Trost in einer trostlosen Gesellschaft!? Im Gedenken an
Andreas Krawitz
Der Lebenslauf ist eine Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens. Niklas Luhmann versteht ihn als aus Wendepunkten bestehend, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. So egeben sich in einem Leben - ohne, dass wir es ahnen - letzte schöne Tage.
Andreas Krawitz ist am 27.8.2016 in Folge eines Autounfalls verstorben. Andreas ist der Sohn meines Freundes, Rudi Krawitz und war die erste Liebe meiner jüngsten Tochter Anne. Wir fühlen uns tief verbunden im Schmerz mit seinem Vater, seiner Mutter, seiner Schwester und ihrer Familie. Andreas und ich machten im Frühsommer 2009 eine verstörende Erfahrung, als wir - gemeinsam mit Claudia - Anne in Irland besuchen wollten. Wir mussten dazu ein Flugzeug besteigen und sind vom Flugplatz Hahn aus nach Dublin geflogen. Im weit fortgeschrittenen Alter von 57 Jahren war es mein erster Flug überhaupt.
Wer mich kennt, weiß, dass ich dem Reisen - der kinetischen Verschwendung im massentouristischen Wahn - äußerst kritisch gegenüberstehe. Aber wir drei wollten Anne sehen, und so machten wir uns gemeinsam auf die Reise. Die Aufgabe, die mir nun zuwuchs, resultierte seinerzeit aus einer ausgeprägten Flugangst Andreas'. Dies überdeckte in der Folge bei Weitem meine Unsicherheit, die meinen Junfernflug begeitete. Die Sorge um Andreas nahm mich so sehr in Anspruch, dass unsere Luftreise sich sozusagen wie im Fluge ereignete.
Die Achterbahn, auf der Andreas und Anne ihre erste große Liebe erlebten, ließ uns als Eltern, aber sicherlich auch den Rest unserer kleinen Welt noch einmal einen Eindruck davon gewinnen, was Cat Stevens 1967 mit "The first cut is the deepest" besingt (hier in der Version von Sheryl Crow). Bei uns allen hat Andreas' Tod tiefe Bestürzung ausgelöst - auf besondere Weise bei Anne. Die Trennung beider ist sechs Jahre her, und Anne hat in Sebastian einen liebenswerten und besonderen Menschen gefunden, mit dem sie gemeinsam durchs Leben geht. Auch Andreas hat(te) eine neue Liebe gefunden. Die Brutalität und die finale Dimension seines plötzlichen Todes führt bei uns allen - aber eben auf besondere Weise bei Anne - zu einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem, was Andreas für uns b e d e u t e t hat. Am tiefsten hat mich berührt, wie Anne Andreas' Eltern, Rudi und Christa, dankt, "dass sie diesem wunderbaren Menschen das Leben geschenkt haben und dass sie ihm begegnen durfte".
Den gestrigen Nachmittag (3.9.) habe ich mit Rudi auf dem Maifeld - in der Nähe unseres heilen(den) Ortes, der Kehrkapelle - verbracht. Wir haben in einem Spannungsraum - pendelnd zwischen tiefstem Schmerz und nüchterner Auseinandersetzung nach Perspektiven gesucht: Wie wird fortan der 27. August 2016, der im Übrigen Claudias 60sten Geburtstag markiert, das Leben prägen und beeinflussen. Was geschieht mit uns, was lassen wir geschehen und worauf nehmen wir bewusst und tatkräftig Einfluss?
