Veröffentlicht am Vorabend der Sommersonnenwende – am 20.6.2017
Der 21. Juni 2014 war der Tag der Erstveröffentlichung. Ich habe unterdessen die Neigung, einmal entstandene Erinnerungen von Jahr zu Jahr zu erweitern; und so wie in dem nachstehenden Beitrag - Dich Willi - auf dem Laufenden zu halten. Aus der Sicht nüchterner Weltbeobachter gerate ich auf diese Weise ins Schrullige bis Verrückte. Aber was haben wir denn noch zu verlieren? In der Erinnerung an Dich, und in der Erinnerung an Vieles, was alles in den letzten 23 Jahren geschehen ist, finden wir uns doch wieder als verwandtschaftliches und wahlverwandtschaftliches Netzwerk, dass nur so lange lebendig bleibt, wie es lebendige Erinnerung gibt.
Auch die nachstehende Erinnerung an Dich habe ich erweitert durch Eindrücke, die mir erinnernswert erscheinen: So der 75ste Geburtstag Deiner Schwester Ulla, der mir Gelegenheit bot, mich einmal länger und ausführlicher mit Deinen Kindern zu unterhalten – und dabei auch an Dich zu erinnern: Zum Beispiel an Deine Reiselust, die Deine jüngste Tochter von Dir ganz offensichtlich geerbt hat. Gegenwärtig befindet Sie sich in Norwegen – ich weiß gar nicht, ob beruflich oder privat? In den heutigen Beitrag integriere ich ganz einfach die Erinnerungsbeiträge, die Dich auf unterschiedliche Weise würdigen – mal aus unmittelbarer Betroffenheit, mal mit ein wenig mehr Distanz, um auch anderen ein Bild von meinem Bruder zu vermitteln. Bei den meisten derer, die Dich kannten, ist dies im Übrigen müßig. Es ist erstaunlich und beeindruckend, wie lebendig Du in den Erinnerungen Deiner (Wahl-)Verwandtschaft daher kommst!!!
21. Juni 2014
Vor 20 Jahren in der Frühe des 21. Juni 1994 seid Ihr L O S G E W I N N E R (einer Tombola des SC 07) losgeflogen – von Bad Neuenahr mit einer viersitzigen Sportmaschine. Ihr seid bis nach Landshut gekommen, wo Euer Flugzeug um 10.04, wenige Kilometer vor dem Flugplatz, wie ein Stein vom Himmel gefallen ist. Die vier Insassen, unter denen Du - mein Bruder Willi - bist, sind auf der Stelle tot (siehe auch: Abschied von Willi)
Das Bundesluftfahramt in Braunschweig wird tätig und untersucht das Geschehen. Der auffälligste Befund ist, dass die Maschine nicht gebrannt hat. Sie verfügte über keinen Tropfen Benzin mehr.
Wenige Tage nach den Ereignissen fährt Günther Wirtz, Dein und mein Onkel, der Mann der Schwester unseres Vaters, nach Landshut und nimmt die Absturzstelle in Augenschein: Abgeerntete Getreidefelder, flaches, plattes Land. Alle schütteln den Kopf und kommen zu dem Ergebnis, dass es für einen erfahrenen Piloten kein Problem sei, dort eine Sportflugzeug notzulanden – N O T landen!?
Ja, N O T L A N D E N!
Euer Pilot soll ein erfahrener Flugzeugführer gewesen sein. Irgendwann erzählt jemand, er habe nach seiner Pensionierung als Angehöriger des fliegenden Personals der Bundeswehr als Fluglehrer arbeiten wollen – die Lizenz sei beantragt gewesen bzw. habe vor der Beantragung gestanden.
Verbürgt – über das Logbuch – sind wohl Flugbewegungen Eurer Maschine zwischen Mönchsheide und Bad Neuenahr am Abend vor Eurer Wochenendtour nach Zell am See in Österreich.
Ein künftiger Fluglehrer, der seine Maschine aus Spritmangel notlandet – jede Notlandung wird untersucht! Jede Untersuchung hätte S P R I T M A N G E L festgestellt: quod erat demonstrandum! Die Maschine hat nicht gebrannt.
Könnte es sein, dass hier jemand gepokert hat um die wenigen Kilometer bis zur regulären Landung, mit der jedes Versäumnis folgenlos geblieben wäre?
F O L G E N L O S - L O S G E W I N N
Die Resignation und die Verzweiflung haben alles Lebendige für geraume Zeit zugedeckt, haben uns betäubt und haben uns über zwanzig Jahre zuletzt Demut gelehrt, neben der Dankbarkeit, die bis heute alle verbindet, die Dich gekannt haben.
Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ja, er ist die Form für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens. Das haben wir alle lernen müssen!
All die Erinnerungsfetzen zu den Umständen der Geschehnisse von 1994, die mich bedrängt haben, die mich wütend und unversöhnlich gemacht haben, sind nicht ausgelöscht. Aber ich möchte die Energie, die sie beanspruchen, in andere Bahnen lenken. Sie sollen der Erinnerung an Dich dienen; der lebendigen Erinnerung, wie es zum Beispiel mein Tagebucheintrag am 21.6.2003 zeigt:
„21/06/03
Heute jährt sich Willis Todestag zum neunten Mal. Um 12.10 Uhr sitze ich hier oben auf dem Friedhof an Willis Grab. Mama ist heute aus Bad Bertrich zurückgekommen. Sie war schon morgens mit Helga auf dem Friedhof.
