- Details
Das Wissen darum, wie Kinder in diese Welt kommen – Der absolute Zufall der Geburt (3)
Allein das Wissen darum, wie Kinder gemacht werden, war in dieser Welt mit einem Tabu belegt. Die junge Frau, die nun in Erscheinung tritt, hätte mit der Unterscheidung, ob man ein Kind will oder ob man Sex will, gar nichts anfangen können. Es gab nicht einmal eine Sprache dafür – geschweige denn Ansprechpartner, solche Unterschiede bedenken oder gar besprechen zu können. Auch Sex haben zu wollen war beispielsweise zu Beginn der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz sicher nicht das erklärte Ziel einer eben erst siebzehnjährigen jungen Frau. Und wenn sie noch geahnt hätte, dass das, was sie irgendwie wollte, von dem sie aber so ganz und gar nicht wusste, wie es sich zutragen würde und dass es gar dazu führen kann – und in ihrem Fall sogar unabwendbar dazu führte –, ein Kind zu empfangen, dann wäre die Schwester des Chronisten niemals geboren worden; und so auch nicht ihr Sohn und ihre Enkelin. Wie segensreich doch auch Unwissen sein kann!? Niklas Luhmann hat dafür nur die lapidare Bemerkung übrig, dass die Geburt zwar als Faktum deklariert und in der Regel beurkundet wird, dass sie aber – berücksichtige man, wie es dazu gekommen ist – einen extrem unwahrscheinlichen Zufall darstelle. Und ganz sicher markiert es einen extrem folgenreichen Umstand, wenn infolge des Unaussprechlichen ein Mädchen geboren wird, das seinen Vater niemals kennenlernen wird. Und mehr noch müssen die ursprünglichen Geschehnisse darüber hinaus abgeschattet und im Dunkel bleiben, so dass selbst der Vermerk: „Vater unbekannt“ in der Geburtsurkunde lange unbemerkt bleibt und im Familienarchiv mit einem radikalen Tabu belegt wird. Das hat Folgen, so wie die Tatsache Folgen hat, dass diesem Mädchen zwei Brüder – zwei halbe Brüder – geboren werden, deren Startbedingungen in dies Welt sich in so ganz anderer Weise ausprägen werden.
Exemplarisch mag dies daran greifbar werden, dass eine ungewollte – eine persönliche und familiäre Tragödie auslösende – Schwangerschaft für alle Beteiligten etwas völlig anderes bedeutet als eine erhoffte und mit Kräften ersehnte Schwangerschaft. Dies alles hat der Schreiber zehn Jahre nach dem Tod der Mutter in Hildes Geschichte bereits aufgeschrieben. Ungewöhnlich bis heute erscheinen die Bindungskräfte, die einerseits zwei Wunschkinder – beides Söhne – in starker elterlicher, auch mütterlicher Loyalität halten, die aber gleichzeitig eine starke geschwisterliche Bindung unter allen dreien von der Mutter geborenen Kindern erkennen lassen. Die Tragik dieser singulären Familiengeschichte, die so exemplarisch für ihre Zeit ist, hat viele Facetten: Der Preis, der für ein relativ normales Familienleben zu entrichten war, lag einerseits in der Schweigespirale begründet, die die Mutter-Tochter-Beziehung ganz offenkundig ein Leben lang belastet hat. Andererseits wuchsen zwei Söhne heran in einem familialen Fluidum, dass ebenso offenkundig dazu angetan war, diesen Söhnen eine Haltung zu vermitteln, die alle Formen der Ausgrenzung ausschlossen, eine paradox anmutende Formulierung, die auf sanfte Weise Loyalitätskonflikte andeutet, die auf ganz und gar originelle Weise einen Ausweg finden würden.
Kann man angesichts des historischen Weltbebens in Gestalt der NS-Terror- und Gewaltherrschaft unbefangen von einem kleinen Glück im großen Unglück sprechen? Begründet in den Umständen und dem Ort der Geburt der Tochter im Juni 1942 – genau vier Wochen vor dem 18. Geburtstag der Mutter? Das Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) Flammersfeld im Westerwald bot seinerzeit den absolut geschützten Raum mit geburtsvorbereitender und –begleitender Expertise auf der Höhe der Zeit. So kam ein gesundes, kräftiges Mädchen zur Welt, in dessen Geburtsurkunde aber bereits der Vermerk „Vater unbekannt“ lebensbestimmend werden sollte. Zwar in der Welt zu sein, aber in der Welt zu sein als Ausdruck eines vom Zeitgeist und den mörderischen BeobachterInnen in der Heimat immer wieder signalisierten Ausdrucks der Schande – im Übrigen auch eine Botschaft, die der Großvater der werdenden Mutter mit auf den Weg nach Flammersfeld gegeben hatte – das ist doch eine starke Hypothek!? Und dass zwischen der eigenen Geburt und der Geburt des ersten Bruders in Bad Neuenahr, mit der ich selbst das Licht der Welt erblickte, immerhin zehn Jahre liegen, mag ein äußeres Zeichen dafür sein, dass der Weg zurück in die zivilisierte Gesellschaft – für Ursulas Mutter in Gestalt der Enge einer streng katholischen Spießerwelt ein steiniger war. Ausspucken vor der verkörperten Schande und die üble Nachrede, die sich in Lauterkeit und moralischer Überlegenheit gebärdete, gehörten wohl anfangs zu den alltäglichen Formen der Ausgrenzung. Und diese Ausgrenzung vollzog sich auch im unmittelbaren nachbarschaftlichen Kontakt.
Die einzige vollkommene Ausnahme von diesem, in christlicher Lauterkeit geführten Exklusionsfeldzug manifestierte sich ausgerechnet in Gestalt des Nachbarsohnes. Er allein begann – vor allem auch gegen die eigene Mutter – schon früh seinen eigenen Feldzug zur Eroberung einer geschliffenen Festung. Diese Festung erwies sich vor allem deshalb als schier uneinnehmbar, weil es zur Entfernung der Trümmer, die sich da angehäuft hatten, kein geeignetes Werkzeug gab. Der Schreiber dieser Zeilen spricht andernorts von dem dicken Brett, das sein Vater, Theo Witsch, über viele Jahre gebohrt hat. Seine unendliche Geduld und Ausdauer führte gut sechs Jahre nach der Geburt Ursulas zur Heirat von Hilde und Theo – am 21. August (standesamtlich) bzw. am 18. September 1948 (kirchlich). Da musste sich die kleine Ursula – kurz nach der Einschulung – nicht mehr auf einen vollkommen fremden Mann einstellen, der zwar nicht ihr Vater war, der aber offenkundig schon lange vor der Heirat sein Herz geöffnet hatte für ein Mädchen, dass er dann an Vaters Stelle annahm, und dem er – dafür gibt es keine beredtere Zeugin als jenes Mädchen selbst – ein über die Maßen geliebter (Stief-)vater wurde. Vielleicht ist dies schon die Stelle, an der der überlebende der Brüder Zeugnis ablegen sollte über eine ungewöhnliche Integrationsleistung eines 1922 geborenen Mannes, der seine Jugend, ein Stück seiner Unbefangenheit und seine Gesundheit jenen verbrecherischen Hasardeuren opfern musste, die Europa und die Welt mit Terror und Krieg belegten. Auch er – der nur eineinhalb Jahre ältere Nachbarssohn hatte natürlich keinen Zugang zu dem, was sich in den späten August- und frühen Septembertagen 1941 in Bad Neuenahr zugetragen hatte und ihm schon eine Vaterschaft bescherte, bevor ihm eigene Kinder geboren wurden.
