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Kurz vor Schluss II

Vorbemerkung I

Bevor es losgeht mit dem zweiten Teil von Kurz vor Schluss ist es aus meiner Sicht hilfreich auf zwei Ausgangspunkte hinzuweisen, ohne die das Nachstehende vielleicht unverständlich(er) bleibt - unverständlicher als ohnehin. In Kurz vor Schluss I stand bei allen biografischen Auslassungen das Motiv des Dankes im Vordergrund: Der Mensch ist, weil er sich verdankt - genealogisch und nahezu in jeder Hinsicht (diesen Gedanken habe ich von Fulbert Steffensky übernommen); in den meisten Fällen - in nahezu allen Lebensläufen - gibt es aber eben auch besondere Umstände, die man als Zufälle begreifen kann: Aus der philosophischen Perspektive Odo Marquards sind wir weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.  Mit unterdessen siebzig Jahren ist mir bei alledem aber auch deutlich geworden, dass eben genau diese angedeuteten Umstände auch dazu hätten beitragen können regelrecht verrückt zu werden. Deshalb beginne ich - sozusagen im Sinne einer Einleitung der Einleitung - damit, zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass ich mich durchaus in einem gewissen Sinne für verrückt halte - vermutlich würde man ansonsten die Anstrengungen von Kurz vor Schluss I und II gar nicht auf sich nehmen. Bemerkenswert bei dieser Diagnose ist die Einsicht, dass man selbst immer auch Anteil hat am Verrückt-Werden anderer. Was als flapsige Bemerkung aufgefasst werden könnte, hat einen handfesten Hintergrund, den man mit Humor, durchaus aber auch mit Betroffenheit beschreiben und bewerten kann.

 

Vom Verrücktwerden (0)

Ich bin ein wenig verrückt. Der Maßstab dafür ist ein Unterscheidungsmerkmal, dass mich von all meinen Verwandten und Bekannten deutlich unterscheidet: Ich bin schreibbesessen (jeder hat da so seine Obsessionen – Claudia macht es in Farbe, und so viel besser als ich; schaut Euch doch einmal das Eingangsportal zum Heyerberg Numero 11 an - ein Geschenk Claudias zu meinem Siebzigsten, das mein Herz und meine Augen Tag für Tag erfreut!). In den letzten 25 Jahren habe ich tausende von Seiten beschrieben. Peter Sloterdijk spielt in seinen Poetik-Vorlesungen aus dem Jahr 1988 mit der Vorstellung, dass jeder Mensch eine Silbe verkörpere, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort zum Text. Er spricht davon, dass durch viele Schreibversuche hindurch eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe stattfinde. Diese Annäherung hat sich freilich auf intensivste Weise Bahn gebrochen in meiner Lyrik – vielleicht führt mein nächstes Projekt einmal alle meine lyrischen Versuche zusammen?

Für die hier vorliegende Anstrengung weise ich einleitend darauf hin, dass ich haarscharf dem tragischen Schicksal eines Verrückten entgangen bin – das meint einen Tatbestand - vielleicht besser Gemütszustand, der in der Regel als pathogen empfunden und manchmal auch so diagnostiziert wird! Mir ist nur aufgefallen, dass das Verrücktsein und das Verrücktwerden in einem ganz und gar gewöhnlichen Wortsinn eine unvermeidliche Grunderfahrung in einem langen Leben ist. Die Behauptung: Ich bin verrückt begreift man normalerweise - wie weiter oben angedeutet - als eine Pathalogisierung des eigenen Zustands, des eigenen Befindens. Die Tatsache, dass man verrückt (ge)worden ist, beschreibt aber nichts weiter als eine schlichte Tatsache, die man sich in aller Gemütsruhe vor Augen führen kann. Einer der größten Fußball-Philosophen hat in einem aufsehenerregenden Interview einmal eine gleichermaßen frappierende wie aufschlussreiche Formulierung in die Welt gesetzt: Ich habe fertig! Gewiss unterstellen ihm viele, er habe schlicht sagen wollen: Ich bin fertig! - hier und jetzt in diesem Augenblick.