Lieber Willi, so gut es gehen konnte, ist es weitergegangen. Deine Kinder sind gesund und gehen ihren Weg. ‚Aus der Ferne‘ schaue ich immer mit Wohlwollen auf das sonnige Gemüt und die Beziehungsfähigkeit und -lust Ann-Christins, auf die beharrliche Art und Weise, wie Kathrin sich ihren Weg sucht und sich das Ihrige nimmt. Sie hat übrigens ein außerordentliches Talent und große Lust zum Schreiben – einen ersten Roman hat sie bereits vollendet. Es ist deutlich mehr Zuversicht als Skepsis, obwohl ich weiß, oder eher spüre, dass beide an die Punkte einer Auseinandersetzung mit dir erst noch kommen. Helga hat es gut gemacht und wird im Rahmen einer Normalität vielleicht auch ‚belohnt‘ für den mutigen Weg, den sie geht – ich hege eine stille Bewunderung für sie, obwohl immer auch die Grenzen des Möglichen durchscheinen. Insbesondere Ann-Christin hätte gerne mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, derer sie so sehr bedarf. Umso mehr freut mich, dass Laura und Ann-Christin – hoffentlich – eine tragfähige Beziehung zueinander aufgebaut haben.
Rudi Dutschke schreibt irgendwo in seinen Tagebüchern, jeder habe sein Leben ganz zu leben. Dass deines nicht einmal 39 Jahre dauern durfte, schmerzt heute deine Kinder und die, die dir am nächsten waren in besonderer Weise. Ich ziehe selbst die Lehre, alle Tage, die mir gegeben sind, zu leben in Zuversicht und Verantwortung gleichermaßen. In der Haltung, das Boot auch kentern zu lassen, und in dem, was sich daran anschließt, mühe ich mich oft mehr, als dass ich pure Lebenslust und kraftvollen Lebensfluss verkörpere. Nein, hinter der Oberfläche, tief im basso continuo, waren wir uns doch ‚offensichtlich‘ näher, als es der Anschein vermuten ließ. Vielleicht komme ich jetzt etwas öfter hierher und erzähle Dir einfach von dem, was so geschieht und wie es weitergegangen ist.“
22.5.2017: Soll ich Dir jetzt erzählen, dass Deine älteste Tochter eine rasante Karriere hingelegt hat? Ja, sie ist Lehrerin an einer Lahnsteiner Grundschule – anerkannt und mit großer Leidenschaft. Ja, und sie hat einen Mann gefunden, bei dessen Anblick ich erstarrt bin. Jens hat mich auf berührende Weise an Dich erinnert. Er berührt mich bis heute durch einen Gestus, den ich auch Dir immer zugeschrieben habe – verbunden mit einem Gemüt, das immer balanciert zwischen einem ruhigen Phlegma und einer aktiven Weltzugewandtheit. Und die beiden haben Mathilda das Leben geschenkt. Sie hatte einen schwierigen Start als Frühchen. Inzwischen rennt sie durch die Welt und lässt alle Anfangsschwierigkeiten vergessen. Übrigens kümmert sich Deine Cousine Gaby einmal die Woche um Dein Enkelkind. Sie ist ja schon Rentnerin. Das Leben geht weiter, und Du lebst fort nicht nur in Deinen Kindern, sondern auch in Deinem ersten Enkelkind. Und Kathrin, ja Kathrin! Sie – Deine Kleine – sie geht in die Welt, sie erobert die Welt (Berlin-Hamburg-New-York-London-München-Tel-Aviv). Sie hat Deine Reiselust geerbt. Als Grundschülerin hat sie ihre ersten Geschichten geschrieben. Und nun schreibt sie für die Welt. Sie hat schon geschrieben für den SPIEGEL, für die ZEIT!!! Und nun hat sie ihren ersten unbefristeten Vertrag beim HANDELSBLATT. Nach ihrem Bachelor/Master in Kulturwissenschaften hat sie sich konsequent dem Journalismus zugewandt; so konsequent, dass sie die Dilemmata des moder nen Menschen in sich austrägt. Julian war der Auserwählte, der ihrer Eigenart, ihrer Konsequenz, ihrer Leidenschaft nicht standgehalten hat. Ob sie sich selbst standhält?
Lieber Willi, ich bedauere so unendlich, dass Deine Kinder Deine besondere Art, Deine Liebe, Deine Fürsorge, Deinen Humor und Deinen Charme auf ihrem Weg durchs Leben nicht kennenlernen konnten.
Du fehlst mir, weil ich all diese Gaben 38 Jahre über erleben durfte – nicht unablässig und einseitig. Du warst ja kein Übermensch. Aber immer da, wo die Welt eng war, wo sie zu zerbrechen drohte, hast Du die Kehre genommen. Aber eben nicht (nur) mit bitterem Ernst, sondern mit einer unverwechselbaren Gabe zur Versöhnung und zum Ausgleich. Du fehlst mir, weil ich inzwischen selbst alt werde – alt bin und einen Bruder bräuchte; so wie früher, als Du mir längst entwachsen warst, und ich Deinen Beistand suchte, wenn ich einmal wieder die Klappe zu voll genommen hatte. Es ist ganz gewiss, dass wir uns wiedersehen. Schau doch einmal dieses Foto an – wie Du mich anschaust, und wie ich Dich anschaue. Wir haben doch immer schon alles gewusst!