Der Schreiber hat sich sein Leben lang professionell mit der Frage auseinandergesetzt, was man wohl als zuträgliche Bedingungen für einen nachhaltigen positiven Start in sein eigenes Leben betrachten kann. Neben den Schlüsselkategorien Geborgenheit und Zugehörigkeit konnte er die Idee der bedingungslosen Liebe vor allem in Gestalt stetiger liebevoller Zugewandtheit nicht nur in der Theorie als notwendige Bedingungen ausmachen, sondern sie entsprachen auch vollkommen der erfahrenen Praxis im eigenen familialen Umfeld. So hatten die beiden Brüder stets guten Wind im Rücken. Die Schwester hingegen stand primär unter dem Schutzpatronat ihres Stiefvaters, von dem die Brüder erst spät begriffen, dass er nicht Ursulas leiblicher Vater war bzw. sein konnte. So hatten das Familiengeheimnis und das damit verbundene Tabu durchaus auch positive Seiten. In der Gestalt der Schwester – immerhin zehn bzw. fast vierzehn Jahre älter als ihre Brüder – wuchs eine starke, widerborstige, eigensinnige Persönlichkeit heran, die über ein außerordentliches Maß – heute würde man sagen – an Resilienz verfügt. Wer früh um Status und Anerkennung kämpfen muss, ist in seinem Leben eigentlich zu fortgesetztem und möglicherweise auch finalem Scheitern prädestiniert. Dass die Schwester standhielt, nie resignierte und immer – bei allen Rückschlägen und Widrigkeiten in ihrem Leben – Lebenswillen bewies und Lebenslust sich gestattete, macht sie bis heute zu einem besonderen und außergewöhnlichen Menschen. Bei aller selbstbezogenen und kämpferischen Ausrichtung der eigenen Lebensenergie – und ziele lässt sich ein Übermaß an Verantwortung und Empathie erkennen – dies umso ausgeprägter, je älter sie wird; unglaublich angesichts der frühen soziologischen Definition von Benachteiligung: katholisch, ländlich, weiblich – so definierte Erwin K. Scheuch (Kölner Soziologe) in den 50er Jahren die Situation katholischer Mädchen auf dem Lande, zumal im erzkatholischen Rheinland! So lernen wir eminent praktisch und aus Erfahrung heraus den gravierenden Unterschied zwischen formaler Bildung und Herzensbildung.
Bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass – so ganz anders als 1941 – die Bemühungen um (erneute) Schwangerschaft einem mühsamen Geduldsspiel gleichkamen. Franz Streit, dem leiblichen Vater des am 5.6.1942 geborenen kräftigen, gesunden Mädchens, hatte ein einziger Beischlaf genügt, um das Leben anzustoßen; ganz und gar ungewollt, unerwartet, aber billigend in Kauf nehmend, dass jenes Erweckungsgeschehen am 9. September 1941 in Remagen aus Hilde nicht nur eine Frau, sondern eine Frau machen würde, die fortan in guter Hoffnung sein würde, bis sie ihre Ursula hineinbefördern würde in den beginnenden Untergang, dessen Bilanz auch den finalen Blutzoll des Franz Streit am 23. September 1943 (gefallen im Dnjeprbogen bei Saporoshje) ganz selbstverständlich und beiläufig registrieren würde; eine Tatsache im Übrigen, die Hilde und seiner bzw. ihrer Tochter erst mehr als 60 Jahre nach Franzens Tod erreichen würde.
Fast 80 bzw. 70 Jahre nach diesen Ereignissen vermag man vielleicht deutlicher sehen, wie folgenreich sich Schwangerschaften im sozialen Umfeld auswirken: Kam die erste Schwangerschaft denkbar zu früh und ungewollt, so kam die zweite, herbeigesehnte und -herbeigebetete Schwangerschaft eigentlich – und auch zum großen Bedauern des Zweitgeborenen – zu spät. Zu spät, wofür? Eine der immer wieder erzählten Geschichten geht so, dass der Vater Theos und Schwiegervater von Hilde und Großvater von Franz Josef (und Wilfried) nach dem Tod seiner Frau (drei Wochen vor der Hochzeit von Hilde und Theo) keinen Lebensmut mehr hatte – man würde heute von einer durch den Verlust der Ehefrau ausgelösten Altersdepression sprechen. Zweimal hatten die beiden dem Vater mitgeteilt, dass Hilde sich in guter Hoffnung befände; beide Male kam es zum ungewollten Abbruch der Schwangerschaft. Endlich dann bei der dritten Schwangerschaft wollte man die Lehre ziehen und solange warten mit der frohen Botschaft, bis die Schwangerschaft auch stabil und aussichtsreich erschien. Der (Schwieger-)Vater hat – bevor er davon erfahren hat, so geht die Geschichte – dann bei der Fango-Produktion wohl bewusst und willentlich giftige Abgase eingeatmet und ist vor der Geburt seines ersten Enkels gestorben. Der zweite Enkel kam dann 1955. Die Familienplanung war damit abgeschlossen, und fortan lebten die fünf miteinander solange, bis der Tod die Eheleute schied.
Am 24. April 1988 – im Alter von 65 Jahren – starb Theo innerhalb einer Woche an den akuten Folgen eines Herzinfarkts. Zehn Tage zuvor hatte die Familie Theos 65sten Geburtstag in Bad Bodendorf noch groß gefeiert – den Vater auf gutem Wege wähnend. Die Feier ist allein aus einem einzigen Grund besonders zu erwähnen, weil dem Schreiber dieser Zeilen Jahre später beim Anschauen eines Videomitschnitts auffiel, dass zu diesem Festakt keiner der Söhne das Wort genommen hatte, sondern dass die Schwester die Laudatio hielt und dies in beeindruckender Bestätigung des Bekenntnisses, sich keinen besseren Vater vorstellen zu können. Jahrzehnte nach dieser Geburtstagsfeier wirkte dieses Bekenntnis noch einmal wie die verdrängte Bestätigung eines filigranen sozialen Gebildes, in dem der Vater auf unmissverständliche, gleichwohl diskrete Weise der entscheidende Integrationsmotor war.
Dies ist sicherlich umso bedeutsamer, als nach dem Tode Theos die Tochter – zuerst zaghaft, dann aber konsequent und rückhaltlos – damit begann die Frage nach ihrer (väterlichen) Herkunft zu stellen.
- Details
Am Anfang war die Tat (1)
Ein Menschenleben – im kosmischen Zeithorizont nicht einmal der sichtbare Bruchteil einer Nanosekunde. Und doch machen wir uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. „Ich bin nicht tot - Ich tausche nur die Räume - Ich bin bei Euch – Ich geh durch Eure Träume“. Für Michelangelo mag das zutreffen, aber für mich, für meinen Bruder, meine Schwester, meinen Vater, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder, meine Enkelkinder, die Familie im weitesten Sinne und all die, die schon zu Lebzeiten durch meine Träume geistern? Obwohl es sich eigentlich verbietet, gehen wir als Voyeure durch diese Welt; es verbietet sich nicht nur – es macht uns einsam; zu mörderischen Beobachtern unserer selbst und der anderen. Heute – Covid19 als Katalysator im Nacken – hocken wir vor unseren Laptops, Kindln und Mattscheiben. Dort regulieren wir unseren Gefühlshaushalt und versuchen zu verstehen, was mit uns los ist. So lassen wir uns die Welt erklären und sind froh, dass wir nicht verrückt werden. Die Verrückten unter uns hingegen werden der Gnade Gottes teilhaftig, wie George Steiner (Errata - Bilanz eines Lebens, Hanser - München 1999) meint. Diese Verrückten sind bereit ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie sind bereit sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen, die sich manchmal einschreiben in das Seelenpergament derer, die weder standhalten noch zu sich selber stehen.
Im Webmuster eines jeden Lebens, lässt sich ein roter Faden erkennen; manchmal dominiert er das Gewebe, zeitweise kann man ihn nur mit Hilfe einer Lupe verfolgen – ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zerreißen kann. Das Geflecht wirkt streckenweise wie Flickwerk. Dann möchte man das dünne Fädchen wieder aufnehmen und es erneut verknüpfen im dynamischen Patchwork so vieler Fäden. Man bekommt eine Ahnung davon, dass ein Gewebe aus vielen Fäden besteht, miteinander verknüpft, manchmal verstrickt und verknotet. Hilflos versuchen wir – oft genug – die Knäuel zu entwirren, suchen unseren Faden und möchten von vorn beginnen. Der Schreiber dieser Zeilen hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass zum Webzeug zuweilen auch die Schere gehört. Ist man jung, dann träumt man vielleicht davon, dass sich zwei Fäden verknüpfen zu innig miteinander verwobenen Lebensläufen, die erst der Tod zu trennen vermag.
