalt an, nämlich dass jeder irgendwie mit sich, mit seinem Leiden, mit seinen Ängsten alleine sei. Das Leiden werde privatisiert und individualisiert, jeder schäme sich, beschuldige nur sich selbst für seine Schwäche und Unzulänglichkeit. Hätte Byung-Chul Han hier nur alle Argumente auf seiner Seite! Gewiss sind wir längst wieder an einer Schwelle angelangt, wo das eigene Leiden ursächlich auf Sündenböcke projiziert wird. Der Zusammenhang zwischen eigener Unzufriedenheit und eigenen Erwartungshorizonten wird gegen jene abgeglichen, die als Migranten in unsere Sozialsysteme einwandern oder die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit wieder einmal für das die Ungerechtigkeit der politischen Weltläufte einstehen sollen.

Politisierung bedeute eine Übersetzung des Privaten ins Öffentliche. Byung-Chul Han hingegen sieht zuvorderst, dass die Öffentlichkeit zu Privaträumen zerfalle. Und der politische Wille, einen öffentlichen Raum, eine Gemeinschaft des Zuhörens zu begründen, schwinde radikal. Byung-Chul Han sieht in den sozialen Medien vorrangig das Ausleben eines autistischen Narzissmus. Er spricht von Ausstellungsräumen des Ich, in denen man vor allem für sich selbst werbe. Und: „Keine Reklame hört zu.“

So weit so gut. Aber wo ist die Lösung, die Perspektive, eine Idee, die uns gleichermaßen zur Besinnung wie zu einer neuen, lebbareren Identität führt? Byung-Chul Han bemüht niemand geringere als Michael Endes Momo. Sie steht ihm für eine „Ethik des Zuhörens“. Reicht dies für einen neuen Mythos, gar für eine neue Mythologie?

„Momos Zeit ist eine besondere Zeit. Sie ist die Zeit des Anderen, nämlich die Zeit, die sie Anderen gibt, indem sie ihnen zuhört …] Momo sitzt nur da und hört einfach zu. Ihr Zuhören bewirkt aber Wunder. Sie bringt Menschen auf Gedanken, auf die sie nie allein gekommen wären.“

Hören wir Michael Ende einmal zu. Byung-Chul Han zitiert folgende Stelle:

„Dabei schaute Momo den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten. […] Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin erzählte das alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, daß er sich gründlich irrte, daß es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und daß er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören.“

Byung-Chul Han spricht von einer tauben, lärmenden Müdigkeitsgesellschaft. Er hofft, nein, er plädiert für eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden. Im Gegensatz zur Zeit des Selbst, die uns isoliere du vereinzelne, stifte die Zeit des Anderen eine Gemeinschaft.

Alle Gemeinschaft im Sinne Byung-Chul Hans beginnt mit der Urgemeinschaft, mit der Urerfahrung, die im besten Fall zum Urvertrauen der (noch) Hilflosen führt; eine urvertrauliche Bindung schafft, die in wahrer Gemeinschaft aufgehen kann. Geht hier im krassesten Fall alles schief, beginnt die Geburt der Monster. Keiner glaube doch, dass ein Adolf Hitler, ein Josef Stalin, ein Wladimir Putin ein gutes Kind im Sinne von Carlos González gewesen sein kann. Nur ein deprivierter, hospitalisierter emotionaler Krüppel kann Tag und Nacht Raketen auf wehrlose Zivilisten abfeuern lassen – und dies, ohne die Legitimation eines 7. Oktober! Mit Klaus Theweleit und Carlos González geht es deshalb in der Folge auch noch einmal um die steile These der Nicht-Zu-Ende-Geborenen. Nur sie macht das Unerklärliche erklärlich, wie es möglich ist dem von Byung-Chul Han beschworenen Anderen mit Verachtung, Hass und Vernichtungswillen zu begegnen. Und ich räume ein - auch nach der Lektüre von Adornos Erziehung nach Auschwitz -, dass die Verbrechen der Deutschen im Zuge des Holocausts mit Theweleits Erklärungsansatz auch nur bedingt zu erklären sind; vielleicht - um wiederum Adorno ins Spiel zu bringen - benötigt man die Kombination mit dem autoritären Charakter.

Veröffentlicht: 19. September 2021 (Aktualisierungen farbig abgehoben)

Carlos González: In Liebe wachsen

So lautet der Titel eines von Carlos González verantworteten Buches, das er mit dem Untertitel versieht: „Liebevolle Erziehung für glückliche Familien“ (2005 erschienen, liegt es mir in der 8. Auflage aus 2019 vor). Ich habe es quergelesen, während ich bei meinen Enkelkindern wachte. Der eine (28 Monate alt) versah seinen Mittagsschlaf. Für meine Eneklin hatte ich die Hängematte so hergerichtet, dass sie gleichermaßen entspannt und sanft schaukelnd vor sich hin schlummerte – ein und eine halbe Stunde lang.