Und nun hab ich mich selbst weit überholt, denn der Beitrag ist im 2003 entstanden, in dem Jahr in dem unsere Mutter gestorben ist. Und die Fortsetzung des Briefes habe ich Ende Mai 2017 begonnen. Der Zeitsprung im Originalbeitrag geht von 2003 nach 2014, das Jahr der Weltmeisterschaft in Brasilien, das Jahr, in dem Deutschland Fußball-Weltmeister geworden ist, das Jahr in dem sich Dein Todestag zum zwanzigsten Mal jährte, und in dem viele Deiner Freunde in der Kurschänke in Erinnerung an Dich zusammenfanden. Und so habe ich es seinerzeit weiterhin protokolliert:
Heute, am 21. Juni 2014, elf Jahre nach diesem Tagebucheintrag kann ich Dir, lieber Willi zumindest berichten, dass Deine Kinder ihren Weg konsequent weitergehen. Ann-Christin hat etwas geschafft, was gegenwärtig ungewöhnlich und jenseits aller Normalität ist. Sie hat fast nahtlos nach ihrem 2. Staatsexamen als eine von wenigen eine volle Stelle im rheinland-pfälzischen Schuldienst angetreten.
Kathrin hat in Koblenz ihren Bachelor in Kulturwissenschaften abgeschlossen und steht nach dem Wechsel an die Uni Bonn kurz vor der Abgabe ihrer Masterarbeit. Du kannst stolz auf Deine Kinder sein, und auch Helga ist ihren Weg gegangen – ganz sicher so, wie Du es von ihr erwartet hättest.
Besonders freut mich, dass unsere Kinder, Ann-Christin, Kathrin, Laura und Anne einen guten Kontakt pflegen (aktueller Vermerk am 4.6.2017: Laura und Thomas haben Kathrin an diesem Wochenende einen Kurztripp nach Holland anläßlich ihres 28. Geburtstags geschenkt – morgen sehe ich alle, wenn Deine Schwester ihren 75sten Geburtstag!!! Feiert), dass sie sich freundschaftlich verbunden sind, und dass Familie weiterhin Bestand hat. Heute Abend treffen wir uns in Deiner Stammkneipe, im Kur-Köln. Die Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft läuft. Unsere Jungs haben ihr erstes Vorrundspiel gegen Portugal 4:0 gewonnen. Du, ganz besonders Du hättest Deine Freude gehabt und würdest mit uns heute Abend die Daumen und so manches Kölsch (ver)drücken, wenn gegen Ghana bereits der Einzug ins Achtelfinale klar gemacht werden kann. (Du weißt ja, dass unsere Jungs die Weltmeisterschaft geholt haben). Ich bin gespannt, wer dabei ist. Wir denken an Dich, und Du bleibst in unseren Herzen.
Veröffentlicht: 19. Juni 2015
21 x 21 - die Quersumme von 21 ist
3
21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21 21
(2 + 1 = 3)
21 – 06 – 94 12 – 11 – 55
12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12
(1 + 2 = 3)
12 – 11 – 55 21 –06 – 94
21 x 21
– 06 – 94
21 x 21 = 441
441 – 6 – 94 = 341
3 = 4 – 1 = 3
(05.06.1942*) Ulla
(21.02.1952*) Franz Josef
(12.11.1955*) Wilfried (21.06.1994+)
Zum einundzwanzigsten Mal jährt sich am Sonntag der
jedes Jahr
S O M M E R S O N N E N W E N D E
seit Menschengedenken
– seit dem einundzwanzigsten Juni 1994
der Tag, an dem unsere Gedanken bei Willi sind;
der Tag, der als Wendepunkt einen tiefen Einschnitt im Leben aller bedeutet,
die Willi verwandtschaftlich und wahlverwandtschaftlich verbunden waren und sind
als Eltern
(11.12.1922*) Theo (24.03.1988+) und
(03.07.1924*) Hilde (27.07.2003+)
als Geschwister
Ulla und Franz Josef
als seine Töchter
(15.09.1986*) Ann-Christin
und
(29.04.1989*) Kathrin
als seine Nichten
(02.08.1987*) Laura
und
(21.07.1989*) Anne
als Ehefrau
Tanten und Onkel,
Cousin und Cousine,
Schwägerinnen und Schwäger
und
als Freundinnen und Freunde!
Eine Flucht in schlichte Zahlenspiele!? Ja, vielleicht. Und dennoch wird mir bewusst, wie sehr die Zahl 3 eingeht in meine persönliche Wahrnehmung und Deutung von Welt. In einer Welt der Einsen und Nullen eröffnet sie Zugang zu anderen Galaxien. Merkwürdig, wenn ein "Mathematikidiot" wie meine Wenigkeit (ich danke auch noch einmal den Herren Groß - alias "Goofy" - und Wehner) sich in zahlenphilosophischen Spielereien ergeht (die mir anvertrauten und sich mir anvertrauenden Studierenden mögen hier eine Ahnung davon bekommen, wie tief und nachhaltig fortgesetzte Kränkungserfahrungen durch Lehrer unsere Seelen als Schüler berühren). Aber es geht ja auch nicht um Mathematik, sondern schlicht um eine existentielle Grenzerfahrung, deren ich mich heute mit Zahlenspielereien bemächtige.