Schau ich zurück auf mein Leben, dann lässt sich nicht verleugnen, dass das Flickwerk einer Schülerliebe in den Frühjahrstagen des Jahres 1979 endgültig in den Schredder geriet. Und der Schreiber meinte sich nicht um das löchrige und mottenzerfressene, ihm viel zu eng gewordene, gemeinsame Kleid scheren zu müssen. Dass er dabei das selbst entworfene Strickmuster verleugnete, war nicht zu übersehen. Er vertraute jetzt einer aufkommenden frischen Brise, die ihm die Segel mächtig blähte und weigerte sich umzukehren und gegen den Wind zu kreuzen. Er wollte sein Leben zurück – ganz! Die alte Liebe – das einst ersehnte ungewählte Band – landete ja nur deshalb im Schredder, weil es galt zwei füreinander eklatant ungeeignete Individuen vor sich selbst zu schützen. Und er hätte damals George Steiner (noch) widersprochen, wenn der ihm gesagt hätte, dass Sexualität bei alledem nebensächlich, vorübergehend sein oder sogar völlig fehlen könne; einer wie Steiner konnte da gut reden – als alter Mann. Der Schreiber dieser Zeilen war dagegen seinerzeit einfach zu jung. Ein Leben muss halt erst einmal gelebt werden, um einen Blick auf die Hinterbühne werfen zu können; eine Hinterbühne, die mit allen Registern – nicht nur der Biologie – dafür sorgt, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe – wie der alte Steiner sagt – in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und in die Seelen zaubert.
An einem trüben Märztag des Jahres 1979 – gegen 21 Uhr – setzte sich der Schreiber also in seine Traurige Lösung, so nannte man seinerzeit die zweitürige Fließheckvariante von VW (1500 TL). Noch in den siebziger Jahren war ihm seine Herkunftsfamilie ein sicherer Fluchtort. Ähnlich wie sein Vater, der als knapp 18jähriger 1941 zum Reichsarbeitsdienst und anschließend in die Wehrmacht einrücken musste, sehnte er sich nach Hause, wenn die Welt da draußen sich sperrig und feindlich zeigte. Hatte er Landskrone und Neuenahrer Berg mehrere Wochen nicht gesehen, rührte sich das Heimweh, wo andere das Fernweh in die Welt lockte. Die vergangenen Tage in seinem Dachzimmer – im geschützten Raum seiner Kindheit und Jugend – hatten in keiner Weise für eine Klärung seiner chaotischen Stimmungslage gesorgt. Ganz im Gegenteil drängten sich all die Bilder übermächtig wieder in sein Bewusstsein, die 1974 mit dem Aufbruch nach Koblenz verbunden waren. Zu sechst ging der Weg seinerzeit nach dem Abitur in die größte Garnisonsstadt Deutschlands – dorthin, wo niemand wirklich hinwollte. Die Universität zu Bonn hatte er sich erwählt als ehrwürdige Alma Mater - Germanistik und Philosophie waren die Fächer seiner Wahl. Wäre er seiner Wege gegangen seinerzeit, gänzlich andere Geschichten wären hier zu erzählen. Und die Lebensläufe so vieler Menschen hätten so gänzlich andere Wege genommen.
Am Abend des besagten trüben Märztages machte sich der Schreiber also auf den Weg und fuhr jene ihm vertraute Strecke ahrabwärts und dann rheinaufwärts Richtung Koblenz. Dass er sich entlang der historischen, mittelalterlichen Hauptverkehrsachse bewegte, die über 1000 Jahre lang Frankfurt mit Aachen verband – 600 Jahre war Aachen Krönungsstadt – erinnerte ihn daran, dass viele der in Aachen zu krönenden Könige auf genau dieser Passage gereist waren. Der Weg diente zugleich als Heerstraße, Pilgerweg und gehörte auf diese Weise lange zu einer bedeutenden Handelsroute zwischen Italien und Flandern. Die ersten Kilometer, vorbei am Apollinarisbrunnen, durch Heppingen an Heimersheim und Lohrsdorf vorbei in Richtung Sinzig, gehörten allerdings nicht zur alten, historisch verbürgten Heerstraße, die von Bodendorf aus über die Grafschaft Richtung Aachen führte. Dort, wo sich nach einer scharfen Linkskurve das Ahrtal endgültig öffnet und den Blick auf Bodendorf und die Goldene Meile freigibt, überkam ihn seit Kindestagen regelmäßig eine merkwürdige bis unheimliche Anmutung. Dort in dieser scharfen Linkskurve war 1962 ein Freund seines Vaters bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ein bekannter Neuenahrer Taxiunternehmer, der wenige Wochen zuvor ihn selbst, seinen Bruder und seine Mutter nach Flammersfeld im Westerwald gefahren hatte. Nach einwöchigem Aufenthalt, dort, an einem Ort, der – jenseits einer aufmerksamen oder auch nur gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung – immer schon eine bedeutsame Rolle im Leben seiner Mutter und letztlich der Familie gespielt hatte, holte W.T. in Begleitung des Vaters die Mutter und die beiden Söhne ab, um weiterzufahren nach Frankfurt zu einem Besuch des Frankfurter Zoos – dem Zoo Bernhard Grzimeks. Damals fuhren sie in einem historischen Dreieck zuerst über die alte Heerstraße, dann über die Neuwieder Rheinbrücke über die Raiffeisenstraße durch den Westerwald und den Taunus nach Frankfurt, um auf dem Rückweg die Bäderstraße entlang zu fahren über Wiesbaden bis nach Lahnstein/Koblenz. Der Unfalltod des W.T. hatte sich eingebrannt in die kindliche Erinnerung. Er hatte einen Sohn im Alter seines Bruders, und er hatte vor allem eine außerordentlich humorvolle, tröstende und geduldige Haltung offenbart gegenüber seinen gleichermaßen peinlichen wie unabwendbaren Übelkeitsattacken auf den kurvenreichen Strecken durch Westerwald und Taunus.
Es kam dem Schreiber merkwürdig vor, wie sich verschwommene Eindrücke überlagerten, die ihn immer wieder erinnerten an das singuläre Ereignis Flammersfeld und die über fast ein Jahr täglich erfolgte Bahnfahrt von Bad Neuenahr nach Remagen, um dort umzusteigen und den Zielbahnhof Bonn anzusteuern. Nach der achtjährigen Volksschule war er seiner Cousine 1965 gefolgt und hatte nahezu ein Jahr verschenkt durch den Besuch einer privaten Handelsschule – obwohl: Wenn er sich jetzt so beobachtete, wie die Finger seiner beiden Hände über die Tastatur flogen, dann hatte er dort doch ein beträchtliches Kapital angehäuft, das ihm in Zeiten des Studiums immer wieder zu einem bescheidenen Zubrot verhalf und ihm vor allem immer wieder ermöglichte – fast in Echtzeit – seine Gedanken in mehr oder weniger sinnvollen Buchstabenfolgen – verdichtet zu Wörtern und Sätzen – auf den Bildschirm zu bannen. Aber das war lange nicht alles, was sich sozusagen an einem offenkundigen Wendepunkt seines jungen Lebens, der sich nur in Gestalt einer verschwommen Ahnung andeutete, beim langsamen Befahren der B266 kurz vor der Auffahrt zur B9 bei Sinzig an wirren Eindrücken in sein Bewusstsein drängte.