Weil mich Rudi in seiner Haltung tröstet - wo möglich mir mehr Trost spendet, als ich ihm zu spenden vermag - greife ich nun ein zentrales Motiv auf, das er mir vermittelt hat. Schon am 28.8. - am vorvergangenen Sonntag - meinte er, wenn aus der unfassbaren Sinnlosigkeit von Andreas' Tod irgendein Sinn resultieren könne, dann der, dass Andreas die Kraft zur Versöhnung in die Welt trage. Ich werde mich diesem Motiv später zuwenden und suche selbst zunächst Trost in einer Betrachtungsweise, die mir Fulbert Steffensky (Passwort: wiro2015) vor Jahren im Zuge des langen Sterbens meines Schwiegervaters vermittelt hat:
„Der Mensch ist, weil er sich verdankt, das lehrt Paulus in jenem (achten) Kapitel des Römerbriefes. Die große Grundfähigkeit ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wieeine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens (Fulbert Steffensky: Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgat 2007, S. 42f.)."
Aus meiner Nähe hat niemand eindrücklicher den Dank zur Sprache gebracht, in Andreas (in jener prägenden Phase) ein Gegenüber gefunden zu haben, als meine Tochter Anne. Rudi betont ebenfalls die Dankbarkeit, Andreas 29 Jahre als seinen Sohn gehabt zu haben.
Neben den Dank rückt mit Andreas' Tod die Einsicht in unser aller Endlichkeit. Gilt dies ohne Einschränkung und ohne jedes Wenn und Aber, so mag ein Tod zur Unzeit uns eine zentrale Botschaft des Psalms 90 (in der Luther-Übersetzung) noch sinnfälliger in Erinnerung rufen:
"Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden."
Mir bedeutet diese Klugheit ein vielschichtiges und recht amorphes Phänomen: Liegt die schlichteste Einsicht in der nüchternen Anerkenntnis, dass wir nun einmal alle sterben müssen, so scheinen Fulbert Steffenskys Anregungen - zumindest in mir - eine weit darüber hinausgehende Dimension existentieller Besinnung auszulösen. Ich möchte ihn ein weiters Mal zitieren:
"Unsere Gesellschaft ist bereit, für Effekte zu zahlen, nicht ohne weiteres für Sinn und sinnvolles Handeln. Ihr drohen die pathischen Tugenden verlorenzugehen. Eine Aktivität aber, die die Kunst der Passivität nicht kennt, wird bedenkenlos, ziellos und erbarmungslos. Die passiven Stärken des Menschen gehen verloren: die Geduld, die Langsamkeit, die Stillefähigkeit, die Hörfähigkeit, das Wartenkönnen, das Lassen, die Gelassenheit; um zwei alte Worte zu nennen: die Ehrfurcht und die Demut. Zum Siegen verdammt! Aufhören zu siegen! In Christa Wolfs 'Kassandra' fragen die Eroberer Trojas die Seherin, ob ihre Stadt Bestand habe. Sie antwortet: 'Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.' Im Gespräch mit dem Wagenlenker fügt sie hinzu: 'Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte.' Mit einer letzten Hoffnung fährt sie fort: 'Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles weiß. So mag es in der Zukunft Menschen geben, die ihre Sieg in Leben umzuwandeln wissen.' Nur zur Endlichkeit befreite Menschen können geschwisterliche Menschen sein und können ihren Siegeszwängen entsagen. In der Welt der Sieger kann es keine gelungenen Niederlagen geben (Steffensky, a.a.O., S. 9ff.)."
Des Messers Schneide, auf der ich mich hier bewege, ist mir bewusst. Dass Andreas Versöhnung stiften möge, sollte eine Hoffnung bleiben - in erster Linie für alle, die sich an seinem Grab begegnen. Ich möchte Fulbert Steffenskys Verweis auf die "zwei alten Worte" aufnehmen. Denn wir sind alt, und ich schreibe mehr denn je in der Gewissheit meiner eigenen Endlichkeit. Der Tod markiert die Grenze, die für uns alle nicht hintergehbar ist. Er ist der pädagogische Lehrmeister par exellence: Wer sich im Angesicht des Todes nicht besinnt, kommt nie mehr zur Besinnung, verpasst die Chance, klug zu werden! Ich mache eine erneute Anleihe bei Fulbert Steffenskys "psychologischer Anthropologie":
"Der Versuch, sein eigener Lebensmeister zu sein; sich selber zu erjagen und sich in der eigenen Hand zu bergen, führt in nichts anderes als in Vergeblichkeit und Zwänge. Der Zwang, sich selber zu gebären und sich durch sich selber zu rechtfertigen, führt in Verzweiflung und in den Kältetod. Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen. Man kann sich nicht selbst bezeugen, ohne der Verurteilung zu verfallen. Gnade ist also nicht der Differenzbegriff zwischen dem großen Gott und dem kleinen Menschen. Gnade heißt Befreiung von dem Zwang, sein eigener Hersteller zu sein (Steffensky, a.a.O., S.14f.)."