Vor "Kopfschmerzen und Herzflimmern" fiel mir ein Buch in die Hände, auf dessen 121 Seiten - außer den Seitenzahlen - nur auf der Titelseite die Zahl 3 eine weltbegründende, Paardynamiken erschließende Rolle einnimmt - und dies im Übrigen in der Metamorphose, die die Zahl 3 auf ihrem Weg zur semantischen Spurenmächtigkeit vollzieht, indem sie Wort wird und als Zahl gar nicht mehr in Erscheinung tritt: Adam Phillips - Monogamie ...aber drei sind ein Paar, Fischer (Frankfurt/Main 1997).
Nicht nur, dass die Weltbeschreibung des Adam Phillips meinen Bruder Willi wenige Jahre vor seinem Tod und mich selbst just im Erscheinungsjahr dieses Büchleins im Sinne einer Handlungsanleitung zu einer gleichermaßen faszinierenden wie schmerzhaften - wie möglicherweise notwendigen - Überschreitung der Paargrenze: "Wir ZWEI/Rest der Welt" veranlasste, nein - viele, viele Jahre später sollte klar werden, wie sehr Ungleichgewichte zu einer Äquilibration zu einem Ausgleich drängen.
Die 2 ist langweilig. Sie symbolisiert Gleichgewicht, Verlässlichkeit - sie ist eine illusionsbehaftete Metapher für Stabilität: 1 + 1 = 2 (das würde jetzt meine Schwester freuen: "eins und eins das macht zwei" von Hildegard Knef)
Man stelle sich eine Waage vor mit verteilten Gewichten im Verhältnis 1 zu 1; ein stabiles Gleichgewicht, das manch einen zur Vorstellungswelt realer prästabiler Gewichtsverteilungen auch im Paarleben veranlassen könnte. "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib" hat seine idealisierende Wurzel vielleicht in der Vorstellung einer harmonischen (platonischen) Kugelgestalt - zusammengesetzt aus zwei komplementären Hälften.
Die 3 hingegen signalisiert ein Ungleichgewicht, möglicherweise eine Disharmonie. Die 3 verkörpert ein Produkt, das - sofern man ganze Zahlen in ihrem Eigenwert respektiert und sie nicht gewaltsam zerschlägt (zerteilt: z.B. 1,5 + 1,5 = 3) - nur Ungleiches zu einer Summe vereint (z.B.: 1 + 2 = 3 oder 2 + 1 = 3). Die Waage gerät aus dem Gleichgewicht und Paardynamiken nehmen Fahrt auf - Monogamie ...aber drei sind ein Paar. Rudi Krawitz, ein guter Freund, hat einmal gesagt, er wolle nicht mehr länger die 3 (im Sinne des Dritten) sein, oder die 5 (im Sinne des Fünften) oder die 7 oder die 9 oder die 11 usw.: "Du musst dein Leben ändern." Alles drängt nach Ausgleich, nach Gleichgewicht nach Äquilibration. Kaum jemand - weniger jedenfalls als die Vielen - setzt sich einer Dauerspannung aus, ist bereit und in der Lage zu einer permanenten Akkomodationsleistung. Eine solche Dauerdynamik überfordert - zumindest die meisten. Natürlich atmen wir auf und werden ruhiger, wenn Assimilation gelingt. Feinstofflich mag dies nie wirklich der Fall sein, aber im Großen und Ganzen gibt das Streben nach Gleichgewicht schon Sinn. Selbst im dynamischen Voranschreiten, also im permanenten Verletzen des Gleichgewichts bildet das Gleichgewicht den basso continuo, die - wenn auch nie erreichbare - Zielgröße.
Ich werde den Gedankengang weiterspinnen - mit der Sehnsucht nach der verlorenen Drei, die sich (auch) in einer Geschwisterkonstellation verkörperte, die uns alles geschenkt und alles abverlangt hat.
Ja, nun nimmt der Tag - der 21.6.2015 - seinen Lauf. In einem langen Telefongespräch mit meiner Cousine, Gaby, haben wir uns erinnert an Willi, ihren Cousin und meinen Bruder. Sie schrieb mir danach, es entspreche der Summe ihrer Lebenserfahrungen, immer die 3 gewesen zu sein - schon früh als Bindekitt für die gescheiterte Ehe ihrer Eltern. Während sich im letzten Jahr noch in Bad Neuenahr viele seiner alten Freunde und die Reste der Familie in einer seiner Stammkneipen getroffen haben, gestatten wir uns in diesem Jahr eher wieder in der Vereinzelung - manche mögen es auch als (trostlose) Einsamkeit erleben - eine Weile des Erinnerns. Je näher man die Ereignisse von 1994 an sich heranlässt, desto intensiver mag einen diese tiefe Trauer wieder ergreifen, die der Tod Willis ausgelöst hat. Heute morgen beim Frühstück übermannte uns wieder das Kontingente der Geschehnisse. Niklas Luhmann bietet uns ja die Vorstellung eines Lebenslaufs an - bestehend aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Claudia erinnerte sich, dass Willi eigentlich eher nolens volens - widerwillig, gar nicht überzeugt von dem Mehrwert dieses Dreitagetripps - und wie wir uns zu erinnern glauben, als Ersatzmann eingesprungen ist. Ein Augenzwinkern, der Flügelschlag eines Schmetterlings - ein Jota - entfernt hätte die Alternative gelegen. Hätte man mich - den fanatischen Reisemuffel und Tourismushasser - gefragt, ein anderer hätte den Flug ins Nirwana angetreten. Hätte, wennste, könnste haben wir uns lange abgeschminkt. Viel interessanter ist die Welt, die nach diesem Jota ihren Lauf genommen hat.