Er hatte es nicht eilig, obwohl er seine Ankunft in der Löhrstraße in Koblenz kaum erwarten konnte. Diese merkwürdige, paradox anmutende Spannung begleitete ihn schon seit Tagen und Wochen. Sie drängte nach Auflösung und Spannungsabfuhr, typisch für einen Zustand, in dem das Alte nicht sterben kann und die Geburtswehen des Neuen sich immer drängender in den Vordergrund schieben. Auf der unterdessen vierspurig ausgebauten B9 konnte er sich bedenkenlos zurücknehmen. Dass ihn fast alle anderen Verkehrsteilnehmer überholten, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der gewaltigen Kraft, die ihn vorwärtstrieb. Er kannte diesen Widerspruch aus seinem inzwischen zu einer absoluten Marotte ritualisierten Erleben der Adventszeit. So dehnte er die sich nach und nach aufbauende Erwartung bis hin zum 24. Dezember, dem Heiligen Abend, bis zum allerletzten Augenblick, in dem sich ein gleichermaßen einsames wie genüssliches Ausleben dieser Spannung in einem überaus kostbaren wie flüchtigen familiären Fluidum aufzulösen begann. Und die Zeit zwischen den Jahren – zwischen Weihnachten und Neujahr – glich einer Insel im Meer der Zeit, einem Zustand ex tempore.
Das lag nun schon für das Jahr 1978 viele Wochen hinter ihm; Wochen in denen sich für sein Leben – da blieb kein Raum für Zweifel – eine massive Wende ankündigte. Und wenn sich sein Leben wenden würde – auch da war er inzwischen alt und erfahren genug – bedeutete das für die Menschen, mit denen er verbunden war, gleichermaßen eine Wende. Während sich allerdings die vorwärtstreibende Kraft dieses Wandels für ihn mit einem Aufbruch verband, gerieten die Turbulenzen, die er auslöste, für sein bisheriges Gegenüber zu einem reißenden Strom, hinein in die Bodenlosigkeit.
Auch nach zweiundvierzig Jahren haben die Ereignisse des Frühjahres 1979 immer noch den Geschmack des harten Brotes dieser Tage. Geht man selbstgerecht mit allen Widrigkeiten und Verstrickungen um – wie es seiner anfänglichen Haltung entsprach –, dann findet sich im hintersten Winkel des Rucksacks dennoch und immer wieder eine Krume dieses Brotes. Man muss sie gemeinsam noch einmal hervorholen, um sie zu zerbröseln und dem Wind zu übergeben. Das Abwesende müsse präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist – so sagen die einen!?
Wenn nur einer darauf besteht, füreinander eklatant ungeeignet zu sein, muss er sich losreißen, wo der andere festhält. Gerät das Festhalten zum wimmernden Klammern, gerät das Klammern zu einer erbarmungswürdigen Selbsterniedrigung und vermag der andere dem nichts entgegenzusetzen als eine vollkommen erloschene Glut, ein Häuflein Asche als Erinnerung an den innigen Aufbruch, dann sind die Wunden tief und wollen lange nicht heilen. Die Bitterkeit dieser heillosen Lähmung gewann ihre Tiefe und ihren galligen Geschmack aus einer fatalen Umkehrung der Rollenverteilung. Sieben Jahre zuvor wollte sich der nun Flüchtige mit fortgesetzter Zurückweisung nicht abfinden. Hätte er doch nur damals aufgegeben – kam ihm nun immer wieder in den Sinn. Die Hypotheken, die er sich jetzt auflud, wogen umso schwerer und würden ihn eine lange Wegstrecke begleiten.
(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz? Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)
Er versuchte solchen gedanklichen Attacken zu entkommen und näherte sich der Hochbrücke bei Andernach. Sein Fahrtempo entsprach nun der verordneten Geschwindigkeitsbegrenzung, und er kam sich selbst wie eine Schnecke vor, die mühsam über einen Kilometer aufwärts kroch – weg von der Talsohle auf die Höhe. Nach wenigen Minuten öffnete sich der Horizont und gab den Blick frei auf das Neuwieder Becken, vor allem auf den fertiggestellten Kühlturm des AKW Mühlheim-Kärlich, der wie eine riesige Blumenvase die Horizontale dominierte – das Menetekel eines historischen Irrwegs. Die verdrängte alte Welt sollte endlich einer Erwartung weichen, die sich allerdings nicht nur wegen der mühsam abgeschatteten Bedrängnisse keineswegs als gänzlich ungetrübt erwies.
Claudia wohnte damals – als Einzelkind auf der Flucht vor häuslicher und familiärer Enge – gemeinsam mit ihrer Freundin Gabi in einer 2ZKB-Wohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße. In der besonderen Weltwahrnehmung des Schreibers dieser Zeilen war die platonische Vorstellung von den zwei Hälften, die auf der ewigen Suche nacheinander sind, tief verankert. Die erste gewaltige Welle einer Destruktion dieser kindlichen Vorstellung rollte soeben wie ein Tsunami über seine heillosen Versuche einer ersten solchen Verirrung zu entkommen; nicht etwa um sein Weltbild zu korrigieren und einem wie auch immer begründeten Realitätsprinzip stärkere Geltung einzuräumen. Seit Monaten – eigentlich seit dem ersten Erscheinen auf der kleinen Bühne der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule – vernebelte ihm Claudia jeden Schritt in eine halbwegs von Liebesblödigkeit ungetrübte Weltsicht. Er blieb dem Steinerschen Verdikt tief verhaftet, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Die Ereignisse jener Märztage 1979 bildeten den grandiosen Auftakt dafür, dass hartes Brot für viele Jahrzehnte sein Leben begleitete; ein Auftakt, der auf so unfassbare Weise die Steinersche Weltsicht bekräftigen sollte, und der gewiss ohne die vielfältigen Einflüsterungen, die ihn begleiteten, wohl niemals jenen verrückten und aberwitzigen Verlauf genommen hätte.
Gegen 22 Uhr an jenem trüben Märztag lenkte der Schreiber sein Auto vom Friedrich-Ebert-Ring kommend rechts in die Obere Löhrstraße. Um diese Zeit war dieser Straßenabschnitt immer noch recht belebt, da die Spätvorstellungen in den Kinos liefen und die Restaurants gut besucht waren. Keine einzige freie Parknische bot sich an. Er musste in die Schleife rund ums Carré – Richtung Bahnhof, dann abbiegend in die Roonstraße, um über die Bahnhofsstraße und den Friedrich-Ebert-Ring erneut die Obere Löhr anzusteuern. Unmittelbar vor der Metzgerei Waldrich fand er unverhofft eine Parklücke und versuchte sich zu sortieren. Wie unendlich weit weg ist die Vorstellung heute, dass man nicht j e d e r z e i t per Handy seinen Standort, sein Kommen – auch sein Begehren, seine Sehnsucht, seine Verzweiflung, sein D a s e i n signalisieren konnte: Ich bin hier – wo bist Du?
Er stieg aus, sammelte sich, ging zur Haustüre, klingelte und wartete und klingelte erneut – und wartete. Es war kühl, er war nervös. Die Haustür war verschlossen und auch wiederholtes Klingeln – Sturmklingeln änderte daran nichts. Aber die Verabredung für den heutigen Abend war unmissverständlich beidseitig – abgesprochen in großer Vorfreude. Er hatte kalte Füße, ihn fröstelte zutiefst. War das alles ein Irrtum? Hatte Claudia noch kältere Füße bekommen, war sie vielleicht gar nicht zu Hause, oder verleugnete schlicht ihre Anwesenheit?