Auch wenn ich mit Blick auf die am kommenden Mittwoch (7. September) für Andreas stattfindende Trauerfeier der Auffassung bin, dass dort kein Platz für Gaffer und Sensationsheischer sein wird, will ich hier keinen Harmoniebrei anrühren. Dazu muss man wissen und respektieren, dass Dynamiken in Familien und in wahlverwandtschaftlichen Kontexten ihre eigene Geschichte haben und dass sich in diesen Dynamiken unser aller Kränkungsgeschichten wie Krebsgeschwüre eingenistet haben. Den Kältetod hat manch einer vor Augen. Gnade und Vergebung sind für die meisten von uns verbrannte Begriffe, die samt einer doppelzüngigen christlichen Ideologie entsorgt gehören. Vor Gräbern auf Versöhnung zu hoffen, ist in gewisser Weise naiv. Dies schmerzt mich umso mehr für Dich Andreas - mehr aber noch für die, die vor Gräbern stehen und sich nicht besinnen.
Seit dem allzu frühen Tod meines Brudes - zur Unzeit - hält hingegen meine Besinnung an. Nur wenige mögen das verstehen. In der Freundschaft zu Rudi wird dies bekräftigt. Mir ist es wichtig, hier nicht in einer unangebrachten Blauäugigkeit und in einer Harmoniesoße zu ertrinken. Davor mögen mich die Einsichten Fulbert Steffenskys, die ich mir zu eigen gemacht habe, bewahren. Sie verhelfen mir dazu, die gelungene Halbheit zu loben:
"Die Süße und die Schönheit des Lebens liegen nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist. Souverän wäre es, den Durst nach dem ganzen Leben nicht zu verlieren; um es religiös auszudrücken: das Land nicht zu vergessen, in dem auch der Blinde sieht, der Stumme seinen Gesang und der Lahme seinen Tanz gefunden hat. Wenn man in dieser Weise der Endlichkeit fähig wäre, dann brauchte die eigenen Bedürftigkeit, Schwäche, vielleicht sogar die Todesnähe uns nicht in Chaosängste zu stürzen (Steffensky, S. 21f.)."
Wenn ich am Ende dieser Ausführungen den Reflexionen einen Studenten folge, der sich kürzlich einer Prüfung unterzogen hat und dabei unter dem Leitmotiv vom "Verlust des Todes in der modernen Gesellschaft" (Herbert Gudjons) scharfsinnige und ernüchternde Anregungen vermittelte, dann soll - im Sinne einer kontrafaktischen Ermunterung - die Perspektive Steffenskys gleichermaßen als Bestätigung wie als Provaktion dienen. Denn sein Lob der Halbheiten könnte den offensichtlich überaus strapazierten und verwirrten Bewusstseins- und Befindlichkeitslagen vieler Menschen in der Gegenwartsgesellschaft eine Anregung sein:
"Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein. Er ist nicht gezwungen, völliger Souverän seines eigenen Lebens zu sein. Wo aber der Glaube zerbricht, da ist dem Menschen die nicht zu tragende Last der Verantwortung für die eigene Ganzheit auferlegt. Es wächst ein merkwürdiges neues Leiden, das durch überhöhte Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber entsteht. Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin - vice versa -; die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Mutter, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätterror möchte ich die gelungene Halbheit loben (Steffensky, a.a.O., S. 20f.)."