Gestern war ich lange noch auf dem Friedhof in Bad Neuenahr unterwegs und habe alle die Gräber besucht, die nach Willi besorgt - oder sollte ich eher sagen besargt - worden sind: Zuerst habe ich Peter Georg (1951-2010) besucht, den Freund aus Kinder- und frühen Jugendtagen. 2010 ist er einem langen Krebsleiden erlegen; er, der immer durch seine Vitalität und Sportlichkeit bestach - er, der zuletzt und lange seinen Broterwerb als Tennislehrer bestritten hat. Ich habe nach vielen, vielen Jahren dann das Grab von Jopa (1954-1995) besucht (Bernd Jobst), von dem ich immer behauptet habe, er sei der klügste, intelligenteste, vielversprechendste von uns gewesen. Nein, klug war er nicht. Er ist ein Jahr nach Will, 1995 aus dem Leben geschieden - als Junkie, der all seine übergroßen Talente verschwendet hat. Während Willi und Peter Georg im Verein mit ihren Eltern die letzte Ruhe gefunden haben, liegt Jopa mit seinem Vater in einem Grab, seine Mutter lebt wohl noch - hochbetagt - in der Kreuzstraße; dort, wo wir alle unsere Kindheit und Jugend miteinander verbracht haben. Wie mag er diese Nähe wohl aushalten? Jene Nähe, die ihn um den Verstand gebracht hat. Mit einundvierzig Jahren bzw. in den Jahrzehnten zuvor verstand er seine Kunst als einen Aufschrei und den Versuch einer ziellosen Flucht aus dem Spießertum, dem er nie entkommen ist: "Gott erschuf die Langen zum Ersatz von Bohnenstangen!" Dieses frühe ehrenwerte Etikett, das mir Jopas Vater verliehen hat, begleitet mich bis heute, wäre ich doch gerne wieder jene Bohnenstange und nicht die von heute - die vermoppelte und ein wenig aus der Form geratene. Aber sei's drum: Ich bin weiter gewandert auf jenem Friedhof, der meinen Großvater als Totengräber gesehen hat. Ja, meine Großeltern - beiderseits - liegen auch dort auf dem Bad Neuenahrer Friedhof, so wie mein Vater und meine Mutter - mit all denen teilt Willi seine letzte Ruhestätte.
Die letzten Erinnerungen erinnern mich daran, dass mein nächstes größeres Projekt im Menü des BLOGs bereits eine Leerstelle besetzt. Ich freue mich auf die umfassende Lyrographie, die in Rudimenten und jeweils zwischen zwei Deckel gepackt, bereits existiert: "Das Leben ein Klang" und die "Mohnfrau". Gedichte habe ich schon lange keine mehr geschrieben. Aber die 80 bis 100 Gedichte, die aus meiner Feder die Welt beglückt haben, erscheinen mir inzwischen wie eine glückliche Anatomie meiner Lebensgeschichte. So habe ich mich entschlossen das Skelett wieder mit Fleisch zu behängen und zu modellieren. Aber ich schweife ab!
Von Jopas Grab aus habe ich mich noch ein paar Gräberreihen weiter bewegt und bin zuletzt am Grab von Jochemichs gestanden: Dort liegen Johann und Gertrud Jochemich - in der Ahnenreihe und teils mit Geschwistern. So durfte ich mich noch an Johann, den Schachtmeister erinnern, bei dem ich das Handlangern erlernt habe - Kompetenzen, von denen ich heute noch zehre; so wie ich mich gerne unserer Kindheit erinnere - in den fünfziger und sechziger Jahren einer untergegangenen Welt: "Ich sehe was, was Du nicht siehst - Komme in den totgesagten Park und schau!"
Freitag, 20 Juni 2014 15:10
Abschied von Willi
Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann - Ende und Anfang – „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“
Abschied von Willi
Es gibt Tage, an denen man schon früh spürt, dass sie sich schon im Beginnen erschöpfen, Tage, an denen die Nacht nicht die Frische bringt, aus der man die Kraft und die Zuversicht für den neuen Tag schöpfen kann. Und es gibt Tage, an denen einem die Umstände in die Hände spielen, um früh schon der Erschöpfung nachzugehen, sie umzudeuten zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Es gibt Tage, an denen man sich anpasst an die träge, schwüle Stimmung; und wenn einem die Umstände in die Hände spielen, lässt man sich vielleicht umfangen vom Unabwendbaren, man ergibt sich schon früh und wehrt nichts ab. Man lässt sich treiben.