Bezogen auf das Wortfeld verrücken verrückt werden kann man den umgekehrten Weg gehen, um auf bemerkenswerte Unterschiede in der Frage zu stoßen, ob der Mensch nur gelebt werde oder ob er auch aktiv und gestaltend in sein Leben eingreift? So hat die Selbstbeschreibung: Ich bin verrückt gewiss eine vollkommen eindeutige Botschaft zum Kern. Sage ich hingegen: Ich verrücke bzw.: Ich habe verrückt, treten offenkundig andere Optionen in den Vordergrund. Dabei geht es nicht nur darum, beispielsweise Möbel oder andere Gegenstände/Sachen zu verrücken. Es könnte vielmehr auch darum gehen, in bestehenden Beziehungen einen anderen Ort einzunehmen oder anderen einen anderen Ort zuzuweisen, also sich selbst oder andere zu verrücken. Aktive Handlungen und Gestaltungsabsichten in diesem Sinne können durchaus zur Folge haben, dass die/der ein oder andere verrückt wird – räumlich, aber auch seelisch und gemütsbezogen. Verrückt zu werden führt in der Regel zu Kränkungseffekten – Kränkungseffekte initialisieren häufig aber auch entsprechende Prozesse. Und die wenigsten vermögen sie als Chance zu betrachten. Zumal man selbst dabei in eine passive Rolle gerät. Davon handelt und erzählt dieses Buch.

Vieles in Kurz vor Schluss II folgt solchen Logiken. Verrückt zu werden – das ist die Leitunterscheidung, an der sich vieles scheiden lässt und die im vorliegenden Buch eben meine Welt(en) (unter)scheidet und für Trennschärfe sorgt: Gutes und Schlechtes; Kränkendes und Ermunterndes; Zornerregendes und Besänftigendes; Krankmachendes und HeilendesErfreuliches und Trauer-AuslösendesLeidenschaftlich-Beflügelndes und Lähmend-Herabziehendes.

Das gesamte Buch verstehe ich mit einem Zitat Dirk Baeckers unter diesem speziellen Blickwinkel. Selbstverständlich – wie in allen Büchern – überwiegt bei alledem der Dank dafür, nicht völlig verrückt worden zu sein – in eine Ecke gestellt worden zu sein und dort verharren zu müssen; in eine Ecke, in die ich mich zeitweise selbst gestellt habe. Wem könnte ich dabei mehr danken als Claudia und meinen Kindern (und meiner großen Familie)? Bevor ich Dirk Beacker das Wort gebe, hilft mir daher George Steiner – eine Entdeckung der letzten Jahre. Dieses erste Zitat kann einen angesichts des gegenwärtigen Rückfalls in die Barbarei verzweifeln lassen. Ich möchte es aber – zumindest für mich – verstanden wissen als Hoffnung in einer abartigen Welt. Machen wir sie ein bisschen besser!