Wer glaubt schon an Gott, möchte man fragen. Wer die Frage konsequent verneint, kann dazu unterschiedliche Motive bemühen. Die meisten dieser Motive sind naiv und nicht wirklich ernst zu nehmen. Gemeinsam mit Rudi hat sich in uns beiden gestern ein agnostisches Denken und Fühlen als eine uns mögliche Perspektive ergeben. Wir wissen, dass wir nichts wissen! Diese Schwebe macht das Unerträgliche erträglicher, weil wir nicht endgültig wissen, wozu und wohin wir unser Schicksal tragen? Aber dass wir - vollkommen diesseitig gedacht - sehr viel mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind, gibt ebenso zu denken, wie es in manchen Lebenslagen zu trösten vermag.
Tröstliches im Sinne von Odo Marquardt (zu ihm führt der Link Zufälle):
"Wir können unser Leben und seine Wirklichkeit auch niemals überhaupt in wesentlicher Weise wählen oder gar absolut wählen, so dass es auch und vor allem im Sinne des Schicksalszufälligen zufällig bleibt. Wir kommen mehr als durch Wahl - also über Pläne - durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht - wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will - ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine misslungene Absolutheit, sondern - sterblichkeitsbedingt - unsere geschichtliche Normalität. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle, ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl, und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich. Eine Philosophie, die - skeptisch - diese Untilgbarkeit des Zufälligen geltend macht, ist, insofern, die Apologie des Zufälligen (Odo Marquardt: Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2015, 160f.)."
Vom Verlust des Todes in der modernen Gesellschaft
Inwieweit angesichts seiner Sterblichkdeit jedoch die Untröstlichkeit eher die Mitte des Menschen in der Moderne markiert, mag jeder an sich selber prüfen und spüren. Die überaus kritische Auseinandersetzung Dominik Bärs mit einer "Pädagogik des Todes" (Herbert Gudjons) mag hierzu anregen. Er hat kürzlich seine Abschlussprüfung im Modul 6 abgelegt. Im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Notenskala konnten wir ihm nur bedingt gerecht werden. Ich memoriere den Prüfungsverlauf mit Hilfe seiner Notizen, die er mir freundlicherweise überlassen hat und reichere ihn mit meinen eigenen Eindrücken im Zusammenhang mit Andreas' Tod an:
Dominik Bär beginnt mit der Idee Niklas Luhmanns,
- dass der Lebenslauf als Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten (Kontigenzbegriff) zu verstehen sei. Wenn ein Lebenslauf sich nicht mehr wendet, sondern final endet, erscheint die Zumutung dieser Integrationsleistung vollkommen absurd; jedenfalls dann in besonderer Weise, wenn er jenseits statistischer Erwartungen zur Unzeit erfolgt.
- In einer funktional differenzierten Gesellschaft existiert der Mensch selbst - als ganzes Wesen mit seinen Möglichkeiten und Problemen und mit einer genuinen Identität sowie dem Bedürfnis nach "Aufgehobenheit" nicht. Dominik Bär referiert diese These Luhmanns und erhärtet sie durch den Hinweis,
- dass es in einer funktional differenzierten Gesellschaft stets nur hochdifferenzierte Kommunikationschancen gebe. Die Gesellschaft bestehe eben aus unterschiedlichen, in sich geschlossenen Funktionssystemen (Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Intimität etc.), die je ihren eigenen binären Codes folgen. Die Teilhabe beruhe auf der Wahrnehmung von Kommunikationschancen (Wirtschaft: Zahlen/Nichtzahlen; Politik: Einfluss haben/keinen Einfluss haben; Erziehung: genügen-bestehen/nicht genügen-nicht-bestehen; Wissenschaft: wahr/unwahr; Kunst: schön/hässlich; Intimität: lieben/nichtlieben etc.).