Der 21. Juni 1994 war so ein Tag, ein Tag, an dem die Sonne frühmorgens für kurze Zeit dem beginnenden Tag noch verheißt, eine Perle in der Kette jener Sommertage zu werden, die mit einer trockenen Hitze den Sommer erträglich machen und zu einer stillen Sehnsucht werden, wenn er vorüber ist. Dieser Morgen aber war keine Zäsur. Fast übergangslos war der Abend mit seiner lastenden Schwüle in die Nacht übergegangen und übergab das Staffelholz atemlos dem folgenden Tag. Aber mit Vorsorge und Fürsorglichkeit sollte dies sicher ein schöner Tag werden, für mich. Mit meinen Kindern verheißt mir der Nachmittag Entspannung im kühlen Nass des nahen Schwimmbads. Für meine Schulkinder wird dieser Vormittag schon einige Qualen bedeuten; auf der Laufbahn, bei den Wettkämpfen im Stadion Oberwerth. Diese weihe- und ruhmvolle Stätte zeigt sich am Morgen des 21. Juni von ihrer feinen Seite, eingebettet in den zarten Hauch der mittlerweile voll ergrünten Akazien und in die satteren Grüns an den Ufern des Rheins. Die aufgeregten Kinder mit ihren T-Shirts erscheinen während der Riegen-Einteilung wie ein bunter, tanzender Flohzirkus auf dem fetten Grün des Fußballrasens.
Die Umstände meinen es gut mit mir. Die Riegenführer rekrutieren sich ebenso wie die Wettkampfrichter aus dem Kollegenkreis; hier versehen meist die berufeneren Kolleginnen und Kollegen mit Vereinshintergrund oder Fakultas in Sport die Ämter. Bis zur Siegerehrung bin ich also freigestellt, kann schauen, unterstützen, ermuntern; ich kann mir aber auch eine kleine Zeitnische gönnen und meinen Fantasien nachhängen, ein wenig ruhen, dösen bis uns der Bus mittags wieder zur Schule zurückbringt.
Ich finde ein diskretes Plätzchen abseits der Wettkampfstätten im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Inmitten einer grünen Hölle überlasse ich mich dem Farbenspiel eines prächtigen Frühsommertags. Selbst die geschlossenen Augenlider bilden nur eine zarte Membrane, die jene Sonnenstrahlen, die mich durch das Blattwerk erreichen, nur abschwächen. Reibt man sich die geschlossenen Augen, regen die Eindrücke der frischen und kräftigen Sommerfarben, alle Schattierungen von Grün und das intensive Azurblau des Himmels, durchflutet von der grellen Strahlung der Sonne, die verrücktesten Farbkonvulsionen an. Mit geschlossenen Augen tauche ich ein in die lebendige Welt der Farben. Von Ferne nehme ich das sonore Geräusch von Flugmotoren wahr. Es erscheint mir - unter dem Eindruck des Kaiserwetters - unfassbar, dass ich im Alter von 42 Jahren noch niemals geflogen bin. Ich verspüre einen Hauch von Neugier; das wäre ein Tag, um die Welt aus der Vogelperspektive zu genießen. Der Schwüle tief im Rheintal entgehen, schweben wie ein Vogel und ein sattes und fettes Land unter sich:
Aufsteigen vielleicht in der Frühe des Morgens in der Nähe von Koblenz, auf einem kleinen Flugplatz; langsam an Höhe gewinnen, die Landskrone voraus, Ort früher Kindheitserinnerungen, unkalkulierbarer Kletterwagnisse; an diesem beeindruckenden Kegelberg, hinter dem sich das Ahrtal hin zum Rhein öffnet. Jetzt lassen wir ihn mühelos hinter uns und ein einzigartiges Panorama öffnet sich vor unseren Augen. Die Sonne steht noch tief im Osten. Bereits auf einer Höhe von drei- bis vierhundert Metern zieht die Maschine in einer weiten Schleife nach rechts. Der Rhein und jenseits die dicht bewaldeten Höhen des Westerwaldes kommen in den Blick. In die Höhenzüge des rheinischen Schiefergebirges hat der Rhein sein Bett gegraben. Das schon gleißende Silberband wird uns die ersten 150 km Orientierung geben. Jetzt im Juni wirkt dieser Graben irgendwie unwirklich. Das kräftige Grün der Plateaus zu beiden Seiten, hoch über dem Rhein geht auf der rechten Rheinseite in ein zartes Grün über, mit dem die gerade den Knospen entwachsenen Weinblätter das Rheinufer malen. Die „Höhenzüge“ von Eifel und Westerwald erscheinen uns von hier oben wie ein lebendiges Legoland. Vertrautes Terrain aus einer fremden, für drei der „Flieger“ ebenso angsteinflößenden