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Andreas Reckwitz: Verlust – Ein Grundproblem der Moderne (Suhrkamp Verlag, Berlin 2024) und Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens (Suhrkamp Verlag Jüdischer Verlag, Berlin 2024) - in progress

Teil I: Andreas Reckwitz: Verlust - Ein Grundproblem der Moderne:

„Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind.“ (Siddhartha Gautama)

In seiner Einleitung beginnt Andreas Reckwitz mit Tuvalu: Tuvalu versinkt im Meer – ein besonders plastisches Beispiel  für die Schädigungen, die der Klimawandel global bewirke. Er versteht sein Buch als einen Beitrag zur Theorie der Moderne. Reckwitz stellt seinem Buch acht Episoden voran – er spricht von Befunden aus der Gegenwartsgesellschaft. Sie alle drehten sich um Verluste. So zum Beispiel um Folgen des Klimawandels, die Verfestigung negativer Zukunftserwartungen, um postindustrielle Modernisierungsverlierer, um den Umgang mit historischen Wunden, den Umgang mit individueller Verletzlichkeit, Populismus, rückwärtsgewandte Nostalgievorstellungen oder Resilienz. Verluste seien im Zentrum der Moderne angekommen.

Gesellschaft muss darauf reagieren: „Es werden politische und kulturelle Formate entwickelt, die auf Verlusterfahrungen antworten, sie transformieren oder versuchen, sich gegen sie zu wappnen.“ (Seite 14) Dies geschehe – so Reckwitz - in aller Ambivalenz. Entsprechende Reaktionsmuster sind uns allen mehr als geläufig. Ihm gehe es um eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft unter dem Aspekt, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befinde:

„In Sachen Erkenntnis ebenso hinderlich wie ein Negativismus ist die Einstellung der Abwehr, wenn man also von Verlusten nichts (mehr) hören will, sie aktiv ausblendet. Verluste sind ein unangenehmes Thema, nicht selten – insbesondere, wenn sie das Scheitern im persönlichen Leben betreffen – mit Scham verbunden oder mit einem Tabu belegt, über das man lieber den Mantel des Schweigens breitet.“ (Seite 15)

Reckwitz konstatiert, es gebe bislang keine systematische Soziologie des Verlusts: „Die individuellen und kollektiven Verlusterfahrungen, die sich inmitten der Modernisierung – oder trotz dieser – ausbilden, bleiben in der Fortschrittsperspektive hingegen eine Leerstelle.“ (Seite 16)

Im Gegenteil: Reckwitz versucht zu beschreiben, wie – und mit welchen Mitteln – die Moderne Verluste unsichtbar macht:

Die narrativ- diskursive Relativierung kann von zweierlei Art sein: Die kognitive Relativierung minimiert den faktischen Stellenwert der fraglichen Verluste für die Gesellschaft oder das subjektive Leben, indem diese in eine >weite Perspektive< auf die Gesamtheit der sozialen Welt oder den Lebenslauf eingebettet werden. Aus größerer Distanz erzählt man so eine andere Geschichte: keine Verlust-, sondern eine im Kern modifizierte Fortschrittsgeschichte mit kleinen >Kratzern< und >Dellen<. In der Totalen eines modifizierten Fortschrittsnarrativs schrumpft auf diese Weise der Stellenwert der fraglos vorhandenen Verluste.“ (Seite 202)

Für den subjektiven  und individuellen Umgang mit Verlusten scheint mir das, was Reckwitz normative Relativierung nennt, noch weitaus bedeutsamer und folgenreicher:

In der normativen Relativierung erscheint es hingegen nicht legitim, die Verluste als solche überhaupt zu betrauern.“ (Ebd.)

Ich reichere an der Stelle die Ausführungen von Andreas Reckwitz mit einem eigenen Gedicht an (siehe Ende des Beitrags), da mir aufgrund seiner Herleitungen übergroß vor Augen steht, dass das von mir don’t ask – don’t tell genannte Gedicht eine Konsequenz aus dieser Verlustinvisibilisierung beschreibt, der Reckwitz folgerichtig im Rahmen des Zweiten Teils Die Verlustparadoxie der Moderne unter Punkt 6 Wie die Moderne die Verluste bearbeitet ein eigenes Teilkapitel einräumt - er nennt es: Komplizierte Trauer: Die (Psycho-)Therapeutisierung der Verluste. Denn wenn Menschen durch nicht enden wollendes Trauern in ihrem Leben dauerhaft beeinträchtigt seien, bleibe häufig genug nur der Weg in die Psychotherapie. Nimmt man Reckwitzens These beim Wort, die davon ausgeht, dass die moderne Gesellschaft Verluste unsichtbar macht, dann benötigt sie für Mitglieder dieser Gesellschaft, die damit nicht klar kommen Bearbeitungs- bzw. Beratungsmodi:

„Das psychologische Wissen ist mehr als ein hochspezialisierter wissenschaftlicher Diskurs. Abgesehen davon, dass es im medialen und intellektuellen Feld breit zirkuliert, stellt sich dieses Wissen seit Beginn des 20. Jahrhunderts (und verstärkt in der Spätmoderne) als das zentrale diskursive Feld dar, in dem das moderne Subjekt Begriffe und Zusammenhänge lernt, um sich selbst zu verstehen, zu steuern und zu transformieren.“ (Seite 259)

Spätestens hier wird dann deutlich, dass die psychotherapeutische Perspektive – wie Reckwitz schlussfolgert – eine grundsätzliche Individualisierung der Verlusterfahrungen betreibe. Dazu passt eine entsprechende Rahmung erwarteter Lernanforderungen der modernen Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern. Wenn auch die Verlustereignisse selbst irreversibel und damit „gesetzt“ seien – die emotionalen und kognitiven Muster des Umgangs mit ihnen würden hingegen aus der Sicht des psychologischen Diskurses als reversibel betrachtet!

Im Grunde genommen setzt die Individualisierung von Verlusterfahrungen auf erwartete und letztlich – fürs Überleben – alternativlose Lernleistungen (siehe dazu die Bemerkungen zu Zygmunt Bauman - im Rahmen dieses Beitrags Teil II): Schon die allererste Aufgabe, die sich dem Subjekt stelle, sei eine in Reaktion auf einen Verlust, den des Mutterparadieses.

„Menschen müssen also bereits in ihren ersten Lebensjahren lernen, mit Verlusterfahrungen und Verlustängsten umzugehen, das heißt: Sie müssen die Balance zwischen Loslösung, Individuation und Bindung finden. Die Art und Weise, wie diese Aufgabe vom Kinde gelöst wird, hat beträchtliche Folgen für seine Persönlichkeitsentwicklung und ergo sein Leben im Erwachsenenalter, spezielle auch seine Verlustbearbeitunskompetenz.“ (Seite 262)

Andreas Reckwitz begibt sich auf ein Terrain, das von problematischen Prägungen in der Zeit der Individualentwicklung spricht. Verlustprobleme ergäben sich vor allem in den Fällen, in denen das Kleinkind (aus welchen Gründen auch immer) unter chronischer Verlustangst litt oder erst gar keine stabile Bindung knüpfen konnte. Im Umkehrschluss kann dies nur bedeuten, dass „die Fähigkeit, mit Verlusten umgehen zu können, als zentrale Kompetenz“ erscheint. Mehr noch: Über die Behandlung verlustbezogener Krankheitsbilder hinaus würden aus der Sicht der Psychotherapie Entwicklungschancen für eine Persönlichkeit sichtbar, der es dann gelänge, gut mit Trennungen umzugehen. Auch dies lässt sich noch zuspitzen, indem – wie Reckwitz zeigt – „Trennung“ als ein neutraler psychologischer Begriff gedeutet werde, der nicht zwingend die Negativität der Verluste enthalten müsse:

„Trennungen maximal souverän vollziehen zu können, kann dann als Qualität einer gefestigten, ich-starken Persönlichkeit erscheinen. Ja, vielleicht muss die Trennung auch gar nicht als Verlust gedeutet werden, sondern könnte als ein aktiv herbeigeführter Verzicht gelesen werden, der auch einen Gewinn verspricht.“ (Seite 265)

Mir fällt dazu nur ein, dass eine solche Kompetenz im Sinne eines psychischen Wachstums Grenzfälle eines erwachsenen Umgangs mit Trennungsprozessen zu charakterisieren vermag. Kindliche und frühkindliche Persönlichkeitsentwicklung bedarf hingegen stabiler Bindung und Zugehörigkeit, die gerade im Verlauf eines Trennungsgeschehens für Kinder häufig massiv in Frage stehen.