George Steiner (in: Errata – Bilanz eine Lebens, München 1999, S. 220-221): „Liebe ist die dialektische Entsprechung zu Haß, ihrem spiegelbildlichen Gegensatz. Liebe ist in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder es Irrationalen. Wie über die (verdammte) Suche nach Gott unter seinen Gebrechlichen läßt sich darüber nicht verhandeln. Beim Anblick, beim Klang der Stimme, bei der geringsten Berührung des geliebten Menschen in seinem innersten Geist, Nerv und Knochen erzittern; Mittel und Wege finden, sich abmühen, ohne Ende lügen, um den geliebten Mann oder die geliebte Frau zu erreichen, in seiner/ihrer Nähe zu sein; die eigene Existenz – persönlich, öffentlich, psychologisch, materiell – in einem unvorhergesehenen Augenblick verwandeln, aufgrund und infolge von Liebe; unaussprechliche Schmerzen und Leere bei der Abwesenheit des/der Geliebten, beim Welken von Liebe durchzumachen (das Vorstehende liest sich wie die Regieanweisung zu Kapitel 1 von Kurz vor Schluss, Teil II, Anm. Verf.); das Göttliche mit der Emanation von Liebe gleichsetzen, wie es aller Platonismus, und das heißt das abendländische Modell der Transzendenz, tut – das bedeutet, daß man an dem alltäglichsten und unerklärlichsten Sakrament im menschlichen Leben teilhat. Es bedeutet, nach seinen persönlichen Möglichkeiten, die Reife des Geistes zu berühren. Diese Universum der Erfahrung mit dem Libidinösen gleichzusetzen, wie es Freud tut, es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Vorteilen zu erklären, das sind fast verächtliche Reduktionen. Liebe kann das ungewählte Band, bis hin zur Selbstzerstörung, zwischen Individuen sein, die füreinander eklatant ungeeignet sind. Die Sexualität kann nebensächlich, vorübergehend sein oder völlig fehlen. Die Häßlichen, die Elenden, die Bösesten unter uns können das Objekt von interesselosem, leidenschaftlichem Eros sein. Der Wunsch, für die Geliebte oder die Freundin – l’amie, wie es im Französischen so exakt und klar heißt – zu sterben, und die klarblickenden Verrücktheiten der Eifersucht sind aus jeder denkbaren biologischen (Darwinschen) oder sozialen Sicht kontraproduktiv. Die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, spielt defensiv mit der Rationalität. Es sind nicht ‚Gründe‘, die das Herz bevölkernEs sind Notwendigkeiten ganz anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist. Ich habe eine ganze regendurchweichte Nacht hindurch dagestanden, um einen Blick von der Geliebten, wie sie um die Ecke kam, zu erhaschen. Vielleicht war sie es noch nicht einmal. Gott erbarme sich derer, die nie die Halluzinationen eine Lichtes gekannt haben, das während solchen Wachens die Dunkelheit erfüllt.
Aus all der unvernünftigen, unanalysierbaren, oft verderblichen Allmacht der Liebe stammt der Gedanke – ist er wiederum eine Kinderei? -, daß Gott noch nicht ist. Daß er erst dann ins Sein treten, präziser, in manifeste Reichweite menschlicher Wahrnehmung gelangen wird, wenn es einen unendlichen Überschuß von Liebe über Haß gibt. Jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit, die Mensch oder Tier zugefügt werden, rechtfertigen die Befunde des Atheismus, insofern sie Gott an einem Kommen hindern, das allerdings ein erstes wäre. Doch ich vermag selbst in den schlimmsten Stunden dem Glauben nicht zu entsagen, daß die beiden bestätigenden Wunder der sterblichen Existenz die Liebe und die Erfindung der Zukunft beim Verb sind.“

Dazu passt die Intervention Dirk Baeckers. Sie hat mich vom Kopf wieder auf die Füße gestellt und mir ein wenig transparenter gemacht, wo das Herz seine Gründe hat (die es ja eigentlich nicht hat, weil es der Herzenslogik widerspricht) und wo der Verstand dem Herzen zur Seite springt, damit wir nicht völlig verrückt werden und Ikarus‘ Schicksal erleiden:

„Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen (Dirk Baecker, Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 632).“

Kurz vor Schluss - Teil II: Es ist ein verrücktes, ein spannendes Buch geworden – Antrieb und Vermächtnis zugleich, getrieben und getragen von der Einsicht, dass im Ozean des Vergessens vergeht und erlischt, was wir nicht erinnern - vielleicht auch von der Hoffnung Antworten auf Fragen zu geben, die einem nicht gestellt worden sind.