wie faszinierenden Perspektive. Gen Süden geht es, zuerst Andernach - zur Rechten - dann Neuwied - zur Linken - ziehen vorbei. Jetzt öffnet sich das Neuwieder Becken und Koblenz, der Knotenpunkt, an dem der Rhein, Mosel und Lahn aufnimmt, lässt sich erahnen. Monoton und sonor brummt der Motor und in Vertrauen erweckender Weise zeichnet der Propeller einen präzisen Kreis in die klare Morgenluft. Die Anspannung ist gewichen und langsam gewinnt eine gleichermaßen angeregte wie euphorische Gemütsverfassung die Oberhand; Vorfreude auf vier schöne Tage in Österreich. Voraus, im enger werdenden Rheintal, regt das hochaufragende Brauhaus der Königsbacher Brauerei zu mancherlei Sehnsüchten und Scherzen an. Vorgelagert das über die Region hinweg bekannte Stadion Oberwerth, Kampfstätte der legendären TUS-Mannschaft der frühen 50er Jahre. Die Sonne steht jetzt schon höher. Im Westen bleibt der Sendeturm auf dem Kühkopf zurück, Hunsrück zur Rechten und Taunus zur Linken. Der Pilot weist auf den Loreley-Felsen hin und verströmt gleichermaßen gute Laune wie unbegrenzte Vertrauenswürdigkeit. 30 Jahre Erfahrung als Pilot, Fluglehrer und zuletzt Bordoffizier auf der Maschine der Bundesluftwaffe, die alle wichtigen Auslandsflüge des Auswärtigen Amts realisiert. Wer Genscher und Kinkel über die Ozeane trägt, dem muss der Flug nach Zell am See in Österreich vorkommen, wie der Ausflug eines Grashüpfers von einer Wiesenscholle zur nächsten. So wirkt die Stimmung gleichermaßen gelassen wie ausgelassen; vier Urlaubstage bei Kaiserwetter, optimale Flugbedingungen, Mainz und Wiesbaden voraus.
Der Pilot erklärt eine Kursänderung, Süd-Südost. Im Norden lassen sich die Bankentürme von Frankfurt erahnen, während jetzt der Main ein Stück weit die Richtung weist. Zwischen Odenwald und Spessart hindurch schlüpft die einmotorige Jodel DR-400 und nimmt Kurs auf Würzburg, das man nordöstlich liegen lässt, immer noch Kurs Süd-Südost. Im gleißenden Sonnenlicht verändert sich die Landschaft; nein nicht so sehr die Landschaft, sondern das, was die Menschen hinzugefügt haben. Die Dörfer haben jetzt rote Mützen und es überwiegen weite, ausgedehnte Getreidefelder. Erst südwestlich von Nürnberg werden die Felder wieder von ausgedehnten Wäldern unterbrochen. Hier wird Hopfen angebaut und weite Kartoffelfelder reichen bis zum Altmühltal. Schon kündigt sich das Donaumoos an. Jetzt sind es vielleicht noch ein bis 1 1/2 Stunden Flug. Dieser Morgen mit einer vielversprechenden Großwetterlage löst ungeahnte Glücksgefühle aus.
Vom Rheinischen Schiefergebirge bis zur Fränkischen Alb eine Tour d’Horizon über deutsche Landschaften. Deutschland ist schön, Bayern ist schön. Es ist, als entdecke man die Welt neu, als bringe man Sonne übers Land. Alle Sorgen und Nöte verblassen. Dies ist ein unglaublich kraftvolles Motiv. Mit den sphärischen Klängen von V’Angelis’ „1492" entschwebt man in eine andere Welt. Im Dahingleiten des leichten Viersitzers verliert sich das monotone Geräusch des Motors zu einem elementaren Daseinsmoment, nur entfernt, eher körperlich in leichten Vibrationen wahrnehmbar. Der Schwebezustand der Jodel (ver)führt bei den Sphärenklängen der Musik fast zu einem Verschmelzen von Körper, Geist und Maschine. Die Landschaft des Voralpenlandes wirkt wie eine riesige Puppenstube. Dies scheint nahezu das Erhabenste, zu dem sich Menschen mit Maschinenkraft aufschwingen können; einem Vogel gleich - und doch so verschieden - als Wesen, das seine Erlebnisfähigkeit zu orgiastischen Gefühls-Konvulsionen zu steigern vermag, in denen sich Fühlen und Denken undifferenziert zu endlosen Implosionen verströmen. Die Ruhe des Schwebens im hellen, unbegrenzten Raum, das Zittern und Beben in einem anderen Daseinszustand geben eine Ahnung davon, wie leicht und unbeschwert, wie losgelöst das Leben sein könnte; die Ungebundenheit bald hier, bald dort zu sein, über sich und die Umstände machtvoll und spielerisch verfügen zu können, hebt einen hinaus aus der Routine und den Beschwernissen des Alltags.