So konnte ich tatsächlich querlesen und eine Menge Eindrücke gewinnen und sie mit meinem eigenen Erfahrungsraum abgleichen. Dies kam einer über alle Maßen stimmigen Wohltat gleich. Wohltaten kann man erst erkennen – sowohl in ihrem Ausmaß als auch in ihrer Relativität – wenn sie in Kontraste eingebettet sind, wenn sie sozusagen Gegenwelten markieren:

So beginne ich meine Würdigung der Aussagen und der Vorgehensweise von Carlos González mit einem Extrembeispiel. Vermutlich wünschen die meisten vons uns für ihre Kinder einen Rahmen, wie er von Carlos González skizziert wird. Wir wünschen ihnen gleichermaßen herbei im Abgleich mit dem, was wir als unsere Kindheit erinnern. Vieles von dem, was schief gelaufen ist und uns häufig quer kommt im Leben, erklären wir - nicht nur küchenpsychologisch - häufig genug mit einer schrägen oder düsteren Kindheit. Eine Extremvariante einer fehlgeleiteten und gleichermaßen menschenunwürdigen wie menschenverachtenden Konfiguration von Erziehung ist mir im Kontext von Klaus Theweleits Männerphantasien begegnet. Es ist sicherlich hier nicht angemessen von Erziehung zu sprechen. Es geht um ein Spektrum, das einerseits charakterisiert ist durch Defizite und Versäumnisse - manchmal, weil die Beteiligten es nicht besser wissen, nicht besser können. Andererseits - und darüber spricht González in Kapitel 3 - geht es um programmatische, ideologisch ausgerichtete Erziehungsgrundsätze, wie sie von Johanna Haarer im Kontext nationalsozialistischer Erziehungsprinzipien vertreten wurden (siehe auch den/die Links im Kontext des nachstehenden ZEIT-Interviews mit Klaus Theweleit). Die steilste von Theweleit vertretene These, die ich je wahrgenommen habe zur Erklärung einer vollkommen menschenfeindlichen, empathielosen, rassistischen, gewaltorientierten, homophoben Grundhaltung, wie sie uns in den Attentätern von Oslo/Utoya (Anders Brevik), Halle, Hanau oder Christchurch begegnet, liegt - ich lehne mich mit Theweleit weit aus dem Fenster - in der zentralen Figur eines Nicht-zu-Ende-geboren-Seins begründet:

Antonia Baum arbeitet in einem ZEIT-Interview mit Klaus Theweleit die zentrale Argumentationsfigur heraus, nach der es bei alledem um die Konsequenzen eines Nicht-zu-Ende-geboren-Seins gehe. Statt Beziehung werde ein Panzer ausgebildet, um realitätstüchtig zu werden und das angsterfüllte, instabile Innere im Zaum zu halten. Theweleit dazu:

"Dadurch kann die Ich-Struktur nicht entstehen, also dass ich weiß, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Deswegen findet der soldatische Mann Drill und Hierarchien so wichtig. Weil sie ihm Körpergrenzen verpassen. Er muss wissen, wo oben und unten ist, und wenn sich da was ändert, fühlt er sich bedroht, und im schlimmsten Fall fordert er, dass das, wovon er sich bedroht fühlt, entfernt wird. Und aus diesem Grund sage ich, Faschismus ist primär keine Ideologie, sondern ein Körperzustand. Die Ideologie ist Schwachsinn und als solcher nur aufgeklebt."

Warum dieses Extrembeispiel? An Carlos González Gesamtkonzeption beeindruckt und irritiert gleichermaßen die Tatsache, dass er die Hälfte seines Buches - den dritten Teil - unter der Überschrift zusammenfasst: "Theorien, denen ich nicht zustimme". In dieser kontrastreichen Auseinandersetzung liefert er (mir) eine Fülle von Argumenten und Belegen für eine radikale Abgrenzung gegenüber einer schwarzen Pädagogik, die von "faschistischer Erziehung" bis zur Auseinandersetzung mit Positionen geht, die sich mit Weinen als Therapie oder mit Reinlichkeitserziehung und anderen kontroversen Erziehungsfragen beschäftigen; eine tour-de-force durch vermintes Gelände.

"O Herr! Mit dieser heidnischen Mannschaft zu segeln, die so wenig Zärtlichkeit von einer menschlichen Mutter empfangen hat! Das von Haien verseuchte Meer hat sie geboren (Herman Melville, Moby Dick)."