 

Kurz vor Schluss II

Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht – Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion

Vorbemerkung II

Ich bin alt, aber vermutlich noch nicht alt genug. Wenn ich erzähle und rekonstruiere, dann ist die alleinige Bezugsgröße mein eigener Lebenslauf. Niemand lebt sein Leben allerdings alleine! Vor mir liegen Rudi Dutschkes Tagebücher: Jeder hat sein Leben ganz zu leben (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003). Rudi Dutschke wollte wohl, dass seine Tagebücher veröffentlicht werden. Seine Frau – Gretchen – tut sich schwer mit der Veröffentlichung und beginnt ihr Nachwort mit dem Hiweis:

„Wenn die Tagebücher nur aus politischen Aussagen von Rudi bestünden, wäre es kein Problem für mich, sie zu veröffentlichen. Aber das tun sie nicht. Der Text gibt allerlei Einblicke in unser Privatleben. Und das bereitet mir Bauchschmerzen […] Wir, seine Familie, sogar die Kinder kommen nicht immer gut weg; ich manchmal recht schlecht. Das tut weh, was wohl jeder nachempfinden kann…“

Zuletzt bemerkt sie:

„Die Abschrift der Tagebücher ergab rund 300 Seiten. Davon habe ich insgesamt etwa sechs weggelassen, die aus juristischen Gründen gestrichen wurden.“

Mein Tagebuch-Projekt steht hier nicht zu Debatte. Ich erzähle unter der Maßgabe von Rudi Dutschkes Leitmotiv: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Ganz erzählen lässt sich ein Leben freilich nicht! Sein Gedächtnis zu bemühen, bedeutet sich einem permanenten Prozess des selektiven Erinnerns und Vergessens auszusetzen. Wie Gretchen Dutschke – teils schmerzlich berührt – anmerkt, entstehen Bauchschmerzen durch die unvermeidbaren Einblicke, die Rudi Dutschkes Aufzeichnungen in das Privatleben des Paares und der Familie eröffnen.

Da ich nichts hinterlasse, sondern Hinterlassenswertes, Erinnerungswertes gleichermaßen aus meinem derzeitigen Erinnerungsvermögen (re-)konstruiere, muss ich es gleichzeitig in seinen Schilderungen und Bewertungen verantworten können. Das heißt, ich muss mich im Sinne der Autorenschaft unmittelbar einer Verantwortung für Gesagtes und Behauptetes stellen und kann nicht die komfortable Position einnehmen, die aus Hinterlassenschaft resultiert. Und ich hoffe durchaus, dass dies auch noch für einige Jahre der Fall sein wird.

Völlige Verfremdung im Sinne einer literarisch begründeten und erzwungenen Entrückung realer Bezugswelten, liegt mir nicht, und ich strebe sie nicht an. Das ist selbstredend gleichzeitig der Grund dafür, dass hier nicht rückhaltlos erinnert und geschrieben wird. Gleichwohl und trotz der Tatsache, dass allein mein eigener Lebenslauf die wesentliche Bezugsgröße sein soll, kann der Mensch sich nur relational in dieser Welt verorten. Ich erinnere, erfühle, ertaste jene Beziehungsqualitäten, die mich mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Verwandten verbinden, und die mir in einem komplexen sozialen System Identität und ein Selbstbild vermitteln. Da ich keinerlei Interesse am Waschen schmutziger Wäsche habe, konzentrieren sich meine Erzählungen alleine auf meinen Blickwinkel, ohne (vorschnell) Bewertungen, gar Be- oder Verurteilungen zuzulassen. Wo es mir angemessen erscheint - auch im Sinne einer gebotenen Zurückhaltung - nenne ich keine Namen. Die Geschichten sind vielleicht in ihren Details durchaus originell; sie offenbaren aber grundsätzlich, hiervon bin ich zutiefst überzeugt, immer Alltagsgeschichten. Auch wenn damit eine subjektiv einseitig aufgeladene Weltsicht unvermeidlich ist, liegt der Gewinn vor allem in dem Versuch, die eigenen Perspektiven immer einzuordnen und einzunorden in das, was wir auch immer – im Sinne eines (über-)mächtigen Einflusses – dem Zeitgeist und dem jeweils erkennbaren historischen Kontext zuschreiben (müssen). Hieraus allein schon resultiert ein Gebot der Fairness gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration. Diese Fairness gebührt auch den Akteuren auf (generativer) Augenhöhe und erst recht den Jüngeren gegenüber.