Was ich zuerst erinnere war eine Ungläubigkeit, bei aller Realitätsmacht; die deutliche Haltung, dies alles sei ein Irrtum, die Tatbestände, das Geschehen, die darin verwickelten Personen unklar - alles klärt sich auf im Sinne eines tragischen Irrtums. Es sind die Umstände der ersten Berührung mit einer Tatsache, die man nicht zulassen kann, die Traumata bestätigen und mobilisieren, atavistische, ahnungsvolle Motive, die sich im neuzeitlichen Lebensalltag erhalten: Dies kann das nächtliche Telefonklingeln sein, zu einer Zeit, wo nur „Ungewöhnliches“ und Tragisches, Schlimmes mitteilungswürdig sind. Alles andere kann warten. Es waren der weiße Passat und Claudias Gegenwart an einem ungewohnten Ort zu einer ungewohnten Zeit: „Was willst du hier und jetzt, was kannst du mir mitteilen wollen, was nicht per Telefon mitteilungsfähig wäre? Ich habe mein eigenes Auto hier, hier an meinem Arbeitsplatz, und ich wäre eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, an einem normalen, nein, an einem ungewöhnlich schönen, heißen Frühsommertag, an einem 21. Juni des Jahres 1994. Also sag, was willst du? Ich bin noch nicht dem Bus entstiegen, ich muss noch meine Kinder abliefern, 200 Meter weiter, in der Willi-Graf-Schule!“
Auch schon hier, wo mit mir noch nichts geschieht, was Irritation schon bestätigen würde, zeigt sich, wie Vorstellungskosmen sich impulsiv ergießen, auch Drüsentätigkeit in Gang setzen, Adrenalin ausschütten, schon aversive, abwehrende körpersprachliche Signale mobilisieren, Gedankenströme in einer synchronen Vielfalt freisetzen: „Ist etwas geschehen? Mit unseren Kindern, mit meiner Mutter, mit anderen mir nahestehenden Menschen?“
Deine Sensoren, deine Schemata deuten Haltung, Mimik, Gestik - und dann ---- stilles Entsetzen, kontrollierte Hilflosigkeit, ängstliches Bemühen, zweihundert Meter Zeit gewinnen - andere Menschen, Kolleginnen einbeziehen in diese Abartigkeit, in dieses sich auftuende Höllental menschlicher Nöte. Wenigstens für eine halbe Stunde in der Gegenwart schockierter, betroffener, vielleicht auch peinlich berührter, überforderter Menschen Haltung und „contenence“ bewahren können. Langsames Eintrimmen der Denk-Fühlwelt auf etwas Unfassbares, suchende, unsichere, panische, flackernde Augenkontakte, geschäftiges Regeln von Belanglosem, vorbereiten auf den Gang nach Nirwana, Luftholen für einen langen, endlosen Tauchgang. Seit dem 21.6.1994 lief der Zeitzünder einer Bombe; der Säurezünder ungeklärter Beziehungen frisst sich in den Schutzmantel. Die Karten werden neu gemischt.
Ich sitze im Passat, werde die B9 entlang gefahren und höre im Radio die Meldung über den Absturz einer viersitzigen Sportmaschine in der Nähe von Landshut. Alle vier Insassen sind tot, tot, tot... Was nun geschieht ist die Zuspitzung und Beschleunigung, aber auch die neu konditionierte Atomisierung eines Familienkomplexes: Elementarteilchen - drohendes, sich erfüllendes Menetekel und Aufbruch zur Menschwerdung zugleich. Im Familienkeller stehen viele Fässer: Guter, alter Wein, in Gärung befindlicher Federweißer, Essig, Verdorbenes. Die Erschütterung lässt viele Fässer zerbersten, manche bekommen Risse, laufen langsam aus - alles vermischt sich zu einer undefinierbaren Brühe. Ein mühsamer, aber auch klärender Prozess kündigt sich an, dies auseinander zu destillieren und den eigenen, unverwechselbaren Charakter zu (re)konstruieren: Und immer auch ein Prozess der Dekonstruktion: Viele Mythen werden von nun an in ihrer Brüchigkeit deutlich, die alten Erzählungen tragen nicht mehr.
Im Gedenken an meinen Bruder Willi
(12.11.1955-21.6.1994)
Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete
(übrigens geboren 1887 als Hans Davidsohn, früh sich schizophren zeigend, und am 30. April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn, abtransportiert, um, man weiß nicht wo, wann und wie, vernichtet zu werden – biographische Angaben aus der „menschheitsdämmerung“, ein dokument es expressionismus, berlin 1920, von kurt pinthus 1959 neu herausgegeben – an Jakob van Hoddis ist just an diesem Ort, der ehemaligen Heilanstalt Bendorf-Sayn, auf der Koblenz-Olper-Straße – unweit des Ortes, an dem unserer Wohngemeinschaft in den siebziger Jahren gelebt hat - im September 2001 mit einer beeindruckenden Ausstellung erinnert worden)
Ich bin träge,
Schatten-Schwüle.
Und ich wäge
Die Gedanken-Mühle
Welt verglimmt,
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt,
Konturen schimmern.
Welten-Rauschen
Kinderstimmen.
Hilflos lauschen,
Sinne trimmen.
Sinne schwinden,
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Schlafes-Schlaf.
Fernes Dröhnen,
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen,
Seins-Verloren.
Bin ich wach,
in welchem Raum?
Ist das Krach
In meinem Traum?
Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit,
was auch geschah?
Am Amazonas
Fällt ein Baum!
Ach was!?
Und was ist Deutungsraum?!
Dem Bürger fliegt
Vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
Wie Geschrei.
Ein Flug-Gerät stürzt ab
und geht entzwei,
und in den Köpfen
– spürt man –
steigt die Flut.
Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut.
Der Sturm ist da,
die wilden Meere hupfen.
Und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und stehn am Abgrund;
suchen Brücken.