Die beiden kannten sich nicht. Die Lawine, in deren anschwellender Dynamik er sich jetzt wiederfand, hatte er selbst mit einer Einladung Claudias und ihrer Freundin Iris zur großen Sylvester-Fete zweier befreundeter Wohngemeinschaften losgetreten. Allein diese Einladung war schon ein absolutes Alarmsignal und bedeutete für E. – seine Lebensgefährtin – einen klaren Affront, hatte er dies doch bewusst und gänzlich ohne Rücksichtnahme auf noch bestehende Beziehungsverhältnisse verfügt. Im Winterchaos des Jahreswechsels 1978/79 kam es dann auch folgerichtig zur Verabredung auf einen Kaffee bei Claudia. Deren Wohnung war ihm sogar schon bekannt. Einmal hatte er sie und eine Freundin aus der Vorhölle, der Studentenkneipe auf dem Oberwerth, mit in die Stadt genommen und war noch auf ein Bier mit in die Löhrstraße gefahren. Und Gabi – Claudias Mitbewohnerin – hatte ihn zur gemeinsamen Einweihungsfete eingeladen. Das erste wirkliche und erklärte Antichambrieren, das unmissverständlich Claudia galt, war erst wenige Wochen her und hatte zur heutigen Verabredung geführt. Ganz und gar merkwürdig und für ihn vollkommen ungewohnt hatte er sich bei diesem Antichambrieren für fast eine Stunde zwischengeparkt gefühlt. Gabi, die Mitbewohnerin Claudias, die er schon länger kannte, hatte ihn an der Wohnungstüre empfangen und mit dem Hinweis in ihr Zimmer gelenkt, Claudia wäre noch im Gespräch mit einem Berater der Krankenversicherung. Er erinnerte sich an ein durchaus kurzweiliges Intermezzo bei Kaffee und verspätetem Weihnachtsgebäck. Jahre später sollte er erfahren, dass er tatsächlich in eine Warteschleife geschickt wurde, weil Claudia sich erst noch von einem Gast verabschieden musste, der ihm – und dem er – nicht begegnen sollte. Claudia war angeblich ohnehin lange der Meinung, er sei doch viel mehr an ihrer Mitbewohnerin interessiert und hatte schlicht mehrere Eisen im Feuer. Dass sie Feuer hatte, hatte sich ihm im Übrigen auf dieser Einweihungsfete extrem ins Gedächtnis eingeschrieben. Er war zu früh und bekam ein Telefongespräch zwischen Claudia und ihrem Vater mit – nie hatte er telefonisch ein solch gewitterträchtiges Funkenschlagen erlebt. Auf dem Höhepunkt dieser Fete kam es dann zu einem Eklat, weil wiederum R. sich eine kräftige Ohrfeige einfing. Irgendwie musste es mit der Tatsache zusammenhängen, dass er Claudias letzter fester Freund war, der sich noch darin zu üben hatte, den aktuellen Status quo zu realisieren.
All dies und noch viel mehr ging ihm durch den Kopf. Er stand vor verschlossener Haustüre wie ein begossener Pudel. Die Vorstellung, dass Claudia tatsächlich kalte Füße bekommen hatte, gab ihm mehr und mehr Sinn. Er hätte sich selbst nicht einen Millimeter über den Weg getraut; was sollte Claudia veranlassen Nähe zuzulassen, gar zu suchen – zu ihm??? War er doch nichts anderes als einer dieser typischen treulosen, orientierungsschwachen jungen Männer, die ihr reihenweise begegneten und den Hof machten! Den Hof machen?
Erst einmal wechselte er die Straßenseite. Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss und präsentierte sich zur Straßenseite hin mit zwei großen Fenstern, jeweils – in Ermangelung von Rollläden – mit schweren Stoffvorhängen abgedunkelt. Trotz dieser, keinerlei Einsicht gewährenden, blickdichten Vorhänge hatte er den Eindruck einen Unterschied auszumachen, so dass sich in ihm die Wahrnehmung breit machte, in Claudias Zimmer müsse eine Lichtquelle für einen sanften Unterschied sorgen – vielleicht Kerzenlicht? Die Gedankenorgel kam nun so richtig in Fahrt und die unteren Register bliesen ihm entgegen: „Das geschieht Dir Recht, mitten im Schlamassel eines ungeklärten Beziehungsdesasters, der alten Enge noch nicht wirklich entwachsen, zeigt Dir jemand deine Grenze; Claudia hatte ganz einfach diese Verabredung vergessen, oder ignorierte sie schlicht, beherbergte möglicherweise einen Gast (vielleicht jenen Gast, dem er seinerzeit schon nicht begegnen sollte) und schickte ihn dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ja, wo kam er denn eigentlich her?
Er wollte weg! Er hatte das Gefühl, seine Seele verkauft zu haben und wollte sein Leben zurück. Die Welt und das Herz war ihm eng; seit Jahren hatte er das Gefühl in dieser Enge zu ersticken. Der gemeinsame Weg von Bad Neuenahr nach Koblenz war unzweifelhaft ein Irrweg. Diese Einsicht hatte sich bereits nach wenigen Wochen des ersten gemeinsamen Wohnens in der ersten gemeinsamen Wohnung offenbart: Wo gehst du hin? Wo kommst du her? Wann kommst du zurück? Mit wem triffst du dich? Muss das denn schon wieder sein? Er hatte sich bereits zu Schulzeiten politisch interessiert und engagiert. Schon im November schloss er sich der GEW-Hochschulgruppe an. Der Weg mit den anderen Neuenahrern in eine Wohngemeinschaft führte 1976 zu einer vordergründigen Beruhigung und verdeckte viele Konflikte. Wie lernt man eigentlich Partnerschaft – wie gelangt man aus einer romantischen Liebesbeziehung in eine liebevolle, verantwortliche Partnerschaft, ohne sich gänzlich zu verlieren? Es war nur eine dumpfe Ahnung, dass einem die Welt gänzlich zum Nagel gerät, wenn man kein anderes Werkzeug zur Hand hat als einen Hammer.
Dass die erste Liebe auch die einzige bleibt, das soll vorkommen. Nach einem langen Leben nimmt man dies ungläubig zur Kenntnis und weiß es in der Regel besser. Aber er wusste es nicht wirklich besser. Und er wollte Claudia den Hof machen – den H O F!!! In der der Gefahr wächst das Rettende auch! Das Rettende? Die Häuser der oberen Löhrstraße hatten dort ihre Hauptzugänge mit Eingangstüre und Klingel. Sie waren aber gleichermaßen über die Bahnhofstraße begeh- und vor allem befahrbar; die Warenanlieferung erfolgte über die Hinterhöfe und selbstredend gab es einen Hinterhofzugang, der in der Regel unverschlossen war. So bewegte sich der Schreiber auf kürzestem Weg um den Block und betrat das Grundstück über den Hinterhof. Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Er stieg die 18 Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf und versuchte es erneut: Klingeln – Klopfen – Klingeln – Klopfen! Zwischen Ernüchterung, Wut und Verzweiflung stellte sich die Frage: Was tun??? Den Schwanz einkneifen und den Rückzug antreten!? Dafür war er nicht hier, und dafür war er nicht gemacht – weiß Gott, danach stand ihm nicht der Sinn. Spontan brach sich die ihm eigene Sturheit, gepaart mit einer dumpfen Liebesblödigkeit Bahn. Lange vor Gerhard Schröder spürte er, wie sich alles Sehnen, alle Energie, aller Eigensinn begann zu fokussieren auf ein zentrales Ziel: Ich will hier rein – ich muss hier rein, jetzt und heute – unverzüglich! (hätte Schabowski gesagt). Und jener Steiner hätte nun beobachtet, dass sich Gott seiner erbarmte mit der Halluzination eines Lichts nicht von dieser Welt.