Mit diesem Zitat beginnt González seine Auslassungen zu: "Im Schoß der Menschheit"  (S.46-47). Darunter gibt es einen kleinen Absatz:

"Für einen einzelnen Menschen ist es schwierig, eine lange Zeit seine Kinder zu versorgen, zu ernähren und zu beschützen. Mütter brauchen die Hilfe ihrer Familie (Vater, Großeltern, Onkel, Tanten und ältere Geschwister) und der gesamten Gemeinschaft, des ganzen Stammes. In allen menschlichen Kulturen bleibt der Vater jahrelang bei der Mutter und hilft ihr, ihre Kinder zu beschützen und zu ernähren [...] Selbst in den Gesellschaften, in denen der Männlichkeitswahn am stärksten ausgeprägt ist, wird ein Mann, der sich nicht um den Unterhalt seiner Familie kümmert, von seinen Kameraden verachtet."

Läuft in dieser Grundkonstellation des Ernährens und Beschützens (dazu später mehr) etwas schief - läuft etwas sehr grundlegend und nachhaltig schief -, kann man die Folgen anhand verquerer, belastender, teils destruktiver Familiendynamiken (und aus ihnen u.U. hervorgehenden pathologischen, v.a. aber häufig emotional gestörten Verhaltensmustern) beobachten. Carlos González stellt von vorne herein klar:

"In dem Buch, das Sie in Händen halten, suche ich nicht nach dem 'goldenen Mittelweg', sondern beziehe klar Stellung. Die Inhalte dieses Buches beruhen auf meiner Überzeugung, dass Kinder im Grunde gut sind, dass ihre emotionalen Bedürfnisse wichtig sind und dass wir Eltern ihnen Liebe, Achtung und Aufmerksamkeit schulden."

Häufig hilft es mir, ein Buch von hinten aufzuzäumen. In seinem Nachwort "Der glücklichste Tag" konzentriere ich mich auf das von Carlos González wiedergegebene Beispiel aus seiner ausgehenden Kindheit. Er ist bereits zwölf Jahre alt, als ihm folgende singuläre Erfahrung zuteil wird - zumindest bewertet er sie rückblickend genau so:

"Ich erinnere mich an einen Nachmittag... als ich zwölf Jahre alt war. Gelangweilt schlenderte ich ziellos durchs Haus. Meine Mutter erwischte mich und sagte: 'Komm, setz dich auf meine Knie wie damals, als du klein warst.' Ich kann mir vorstellen, dass ich wohl vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre, aber an die Scham kann ich mich nicht erinnern. Ich erinnere mich stattdessen daran, dass sie ganz sanft zu singen begann:

Weißt du, wie viel Sternlein stehen,
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen,
weithin über alle Welt?
...

Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß, und mich erfüllte unendlicher Friede. Ich schlief beinahe ein. Es war, als sei ich wieder zwei Jahre alt. Die meisten Menschen haben keine Erinnerung an ihre ersten Lebensjahre. Ich weiß, was ein Baby in den Armen seiner Mutter fühlt, denn ich hatte das unerhörte Privileg, im Alter von zwölf Jahren noch einmal eine halbe Stunde lang ein Baby zu sein."

Ich kann mir vorstellen, wie sich in Lesern dieser kleinen Geschichte Scham und Betroffenheit breit macht; eine Scham, die - ähnlich wie bei Carlos González - eine ähnliche singuläre Erfahrung zum Hintergrund hat oder doch vielmehr eine Betroffenheit und eine Scham, die verdeutlicht, wie diese Geschichte unerfüllte Sehnsüchte weckt; eine Scham, die uns erinnert (möglicherweise quält), weil sie ein ungestilltes Verlangen nach liebevoller Geborgenheit und Zugehörigkeit wachruft.

Die Beglückung durch die Erfahrung einer Großvaterschaft, in der sich die einerseits genau diese Erfahrungswelt auf eine ungemein dichte Weise spiegelt, deckt sich mit den Empfindungen von Carlos González. Ein Andererseits ruft in mir die Scham wach, 1997 meine Familie und damit meine Kinder für ein halbes Jahr im Unklaren gelassen zu haben, ob wir eine Familie bleiben, in der Geborgenheit, Zugehörigkeit und Entschiedenheit die Richtung vorgeben. Jahre später, als meine Mutter starb, war diese Frage beantwortet, und was dem 12jährigen Carlos widerfuhr, widerfuhr mir - in jener Erfahrung, mit der sich der Kreis schloss, da ein von seinen Eltern bedingungslos geliebtes Kind - im Alter von 51 Jahren Abschied von seiner Mutter nimmt (der Abschied vom Vater war bereits 1988 unabwendbar):

Am 21.7.2003 findet sich folgender Eintrag im Sterbetagebuch meiner Mutter: "Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter! Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke."