- Für jedes Funktionssystem müsse demnach eine eigene Maske (angepasste Kommunikation) von demjenigen geschaffen/getragen werden, der teilhaben wolle.
- Intimsysteme (die Liebe) markier(t)e(n) den einzigen Rückzugsort in der funktional differenzierten Gesellschaft, an dem der ganze Mensch gemeint sei: "wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz" (Peter Fuchs).
Den "Verlust des Todes" (Herbert Gudjons) belegt Dominik Bär im Anschluss an Herbert Gudjons mit folgenden Thesen:
- Der Umgang mit dem Tod in der modernen Gesellschaft ist unsicher (substanzlos und extrem zugleich).
- Der Tod wird in der modernen Gesellschaft verdrängt, verleugnet und 'verloren' bzw. abgeschoben (das Sterben findet institutionalisiert statt - in Krankenhäusern, Altenheimen, auf Palliativstationen und in Hospizen. Die Familie hat lange schon die Fähigkeit eingebüßt, für ihre Alten zu sorgen und sie im Sterben zu begleiten.
- Säkularisierung ziehe die Schwächung und den Verlust tragfähiger Jenseitsvorstellungen nach sich. Der Einfluss der Religion auf das private und öffentliche Leben schwinde.
- Mediale Überreizung mit Katastrophen und Problen führten einerseits zu einer größeren Präsenz des Todes - andererseits führe dieses massenmediale Rauschen zu einer Abstumpfung und Desensibilisierung.
Dominik Bär referiert im Weiteren die These Gudjons' im Hinblick auf eine "pädagogische Funktion" des Todes:
- Tod sollte Thema der Pädagogik sein und ist selbst pädgogisch (im Gegensatz zu den Auffassungen einer mainstream-Pädagogik).
- Die Beschäftigung mit dem Tod ziele auf ein sinnvolles Leben (Suche nach dem Sinn im Angesicht der eigenen Sterblichkeit und Begrenztheit).
- Diese Auseinanderetzung schenke Freiheit und Gelassenheit, mache klar, was wichtig sei und was nicht.
Dominik Bär referiert im Hinblick auf eine Vorbereitung hinsichtlich der Auseinandersetzung mit eintretenden Verlusterfahrungen die vier Phasen der Trauer nach Verena Kast:
- Phase des "Nicht-Wahr-Haben-Wollens"
- Phase der "aufbrechenden Emotionen"
- Phase des "Suchens und Sich-Trennens"
- Phase des "neuen Selbst- und Weltbezugs" - Ziel/Sinn des Abschieds
Die überaus kritische Auseinandersetzung mit einer naiven pädagogischen Funktionalisierung des Todes (einschließlich eines naiven Phasenverständisses) führt bei Dominik Bär zu folgenden überlegungen:
- Es gibt in der vorgestellten (pädgogischen) Betrachtungsweise ein erstes (verstecktes) Axiom: "Das Leben hat einen intrinsischen Wert ('Heiligkeit des Lebens'). Dies - so Dominik Bär - sei nur auf einer religiösen Basis (bzw. als metaphysische Setzung) zu halten. In der modernen, die Ratio in den Vordergrund stellenden Gesellschaft, ergebe sich hingegen der Wert des Lebens aus den Inhalten und Bestimmungen, die wir für uns festlegen und anstreben würden. Jeglicher Sinn konstituiere sich in uns und durch uns, so dass uns eine transzendente Führung und Anleitung im Leben fehle. Hybris und Allmachtsvorstellungen sind die eine Seite - der soziale Kältetod bedeutet die andere Seite.