Mir fällt auf, dass Andreas Reckwitz zwar ein umfangreiches Literaturverzeichnis ausweist mit einem ebenso hilfreichen Register; ein Rekurs auf die von Karl Otto Hondrich Ende der 90er Jahre vorgelegten Analyse zu einer Vielzahl von Individualisierungsaspekten fehlt an dieser Stelle. Der paradoxe und unter Vorbehalten in den Diskurs eingeführte Imperativ: Rauft euch zusammen! exemplifiziert sowohl eigene Verstrickungen im ganz normalen Beziehungschaos als auch die Hilflosigkeit insbesondere im Blick auf betroffene Kinder.

Wie nimmt sich an dieser Stelle der Ruf aus, der an das gute Leben appelliert?

„Die Glücksforschung bestätigt, was Erich Fromm vorausahnte. In einer Langzeitstudie haben Wissenschaftler:innen der Harvard University herausgefunden, dass es einen generalisierbaren Faktor gibt, der sich als der wichtigste für ein glückliches Leben herausstellt: Es sind gute Beziehungen zu unserer Familie und unseren Freund:innen, zu Kolleg:innen und Nachbar:innen […] Es ist also das Sein, weniger das Haben, das uns zu dauerhaft glücklichen Menschen macht […] Was der Mensch braucht, ist die Gewissheit, in Beziehung zu sein. Als soziale Wesen brauchen wir einander – das beginnt etwa mit einem unverbindlichen Gespräch in der Tram und endet in der gegenseitigen Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen der jeweils anderen Person. Der Begriff, der dieses menschliche Urbedürfnis auf den Punkt bringt, ist Fürsorge.“ (Konieczny/Stoßberger: Arbeit und das gute Leben, Zürich 2024, Seite 12f.)

Ab Seite 410 gestattet sich Andreas Reckwitz einen Ausblick, der der Frage nachgeht: „Die Moderne reparieren?“ Zuvor stellt er zwei andere Szenarien in den Raum: „Die Weiterführung der Moderne“ und den „Zusammenbruch der Moderne“. Eine Reparatur, für die Reckwitz in einer knappen Skizze plädiert, setzt auf eine Haltung, „in der man zunächst mit den gegebenen Institutionen und Lebensformen arbeitet, aber sie so >ausbessert<, dass sie sich gleichermaßen nüchtern und offensiv der Problematik von Verletzlichkeit und Verlust stellen, statt vor dieser die Augen zu verschließen.“ (Seite 419) Dabei verwandle sich der Schutz der Vulnerabilität in eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe:

„Dies gilt für die verletzlichen menschlichen Subjekte und die prekären intersubjektiven, auch emotionalen Abhängigkeiten, in denen sie sich zwangläufig befinden, ebenso wie für die fragilen sozialen Einheiten – von der Familie über die Organisationen und technischen Infrastrukturen bis hin zur liberalen Demokratie, der globalen Ökonomie oder den Verhältnissen zwischen den Nationen. Und es gilt auch und nicht zuletzt für die Erde als ein ökologisches System, die sich im Anthropozän als äußerst vulnerabel herausstellt.“ (Seite 421)

Verändern sich die Menschen, verändern sich ihre Beziehungen! Oder andersherum: Verändern sich die Beziehungen, in denen Menschen leben, verändern sich die Menschen? Wir müssen beginnen. Wie diffizil dieses Vorhaben sich ausnimmt, hat wohl Peter Sloterdijk in seiner Totenrede auf Niklas Luhmann an einem Beispiel veranschaulicht. Denn wir Menschen sind nicht darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren:

„Sie sind, um es anders auszudrücken, nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich in sich zu haben. Dieser Sachverhalt läßt sich im Blick auf das anspruchsvollste Beispiel am populärsten erklären: Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüßte, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen  und strukturellen Betriebsbedingungen – im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes – gegenwärtig halten könnte.“ (Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, Seite 127f.)

Klar, es geht um die Reparatur der Gesellschaft bei laufendem Betrieb. Packen wir es an!

 

Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)

Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

„Um Menschen zu behandeln, die durch nicht enden wollendes Trauern in ihrem Leben dauerhaft beeinträchtigt sind, bietet die Psychotherapie eine Reihe von Methoden an.“


Teil II: Zygmunt Bauman: Der letzte Blick zurück:

   
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