Nun könnte man sagen, dann kann man es doch gleich lassen. Mit Dirk Beacker möchte ich dagegenhalten und den Sinn meines Unterfangens mit der oben wiedergegebenen Metapher unterlegen. Ich räume an dieser Stelle ein, dass ich mich selbst bis weit über meine Lebensmitte hinaus – ganz gewiss bis in das Jahr 1997 hinein –  mit den Bedingungen verwechselt habe, auf die ich mich eingelassen habe. Ich hielt bis dahin konsequent an der Illusion fest, der Welt eine feste, klare Ordnung geben zu können. Und es lässt sich leicht zeigen, wie ich Nähe und Ferne als etwas begreifen wollte, dass sich in einer radikal eindeutigen und sich wechselseitig ausschließenden Alternative begreifen und handhaben ließe. So wäre ich beinahe verrückt geworden. Ordnung kehrte in mein Leben erst wieder ein, als ich für mich begreifen und kultivieren konnte, was wohl mit loser Kopplung gemeint ist -  und mit der Fähigkeit sagen zu können:

Das ist nahe genug!“

Die hier erzählten Geschichten erzählen von jenem Wandel, der mir erlaubt, den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe zu begreifen (siehe dazu Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 149ff.). Möglich wurde dies erst durch einen Seitenwechsel, nach dem es für mich – einer Erlösung gleich – nicht mehr darum gehen konnte die erfolgreiche Anpassung des Subjekts an eine vorgeblich objektive Realität zu fordern, sondern lediglich den Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger unerträgliches anzustreben. Wer sich darauf einlässt – bemerkt Dirk Baecker schmunzelnd – „wird auch bei anderen Spielräume des Verhaltens entdecken, die das Chaos nicht größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen“.

Die hier erzählten Geschichten zeugen insofern von einer wirksamen Überlebensstrategie in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Allein zu Überleben erscheint mir allerdings dann doch ein allzu bescheidenes Motiv. Das Leben in all seiner Fülle, in all seinen freud- wie leidvollen Seiten soll hier anklingen, so wie es die Vier Männer in mir  (siehe weiter unten) schon zu besingen wussten:

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

 

Gliederung:

  • Vom Verrücktsein (0)
  • Am Anfang war die Tat (1)
  • Wir machen uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden (2)
  • Das Wissen darum, wie Kinder in die Welt kommen - Der absolute Zufall der Geburt (3)
  • Spurensuche I (4)
  • Das Herz (der Verstand) hat seine Gründe, welcher der Verstand (das Herz) nicht kennt (5)
  • Vier Männer in mir (6)
  • Zeitgeist und Kontenausgleich I (7)
  • Spurensuche II - Vom Familien- zum Sippenkontext (8)
  • Assimilation und Akkomodation - Was machen wir, wenn das Unfassbare geschieht? (9)
  • Gaudeamus igitur - Studium (10)
  • Kindheit, Jugend und Schule (11)
  • Kindheit, Jugend und Studium - Der Zugang zur Bildung (12)
  • Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen - Spurensuche III (13)
  • Ein ehrenwertes Haus I (14)
  • Ein ehrenwertes Haus II - Die vierte Generation (15)
  • Ein ehrenwertes Haus III - Erosion und Verfallserscheinungen (16)
  • Nähe und Abstand - Symmetrie und Asymmetrie (17)
  • Die Welt zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen (18)
  • Ich schreibe, also bin ich (19)
  • Ein paartherapeutisches Husarenstück I - Zwischen Durchreise und Landnahme (20a)
  • Ein paartherapeutisches Husarenstück II - Ein Nullsummenspiel (20b)
  • Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich dennoch einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)
  • Lautverschiebung (22)
  • Wie ich lernte zu wollen, was ich soll (23)
  • Das Unfassbare als basso continuo unseres Lebens (24)
  • Kurvenverläufe und #metoo (25)
  • Die Flut (26)
  • Anhang

 

Die Kraft der Einsicht und die Kraft der Zuversicht

Mosaiksteine einer lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion

(zu den erwähnten Autoren finden sich am Ende der Aufzeichnungen die notwendigen bibliografischen Verweise - in Vorbereitung)

Einleitung:

Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert? Alard von Kittlitz (Vielleicht motiviert das schon mal: Wir sind uns selbst nicht komplett ausgeliefert, in: ZEIT 7/21) fragt: Woher nehmen wir die Zuversicht? Er spricht mit verschiedenen Menschen und befragt sie. Er kommt zu dem Ergebnis: „So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, am Ende ist ihnen eine fundamentale Erkenntnis gemein: Ohne ein realistisches Bild von uns selbst und von der Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sind wir verloren. Wir können nicht wissen, wohin wir wollen, wir können nicht wissen, wie wir irgendwohin kommen, wir werden vor Frustration stehen bleiben.“ Zuletzt befragt Alard von Kittlitz Schwester Ursula. Sie lebt im Kloster Arenberg bei Koblenz. Mit ihr erörtert er die Haltung des „Wirklichkeitsgehorsams“. Es geht um den aktuellen Lockdown. Es geht darum, dass der gewohnte Rhythmus radikal ausgesetzt ist. Auf die Unterstellung von Kittlitz‘, im Kloster herrsche doch „sowieso Lockdown ohne Ende“, antwortet sie zunächst, dass die Arenberger ein großes Gästehaus unterhalten für Menschen, die Ruhe suchten oder Ruhe brauchten. Nun aber könnten seit Monaten keine Gäste kommen und sie lebten von ihren Ersparnissen. Da sei es leicht, in eine Endzeitstimmung zu verfallen. Sie versuche mit der Situation zurechtzukommen, indem sie sich in einer Praxis übe, die sie als „Wirklichkeitsgehorsam“ bezeichne: „Ich muss immer wieder neu lernen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, statt zu sagen: Das darf nicht sein. Es ist ein furchtbar aufreibender Prozess, etwas nicht wahrhaben zu wollen. Eine Wirklichkeit zu verleugnen, davor davonzulaufen: Das ist letztlich tödlich. Siehe die Corona-Leugner.“

Und im politischen Fragebogen der gleichen Ausgabe auf Seite 54 antwortet Delphine Horvilleur auf die erste Frage: „Welches Tier ist das politischste?“ – „Der Mensch. Die Tatsache, dass die Menschheit an Geschichten glaubt und die Welt durch Geschichten erfährt, die zugleich ihre Verletzlichkeit und ihre Stärke zeigen, macht uns zu sehr politischen Wesen.“

Ich widme die folgende(n) Geschichte(n) meiner Frau, der Mutter meiner Kinder, ohne die die Gegenwart eine völlig andere wäre, ohne die schon die Vergangenheit eine sehr viel ärmere wäre, und ohne die die Zukunft weniger verlockend wäre – auch wenn sie meint, wir alle hätten doch überhaupt nichts Besonderes zu erzählen. Ich glaube an unsere Geschichten, und ich weiß, dass unser Weltverständnis ohne diese Geschichten ein anderes wäre. Sie zeigen zugleich unsere Verletzlichkeit, unsere Schwächen und unsere Stärken. Das ist letztlich auch der Grund, warum ich der Auffassung bin – so wie einst mein Neffe –, dass unsere Nachkommen sich vielleicht dafür interessieren könnten. Es mag sein, dass ich mit meinem Bedauern relativ alleine unterwegs bin, meine Großeltern und meine Eltern nicht mehr gefragt zu haben. Ob ich Antworten auf meine Fragen bekommen hätte, steht gewiss auf einem anderen Blatt; genauso wie meine Annahme, für meine Kinder Kindeskinder - oder auch andere Mitglieder unseres Familienkreises könnte es von Interesse sein, was ich ihnen mit Kurz vor Schluss I und Kurz vor Schluss II und all den anderen Geschichten hinterlasse.