- Die damit verbundene latente Prämisse (von Dominik Bär abgeleitet aus Axiom 1) laute: Das Leben müsse unter allen Umständen und um jeden Preis mit dem Ziel eines 'konstruktiven/glücklichen/sinnvollen' Lebens fortgeführt werden. Dies werde dann negiert, sobald Axiom 1 nicht mehr gelte, da nun die Wahrhaftigkeit des Lebens von den individuellen Setzungen und Inhalten abhängig werde.
- Dadurch mache Trauerarbeit - mit dem üblichen universellen Ziel der "konstruktiven" Fortführung des Lebens, nicht immer bzw. nur bedingt einen Sinn! Es gebe Verluste, "welche die Selbsttötung als logischste und verständlichste Alternative erscheinen lassen."
- Zweites (verstecktes Axiom): "Man muss den Wandel (Entstehen/Vergehen) aller Dinge notwendig akzeptieren und gutheißen." Dominik Bär postuliert hier, diese Maxíme erscheine "hochgradig kontraintuitiv" zu den Lebensmaximen in der modernen Gesellschaft, da ein Großteil unseres alltäglichen kulturellen Handelns (insbesondere mit Blick auf Technik und Medizin) nach Dauerhaftigkeit und Kontrolle strebe. Ziel sei also stets die Erhaltung des Guten und die Vermeidung des Schlechten. Als "natürliches Streben eines jeden Vernunftwesens" erscheine es, das Schlechte so weit es gehe zu vermeiden, was dann also auch für den Tod gelten würde.
- Auch aus dem sogenannten zweiten Axiom leitet Dominik Bär eine (versteckte) Prämisse ab, die die von Gudjons bzw. von Jansen-Hochmuth vertretene Position, den Tod als Chance für einen weiteren Lebensabschnitt zu begreifen und ihn als Begleiter und Lehrer wahrzunehmen, kritisch hinterfragt: Diese Position sei zumindest dann nicht haltbar, wenn der Tod eben nicht potentiell als positives Phänomen wahrgenommen werde, sondern in erster Linie als etwas zu Vermeidendes.
Abschließend stellt Dominik Bär jene Fragen, die uns gegenwärtig in der Auseinandersetzung mit dem sinnlosen Tod Andreas' umtreiben:
"Ist der Tod ohne ein tragfähiges religiöses Jenseitsbild überhaupt zu ertragen? Entsteht die Problematik im Umgang mit dem Tod nicht automatisch aus der Schwächung der Religion?" Und müsse - sofern die Religion als Trugbild und Lüge wahrgenommen werde (Atheismus), der Tod nicht automatisch einen unerträglichen Charakter erhalten?
Junge Menschen denken scharf und stellen scharfe Fragen. Die existentiellen Fragen sind allerdings Fragen, die sich weder entscheiden noch beantworten lassen. Sie finden allenfalls in einer agnostischen Grundhaltung einen angemessenen Resonanzraum.
Und nun beginne ich, mich mit Fulbert Steffensky den guten Sitten zuzuwenden:
"Ich liebe das Wort Sitten. Wo es Sitten gibt, sind die Menschen nicht nur auf die Kraft ihrer eigenen Herzen angewiesen. Sitten befreien Menschen von Entscheidungszwängen. Ein altes Leiden war, dass man sich nicht selbst entscheiden durfte, weil schon alles von Sitte und Tradition entschieden war. Ein neues Leiden könnten die zermürbenden Entscheidungszwänge und die zerstörerische Beliebigkeit sein, wo Menschen nicht geholfen wird durch Einrichtungen, vorhandene Rhythmen und Gewohnheiten. Was die Sitten und Formen von christlichen Institutionen sein können, wage ich nicht zu sagen. Ich wünsche nur, dass es sie gibt und dass ihr Geist auch eine Form findet. Der Geist kommt mit sich selber nicht aus. Es muss nicht nur gute Menschen geben. Wir brauchen auch gute Orte."
Für mich ist die Kehrkapelle ist ein guter Ort! Auch hier finde ich Trost in einer ansonsten trostlosen Gesellschaft.