Er erlebte die folgenden Minuten in einer ähnlichen Entrückung. Und dennoch begann er mit kühlem Kopf die Gesamtlage zu sondieren: Das Treppenhaus verfügte unterhalb jedes Treppenabsatzes – jeweils etwa von der dritten Stufe treppab aus zu öffnen – über schmale Fensterluken, die auf einen Lichtschacht hin ausgerichtet waren. Öffnete man die Luke und kletterte auf die Fensterbank, erblickte man – schräg nach oben versetzt – das Fenster zum Badezimmer der Einlass verweigernden Wohnung von Claudia und Gabi. Unterhalb befand sich ein Glasdach, das den Lieferanteneingang zur Metzgerei vor Regen schützte. Das Badezimmerfenster verfügte über eine solide Fensterbank mit einer Tropfkante. Etwa einen Meter unterhalb dieser Fensterbank verlief in der Horizontale ein ca. zwei Zentimeter breiter Absatz in Art einer Putzkante. Gelang es in einem flüssigen Bewegungsablauf Fuß zu fassen auf diesem Absatz und gleichzeitig Halt zu finden an der Fensterbank, um sodann unverzüglich das Fenster aufzustoßen – sollte es nicht verriegelt sein –, oder aber im Falle der Verriegelung mit einem einzigen gezielten Ellbogenstoß die Fensterscheibe zu demolieren, hätte man die Chance, Einlass zu finden. Das Treppenhaus lag ruhig und verlassen, kein menschliches Wesen ließ sich blicken oder vernehmen. Er war alleine und unbeobachtet. Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Das worst-case-szenario würde mit einem Absturz in das etwa zwei Meter unterhalb aufgespannte Glasdach enden. Dabei würde er sich aller Voraussicht nach nicht das Genick brechen, aber einen Höllenlärm verursachen und Gott und die Welt – und ganz sicher die Polizei – auf den Plan rufen.
Der Schreiber dieser Zeilen war in jenen Jahren ein durchtrainiertes Leichtgewicht, das bei 187 cm Körperlänge etwa 74 Kilogramm Lebendgewicht auf die Waage brachte; als Bezirksschulmeister im Hochsprung hatte er 1972 seine eigene Körperlänge übersprungen. Er trug eine Lederjacke und Boots mit einer recht steifen Besohlung. Was sich nun zutrug, stand möglicherweise unter göttlichem Segen, und sollte er hier bis heute einer Wahnvorstellung aufsitzen, so hatte er ganz unzweifelhaft eine andere Schutzmacht auf seiner Seite. Er wog die Chancen mehrmals ab, taxierte die Entfernungen und war schließlich fest entschlossen. Bei der worst-case-Erwägung kamen ihm seine Eltern in den Sinn; Vater und Mutter hatten immer blindes Vertrauen gezeigt, auch in wendepunktträchtige Entscheidungen, wie seinerzeit bei der eigenmächtigen Durchsetzung des Wechsels von der Privaten Handelsschule zum Are-Gymnasium in Bad Neuenahr. Ein letztes Zögern verbat sich nun allein schon aus den Einflüsterungen, die er – bei der Ehre seiner Mutter – überdeutlich vernahm. Er sah vor allem die Mutter, die ihn ermunterte und ihm die Sicherheit vermittelte das Richtige zu tun. Alle Erwägungen, ob dies nun Recht sei oder sittsam, spielten überhaupt keine Rolle. Sein Handeln stand einzig unter dem Steinerschen Verdikt, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Zugegebenermaßen war sein Vorhaben nicht nur irrational, sondern zweifelsfrei idiotisch, wenn nicht selbstmörderisch. Erst zwanzig Jahre später sollte er vollends begreifen, warum gerade die Mutter die Patenschaft für seinen aberwitzigen Husarenritt übernommen hatte.
Er vergewisserte sich, ob das Umfeld weiterhin ruhig blieb, stieg auf die Fensterbank der Luke zum Lichthof, taxierte noch einmal genau Abstände und Sachverhalte, den zu erreichenden Absatz und die Griffigkeit der Fensterbank – die schien aus geriffeltem Basalt zu bestehen. Dann atmete er tief durch, machte einen weiten Ausfallschritt, kam unterhalb des Badezimmerfensters zu stehen, versuchte gleichzeitig mit den Fingern der rechten Hand die ausgefräste Führung der Tropfkante zu greifen, während der Daumen im Verein mit den Fingern wie eine Zwinge die Fensterbank von oben klammerte. Dies gelang innerhalb weniger Sekunden. Und es blieben nur wenige Sekunden, sich klammernd auszubalancieren und in einem finalen Rettungsakt das Fenster aufzustoßen. Es verschwimmt zwischen akuter Panikattacke und einer verzweifelten Willensanstrengung zuerst realisieren zu müssen, dass das Fenster verriegelt war, um dann mit letzter Kraftanstrengung den linken Ellenbogen in die Fensterscheibe zu rammen, die splitternd und klirrend zerbrach (die Vorstellung jenes Badezimmerfenster hätte seinerzeit bereits über eine einbruchsichere Doppel- oder Dreifachverglasung verfügt, wirkt heute noch schweißtreibend). Der endokrine finale Mix aus Adrenalin und Testosteron hatte inzwischen jede abgeklärte, eiskalte Haltung in einen Zustand innerer Wallung verwandelt, so dass sich die nächsten Schritte wie in Trance vollzogen. Er fand sich inmitten des kleinen Badezimmers wieder. Der Einbruch selbst hatte sicherlich nicht mehr als eine gute Minute gedauert. Dass dieser Gewaltakt eine unüberhörbare Lautkulisse erzeugt hatte, brachte ihn sekündlich in die reale Welt zurück. Zu seiner Verblüffung blieb alles totenstill, in der Wohnung genauso wie im gesamten Haus. Nun half es nicht mehr Beistand bei Vater, Mutter und allen Schutzheiligen zu suchen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte er sich in einen irren Hasardeur, der glauben musste einen lupenreinen Grand auf der Hand zu haben. Aber das hier war keine Skatrunde, und urplötzlich stand die Frage im Raum, ob er sich nicht maßlos überreizt und verzockt hatte? Warum rührte sich nach dem Zersplittern des Fensters immer noch nichts. Dass Gabi nicht zu Hause war, war von Anbeginn seiner Bemühungen klar, aber was war – verdammt noch mal – mit Claudia?
Er schaltete das Licht ein und setzte sich auf den Badewannenrand, sah, dass er an der Hand blutete, stand auf und wusch sich das Blut ab. Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und blickte in das Gesicht eines… ja, in wessen Gesicht blickte er da? Eines irren, liebesblöden Einbrechers, der sich jetzt den Konsequenzen seines Handelns stellen musste!? Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob hier eine Heldengeschichte geschrieben wurde, oder ob ein betrogener Betrüger sein Waterloo erfuhr. Immerhin so viel lässt sich sagen, dass Claudia während der vergangenen Stunde, in der jemand alle Zustände des Verrücktseins durchlebte, Leib und Leben riskierte, straffällig wurde und alle mehr als berechtigten Selbstzweifel halluzinativ und endokrinologisch in Schach hielt und dabei das Vermögen entfaltete, dem Schacht zu entgehen, in aller Seelenruhe in ihrem Bett lag und schlief – fahrlässig zumal, weil sie einer Kerze erlaubte ein schütteres Licht auf ihre weltentrückte Schönheit zu werfen.
Und der Schreiber war gut beraten, 42 Jahre und 5 Minuten Abstand zwischen sich und den geschilderten Ereignissen wachsen zu lassen. So kommt er heute endlich in Augenhöhe mit Steiner, der vor gut zwanzig Jahren – damals just im Alter des Schreibers – glaubte behaupten zu können, dass erstens die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, einiges für sich hat, und dass sich zweitens damit die Schlussfolgerung ziehen lasse, dass all dies für die jeweils Handelnden Sinn mache – und zwar jenseits aller Vernunft, jenseits von Gut und Böse und sogar jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sei. Die hier geschilderten Ereignisse aus jenen trüben Märzstunden im Frühjahr 1979 befüllen jedenfalls eine bis heute nicht versiegende Sinnquelle.