Sich im langen Abschied weder seiner Tränen noch seiner haltlosen Trauer zu schämen bedeutet die Entsprechung zu einer Erfahrungswelt, die einem als Kind in Gestalt vorbehaltlos und bedingungslos liebevoll zugewandter Eltern zuteil geworden ist. Kommt jemand zu der (für sich) begründeten Überzeugung, genau dieses Fluidum, das für die Ausbildung eines nachhaltigen Urvertrauens unabdingbar ist, entbehrt zu haben, kann er viele seiner Vorbehalte, seiner Enttäuschungen - viele Grunderfahrungen seines persönlichen Scheiterns, seines Misstrauens, möglicherweise seiner Unfähigkeit zu vertrauensvoller und nachhaltiger Bindung in einen gleichermaßen gediegenen wie bitteren Verstehenshorizont überführen. Graduell abgestufte Erfahrungen von Missachtung, emotionaler Vernachlässigung - gar von Missbrauch und Demütigung sind häufig genug der Nährboden für individuelles Scheitern bis hin zum offensiven, gewaltbereiten Ausleben eines nie gefühlten positiven Selbstwerts; aus der strukturell verankerten Unfähigkeit zur Selbstliebe resultieren häufig genug die Neigungen alle Unbill und alle Zumutungen der Welt ursächlich auf die Anderen/das Andere zu projizieren. Hierher gehören die intuitiven Strategien einer Externalisierung, die grunsätzlich die Anderen/das Andere für das eigene Elend und das eigene Scheitern verantwortlich machen. Und hieraus gewinnt im Extremfall die Beobachtung bzw. die Hypothese Klaus Theweleits (siehe oben) ihre traurige Plausibilität.

Zurück zu Carlos González: Er hat die Angwohnheit seine Unterkapitel mit Zitaten einzleiten:

  • Was haben die Kinder, dass wir sie so küssen, sie umarmen, sie so bemuttern [...]? Erasmus von Rotterdam, 'Lob der Torheit'
  • Wie glücklich ist der Mensch über den sich wie himmlischer Tau die Küsse seiner Eltern ergossen haben! Armando Palacio Valdés, 'Testamento literario'
  • O Herr! Mit dieser heidnischen Mannschaft zu segeln, die so wenig Zärtlichkeit von einer menschlichen Mutter empfangen hat! Hermann Melvill, 'Moby Dick'
  • Kein Zweifel, niemand kann die Angst und den Schmerz jenes unglücklichen Kindes lindern, dessen Mutter nicht auf seinen Weinen reagiert. Fernán Caballero, 'La noche de Navidad'
  • [...] löst ein plötzliches Entsetzen aus, so wie man sich vorstellt, dass das Herz eines verlorenen Kindes schlägt. Charles Dickens, 'Eine Geschichte aus zwei Städten'
  • Das kleine Kind weiß nichts von elterlicher Liebe; es kennt nur ein Angesicht und einen Schoß, in deren Richtung es seine Arme streckt und Zuflucht sucht. George Elliot, 'Silas Marner'
  • Manche Frauen hielten Säuglinge im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd. Franz Kafka, 'Der Prozess'
  • [...] dieses Entsetzen, das Kinder befällt, wenn sie nachts oder alleine aufwachen. Alexandre Dumas, 'Zwanzig Jahre danach'
  • Und wenn sie Säuglinge haben, die laut weinen, geht dir da kein Stich durch das Herz? Victor Hugo, 'Notre Dame de Paris'
  • Aber - platzte er entrüstet heraus - schlafen diese so kleinen Kinder hier in Mailand denn nicht bei ihren Eltern? Wer sorgt denn dann für sie? José Luis Sampedro, 'Das etruskische Lächeln'
  • Mutter! Komm! Beschütze mich! - Ja, mein Liebling, ich beschütze dich. Victor Hugo, 'Notre Dame de Paris'
  • Polly weigerte sich rundweg, neue Welten zu erkunden, bis sie sich sicher war, dass sie zum Alten zurückkehren konnte. C.S. Lewis, 'Der Neffe des Zauberers'
  • [...] in der Tat weiß ich nicht, wozu man Kinder haben sollte, wenn man ihnen nicht vertrauen könnte. Charles Dickens, 'Nicholas Nickleby'
  • Wenn es jetzt nicht weint, weint es ewig grundlos. Torquato Tasso, 'Jerusalem leberada'

Mit diesen Zitaten leitet Carlos González die Unterkapitel des zweiten Teils ein, in dem er seine Position zu bestimmten Erziehungsfragen bzw. -themen begründet und erläutert. Die Zitate zum dritten Teil, in dem er sich abgrenzt bleiben hier vorläufig außen vor. Sie werden eine Rolle spielen, um die These Theweleits vom Nicht-zu-Ende-geboren-Sein zu unterfüttern.

 

   
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