 

Am Anfang war die Tat (1)

Ein Menschenleben – im kosmischen Zeithorizont nicht einmal der sichtbare Bruchteil einer Nanosekunde. Und doch machen wir uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. „Ich bin nicht tot - Ich tausche nur die Räume - Ich bin bei Euch – Ich geh durch Eure Träume“. Für Michelangelo mag das zutreffen, aber für mich, für meinen Bruder, meine Schwester, meinen Vater, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder, meine Enkelkinder, die Familie im weitesten Sinne und all die, die schon zu Lebzeiten durch meine Träume geistern? Obwohl es sich eigentlich verbietet, gehen wir als Voyeure durch diese Welt; es verbietet sich nicht nur – es macht uns einsam; zu mörderischen Beobachtern unserer selbst und der anderen. Heute – Covid19 als Katalysator im Nacken – hocken wir vor unseren Laptops, Kindln und Mattscheiben. Dort regulieren wir unseren Gefühlshaushalt und versuchen zu verstehen, was mit uns los ist. So lassen wir uns die Welt erklären und sind froh, dass wir nicht verrückt werden. Die Verrückten unter uns hingegen werden der Gnade Gottes teilhaftig, wie George Steiner (Errata - Bilanz eines Lebens, Hanser - München 1999) meint. Diese Verrückten sind bereit ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie sind bereit sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen, die sich manchmal einschreiben in das Seelenpergament derer, die weder standhalten noch zu sich selber stehen.

Im Webmuster eines jeden Lebens, lässt sich ein roter Faden erkennen; manchmal dominiert er das Gewebe, zeitweise kann man ihn nur mit Hilfe einer Lupe verfolgen – ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zerreißen kann. Das Geflecht wirkt streckenweise wie Flickwerk. Dann möchte man das dünne Fädchen wieder aufnehmen und es erneut verknüpfen im dynamischen Patchwork so vieler Fäden. Man bekommt eine Ahnung davon, dass ein Gewebe aus vielen Fäden besteht, miteinander verknüpft, manchmal verstrickt und verknotet. Hilflos versuchen wir – oft genug – die Knäuel zu entwirren, suchen unseren Faden und möchten von vorn beginnen. Der Schreiber dieser Zeilen hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass zum Webzeug zuweilen auch die Schere gehört. Ist man jung, dann träumt man vielleicht davon, dass sich zwei Fäden verknüpfen zu innig miteinander verwobenen Lebensläufen, die erst der Tod zu trennen vermag.

Schau ich zurück auf mein Leben, dann lässt sich nicht verleugnen, dass das Flickwerk einer Schülerliebe in den Frühjahrstagen des Jahres 1979 endgültig in den Schredder geriet. Und der Schreiber meinte sich nicht um das löchrige und mottenzerfressene, ihm viel zu eng gewordene, gemeinsame Kleid scheren zu müssen. Dass er dabei das selbst entworfene Strickmuster verleugnete, war nicht zu übersehen. Er vertraute jetzt einer aufkommenden frischen Brise, die ihm die Segel mächtig blähte und weigerte sich umzukehren und gegen den Wind zu kreuzen. Er wollte sein Leben zurück – ganz! Die alte Liebe – das einst ersehnte ungewählte Band – landete ja nur deshalb im Schredder, weil es galt zwei füreinander eklatant ungeeignete Individuen vor sich selbst zu schützen. Und er hätte damals George Steiner (noch) widersprochen, wenn der ihm gesagt hätte, dass Sexualität bei alledem nebensächlich, vorübergehend sein oder sogar völlig fehlen könne; einer wie Steiner konnte da gut reden – als alter Mann. Der Schreiber dieser Zeilen war dagegen seinerzeit einfach zu jung. Ein Leben muss halt erst einmal gelebt werden, um einen Blick auf die Hinterbühne werfen zu können; eine Hinterbühne, die mit allen Registern – nicht nur der Biologie – dafür sorgt, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe – wie der alte Steiner sagt – in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und in die Seelen zaubert.