Über den Sinn, den diese Ereignisse für das begehrte Gegenüber, jene einzigartige schlaftrunkene und weltentrückte Schönheit hatten, mag der Schreiber nicht wirklich spekulieren. Dass uns in wenigen Monaten die Rubinhochzeit (40 Jahre) winkt und die Glocken läuten für ein erhofftes fürsorgliches Finale mag als Antwort überzeugen. Und wenn Pascal sagt, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, so würde Pascal sich heute die Augen reiben: Denn das Herz triumphierte in den Märztagen des Frühjahrs 1979 – und man hört es heute noch pochen; und so wie das Herz den Verstand belebt, so gibt der Verstand dem Herzen heute so viele Gründe, an denen es sich erbauen kann. Allein aus diesen Gründen lohnt es den Geschichten nachzugehen, die der Schreiber hier festhalten möchte – auch für die Nachwelt
- Details
Kurz vor Schluss II
Vorbemerkung I
Bevor es losgeht mit dem zweiten Teil von Kurz vor Schluss ist es aus meiner Sicht hilfreich auf zwei Ausgangspunkte hinzuweisen, ohne die das Nachstehende vielleicht unverständlich(er) bleibt - unverständlicher als ohnehin. In Kurz vor Schluss I stand bei allen biografischen Auslassungen das Motiv des Dankes im Vordergrund: Der Mensch ist, weil er sich verdankt - genealogisch und nahezu in jeder Hinsicht (diesen Gedanken habe ich von Fulbert Steffensky übernommen); in den meisten Fällen - in nahezu allen Lebensläufen - gibt es aber eben auch besondere Umstände, die man als Zufälle begreifen kann: Aus der philosophischen Perspektive Odo Marquards sind wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Mit unterdessen siebzig Jahren ist mir bei alledem aber auch deutlich geworden, dass eben genau diese angedeuteten Umstände auch dazu hätten beitragen können regelrecht verrückt zu werden. Deshalb beginne ich - sozusagen im Sinne einer Einleitung der Einleitung - damit, zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass ich mich durchaus in einem gewissen Sinne für verrückt halte - vermutlich würde man ansonsten die Anstrengungen von Kurz vor Schluss I und II gar nicht auf sich nehmen. Bemerkenswert bei dieser Diagnose ist die Einsicht, dass man selbst immer auch Anteil hat am Verrückt-Werden anderer. Was als flapsige Bemerkung aufgefasst werden könnte, hat einen handfesten Hintergrund, den man mit Humor, durchaus aber auch mit Betroffenheit beschreiben und bewerten kann.
Vom Verrücktwerden (0)
Ich bin ein wenig verrückt. Der Maßstab dafür ist ein Unterscheidungsmerkmal, dass mich von all meinen Verwandten und Bekannten deutlich unterscheidet: Ich bin schreibbesessen (jeder hat da so seine Obsessionen – Claudia macht es in Farbe, und so viel besser als ich; schaut Euch doch einmal das Eingangsportal zum Heyerberg Numero 11 an - ein Geschenk Claudias zu meinem Siebzigsten, das mein Herz und meine Augen Tag für Tag erfreut!). In den letzten 25 Jahren habe ich tausende von Seiten beschrieben. Peter Sloterdijk spielt in seinen Poetik-Vorlesungen aus dem Jahr 1988 mit der Vorstellung, dass jeder Mensch eine Silbe verkörpere, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort zum Text. Er spricht davon, dass durch viele Schreibversuche hindurch eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe stattfinde. Diese Annäherung hat sich freilich auf intensivste Weise Bahn gebrochen in meiner Lyrik – vielleicht führt mein nächstes Projekt einmal alle meine lyrischen Versuche zusammen?
Für die hier vorliegende Anstrengung weise ich einleitend darauf hin, dass ich haarscharf dem tragischen Schicksal eines Verrückten entgangen bin – das meint einen Tatbestand - vielleicht besser Gemütszustand, der in der Regel als pathogen empfunden und manchmal auch so diagnostiziert wird! Mir ist nur aufgefallen, dass das Verrücktsein und das Verrücktwerden in einem ganz und gar gewöhnlichen Wortsinn eine unvermeidliche Grunderfahrung in einem langen Leben ist. Die Behauptung: Ich bin verrückt begreift man normalerweise - wie weiter oben angedeutet - als eine Pathalogisierung des eigenen Zustands, des eigenen Befindens. Die Tatsache, dass man verrückt (ge)worden ist, beschreibt aber nichts weiter als eine schlichte Tatsache, die man sich in aller Gemütsruhe vor Augen führen kann. Einer der größten Fußball-Philosophen hat in einem aufsehenerregenden Interview einmal eine gleichermaßen frappierende wie aufschlussreiche Formulierung in die Welt gesetzt: Ich habe fertig! Gewiss unterstellen ihm viele, er habe schlicht sagen wollen: Ich bin fertig! - hier und jetzt in diesem Augenblick.
Bezogen auf das Wortfeld verrücken – verrückt werden kann man den umgekehrten Weg gehen, um auf bemerkenswerte Unterschiede in der Frage zu stoßen, ob der Mensch nur gelebt werde oder ob er auch aktiv und gestaltend in sein Leben eingreift? So hat die Selbstbeschreibung: Ich bin verrückt gewiss eine vollkommen eindeutige Botschaft zum Kern. Sage ich hingegen: Ich verrücke bzw.: Ich habe verrückt, treten offenkundig andere Optionen in den Vordergrund. Dabei geht es nicht nur darum, beispielsweise Möbel oder andere Gegenstände/Sachen zu verrücken. Es könnte vielmehr auch darum gehen, in bestehenden Beziehungen einen anderen Ort einzunehmen oder anderen einen anderen Ort zuzuweisen, also sich selbst oder andere zu verrücken. Aktive Handlungen und Gestaltungsabsichten in diesem Sinne können durchaus zur Folge haben, dass die/der ein oder andere verrückt wird – räumlich, aber auch seelisch und gemütsbezogen. Verrückt zu werden führt in der Regel zu Kränkungseffekten – Kränkungseffekte initialisieren häufig aber auch entsprechende Prozesse. Und die wenigsten vermögen sie als Chance zu betrachten. Zumal man selbst dabei in eine passive Rolle gerät. Davon handelt und erzählt dieses Buch.
Vieles in Kurz vor Schluss II folgt solchen Logiken. Verrückt zu werden – das ist die Leitunterscheidung, an der sich vieles scheiden lässt und die im vorliegenden Buch eben meine Welt(en) (unter)scheidet und für Trennschärfe sorgt: Gutes und Schlechtes; Kränkendes und Ermunterndes; Zornerregendes und Besänftigendes; Krankmachendes und Heilendes; Erfreuliches und Trauer-Auslösendes; Leidenschaftlich-Beflügelndes und Lähmend-Herabziehendes.
Das gesamte Buch verstehe ich mit einem Zitat Dirk Baeckers unter diesem speziellen Blickwinkel. Selbstverständlich – wie in allen Büchern – überwiegt bei alledem der Dank dafür, nicht völlig verrückt worden zu sein – in eine Ecke gestellt worden zu sein und dort verharren zu müssen; in eine Ecke, in die ich mich zeitweise selbst gestellt habe. Wem könnte ich dabei mehr danken als Claudia und meinen Kindern (und meiner großen Familie)? Bevor ich Dirk Beacker das Wort gebe, hilft mir daher George Steiner – eine Entdeckung der letzten Jahre. Dieses erste Zitat kann einen angesichts des gegenwärtigen Rückfalls in die Barbarei verzweifeln lassen. Ich möchte es aber – zumindest für mich – verstanden wissen als Hoffnung in einer abartigen Welt. Machen wir sie ein bisschen besser!
George Steiner (in: Errata – Bilanz eine Lebens, München 1999, S. 220-221): „Liebe ist die dialektische Entsprechung zu Haß, ihrem spiegelbildlichen Gegensatz. Liebe ist in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder es Irrationalen. Wie über die (verdammte) Suche nach Gott unter seinen Gebrechlichen läßt sich darüber nicht verhandeln. Beim Anblick, beim Klang der Stimme, bei der geringsten Berührung des geliebten Menschen in seinem innersten Geist, Nerv und Knochen erzittern; Mittel und Wege finden, sich abmühen, ohne Ende lügen, um den geliebten Mann oder die geliebte Frau zu erreichen, in seiner/ihrer Nähe zu sein; die eigene Existenz – persönlich, öffentlich, psychologisch, materiell – in einem unvorhergesehenen Augenblick verwandeln, aufgrund und infolge von Liebe; unaussprechliche Schmerzen und Leere bei der Abwesenheit des/der Geliebten, beim Welken von Liebe durchzumachen (das Vorstehende liest sich wie die Regieanweisung zu Kapitel 1 von Kurz vor Schluss, Teil II, Anm. Verf.); das Göttliche mit der Emanation von Liebe gleichsetzen, wie es aller Platonismus, und das heißt das abendländische Modell der Transzendenz, tut – das bedeutet, daß man an dem alltäglichsten und unerklärlichsten Sakrament im menschlichen Leben teilhat. Es bedeutet, nach seinen persönlichen Möglichkeiten, die Reife des Geistes zu berühren. Diese Universum der Erfahrung mit dem Libidinösen gleichzusetzen, wie es Freud tut, es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Vorteilen zu erklären, das sind fast verächtliche Reduktionen. Liebe kann das ungewählte Band, bis hin zur Selbstzerstörung, zwischen Individuen sein, die füreinander eklatant ungeeignet sind. Die Sexualität kann nebensächlich, vorübergehend sein oder völlig fehlen. Die Häßlichen, die Elenden, die Bösesten unter uns können das Objekt von interesselosem, leidenschaftlichem Eros sein. Der Wunsch, für die Geliebte oder die Freundin – l’amie, wie es im Französischen so exakt und klar heißt – zu sterben, und die klarblickenden Verrücktheiten der Eifersucht sind aus jeder denkbaren biologischen (Darwinschen) oder sozialen Sicht kontraproduktiv. Die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, spielt defensiv mit der Rationalität. Es sind nicht ‚Gründe‘, die das Herz bevölkern. Es sind Notwendigkeiten ganz anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist. Ich habe eine ganze regendurchweichte Nacht hindurch dagestanden, um einen Blick von der Geliebten, wie sie um die Ecke kam, zu erhaschen. Vielleicht war sie es noch nicht einmal. Gott erbarme sich derer, die nie die Halluzinationen eine Lichtes gekannt haben, das während solchen Wachens die Dunkelheit erfüllt.
Aus all der unvernünftigen, unanalysierbaren, oft verderblichen Allmacht der Liebe stammt der Gedanke – ist er wiederum eine Kinderei? -, daß Gott noch nicht ist. Daß er erst dann ins Sein treten, präziser, in manifeste Reichweite menschlicher Wahrnehmung gelangen wird, wenn es einen unendlichen Überschuß von Liebe über Haß gibt. Jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit, die Mensch oder Tier zugefügt werden, rechtfertigen die Befunde des Atheismus, insofern sie Gott an einem Kommen hindern, das allerdings ein erstes wäre. Doch ich vermag selbst in den schlimmsten Stunden dem Glauben nicht zu entsagen, daß die beiden bestätigenden Wunder der sterblichen Existenz die Liebe und die Erfindung der Zukunft beim Verb sind.“
Dazu passt die Intervention Dirk Baeckers. Sie hat mich vom Kopf wieder auf die Füße gestellt und mir ein wenig transparenter gemacht, wo das Herz seine Gründe hat (die es ja eigentlich nicht hat, weil es der Herzenslogik widerspricht) und wo der Verstand dem Herzen zur Seite springt, damit wir nicht völlig verrückt werden und Ikarus‘ Schicksal erleiden:
„Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen (Dirk Baecker, Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 632).“
Kurz vor Schluss - Teil II: Es ist ein verrücktes, ein spannendes Buch geworden – Antrieb und Vermächtnis zugleich, getrieben und getragen von der Einsicht, dass im Ozean des Vergessens vergeht und erlischt, was wir nicht erinnern - vielleicht auch von der Hoffnung Antworten auf Fragen zu geben, die einem nicht gestellt worden sind.
Kurz vor Schluss II
Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht – Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion
Vorbemerkung II
Ich bin alt, aber vermutlich noch nicht alt genug. Wenn ich erzähle und rekonstruiere, dann ist die alleinige Bezugsgröße mein eigener Lebenslauf. Niemand lebt sein Leben allerdings alleine! Vor mir liegen Rudi Dutschkes Tagebücher: Jeder hat sein Leben ganz zu leben (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003). Rudi Dutschke wollte wohl, dass seine Tagebücher veröffentlicht werden. Seine Frau – Gretchen – tut sich schwer mit der Veröffentlichung und beginnt ihr Nachwort mit dem Hiweis:
- Details
Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht
Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion
(zu den erwähnten Autoren finden sich am Ende der Aufzeichnungen die notwendigen bibliografischen Verweise - in Vorbereitung)
Einleitung:
Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert? Alard von Kittlitz (Vielleicht motiviert das schon mal: Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert, in: ZEIT 7/21) fragt: Woher nehmen wir die Zuversicht? Er spricht mit verschiedenen Menschen und befragt sie. Er kommt zu dem Ergebnis: „So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, am Ende ist ihnen eine fundamentale Erkenntnis gemein: Ohne ein realistisches Bild von uns selbst und von der Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sind wir verloren. Wir können nicht wissen, wohin wir wollen, wir können nicht wissen, wie wir irgendwohin kommen, wir werden vor Frustration stehen bleiben.“ Zuletzt befragt Alard von Kittlitz Schwester Ursula. Sie lebt im Kloster Arenberg bei Koblenz. Mit ihr erörtert er die Haltung des „Wirklichkeitsgehorsams“. Es geht um den aktuellen Lockdown. Es geht darum, dass der gewohnte Rhythmus radikal ausgesetzt ist. Auf die Unterstellung von Kittlitz‘, im Kloster herrsche doch „sowieso Lockdown ohne Ende“, antwortet sie zunächst, dass die Arenberger ein großes Gästehaus unterhalten für Menschen, die Ruhe suchten oder Ruhe brauchten. Nun aber könnten seit Monaten keine Gäste kommen und sie lebten von ihren Ersparnissen. Da sei es leicht, in eine Endzeitstimmung zu verfallen. Sie versuche mit der Situation zurechtzukommen, indem sie sich in einer Praxis übe, die sie als „Wirklichkeitsgehorsam“ bezeichne: „Ich muss immer wieder neu lernen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, statt zu sagen: Das darf nicht sein. Es ist ein furchtbar aufreibender Prozess, etwas nicht wahrhaben zu wollen. Eine Wirklichkeit zu verleugnen, davor davonzulaufen: Das ist letztlich tödlich. Siehe die Corona-Leugner.“
Und im politischen Fragebogen der gleichen Ausgabe auf Seite 54 antwortet Delphine Horvilleur auf die erste Frage: „Welches Tier ist das politischste?“ – „Der Mensch. Die Tatsache, dass die Menschheit an Geschichten glaubt und die Welt durch Geschichten erfährt, die zugleich ihre Verletzlichkeit und ihre Stärke zeigen, macht uns zu sehr politischen Wesen.“
Ich widme die folgende(n) Geschichte(n) meiner Frau, der Mutter meiner Kinder, ohne die die Gegenwart eine völlig andere wäre, ohne die schon die Vergangenheit eine sehr viel ärmere wäre, und ohne die die Zukunft weniger verlockend wäre – auch wenn sie meint, wir alle hätten doch überhaupt nichts Besonderes zu erzählen. Ich glaube an unsere Geschichten, und ich weiß, dass unser Weltverständnis ohne diese Geschichten ein anderes wäre. Sie zeigen zugleich unsere Verletzlichkeit, unsere Schwächen und unsere Stärken. Das ist letztlich auch der Grund, warum ich der Auffassung bin – so wie einst mein Neffe –, dass unsere Nachkommen sich vielleicht dafür interessieren könnten.