An einem trüben Märztag des Jahres 1979 – gegen 21 Uhr – setzte sich der Schreiber also in seine Traurige Lösung, so nannte man seinerzeit die zweitürige Fließheckvariante von VW (1500 TL). Noch in den siebziger Jahren war ihm seine Herkunftsfamilie ein sicherer Fluchtort. Ähnlich wie sein Vater, der als knapp 18jähriger 1941 zum Reichsarbeitsdienst und anschließend in die Wehrmacht einrücken musste, sehnte er sich nach Hause, wenn die Welt da draußen sich sperrig und feindlich zeigte. Hatte er Landskrone und Neuenahrer Berg mehrere Wochen nicht gesehen, rührte sich das Heimweh, wo andere das Fernweh in die Welt lockte. Die vergangenen Tage in seinem Dachzimmer – im geschützten Raum seiner Kindheit und Jugend – hatten in keiner Weise für eine Klärung seiner chaotischen Stimmungslage gesorgt. Ganz im Gegenteil drängten sich all die Bilder übermächtig wieder in sein Bewusstsein, die 1974 mit dem Aufbruch nach Koblenz verbunden waren. Zu sechst ging der Weg seinerzeit nach dem Abitur in die größte Garnisonsstadt Deutschlands – dorthin, wo niemand wirklich hinwollte. Die Universität zu Bonn hatte er sich erwählt als ehrwürdige Alma Mater - Germanistik und Philosophie waren die Fächer seiner Wahl. Wäre er seiner Wege gegangen seinerzeit, gänzlich andere Geschichten wären hier zu erzählen. Und die Lebensläufe so vieler Menschen hätten so gänzlich andere Wege genommen.

Am Abend des besagten trüben Märztages machte sich der Schreiber also auf den Weg und fuhr jene ihm vertraute Strecke ahrabwärts und dann rheinaufwärts Richtung Koblenz. Dass er sich entlang der historischen, mittelalterlichen Hauptverkehrsachse bewegte, die über 1000 Jahre lang  Frankfurt mit Aachen verband – 600 Jahre war Aachen Krönungsstadt – erinnerte ihn daran, dass viele der in Aachen zu krönenden Könige auf genau dieser Passage gereist waren. Der Weg diente zugleich als Heerstraße, Pilgerweg und gehörte auf diese Weise lange zu einer bedeutenden Handelsroute zwischen Italien und Flandern. Die ersten Kilometer, vorbei am Apollinarisbrunnen, durch Heppingen an Heimersheim und Lohrsdorf vorbei in Richtung Sinzig, gehörten allerdings nicht zur alten, historisch verbürgten Heerstraße, die von Bodendorf aus über die Grafschaft Richtung Aachen führte. Dort, wo sich nach einer scharfen Linkskurve das Ahrtal endgültig öffnet und den Blick auf Bodendorf und die Goldene Meile freigibt, überkam ihn seit Kindestagen regelmäßig eine merkwürdige bis unheimliche Anmutung. Dort in dieser scharfen Linkskurve war 1962 ein Freund seines Vaters bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ein bekannter Neuenahrer Taxiunternehmer, der wenige Wochen zuvor ihn selbst, seinen Bruder und seine Mutter nach Flammersfeld im Westerwald gefahren hatte. Nach einwöchigem Aufenthalt, dort, an einem Ort, der – jenseits einer aufmerksamen oder auch nur gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung – immer schon eine bedeutsame Rolle im Leben seiner Mutter und letztlich der Familie gespielt hatte, holte W.T. in Begleitung des Vaters die Mutter und die beiden Söhne ab, um weiterzufahren nach Frankfurt zu einem Besuch des Frankfurter Zoos – dem Zoo Bernhard Grzimeks. Damals fuhren sie in einem historischen Dreieck zuerst über die alte Heerstraße, dann über die Neuwieder Rheinbrücke über die Raiffeisenstraße durch den Westerwald und den Taunus nach Frankfurt, um auf dem Rückweg die Bäderstraße entlang zu fahren über Wiesbaden bis nach Lahnstein/Koblenz. Der Unfalltod des W.T. hatte sich eingebrannt in die kindliche Erinnerung. Er hatte einen Sohn im Alter seines Bruders, und er hatte vor allem eine außerordentlich humorvolle, tröstende und geduldige Haltung offenbart gegenüber seinen gleichermaßen peinlichen wie unabwendbaren Übelkeitsattacken auf den kurvenreichen Strecken durch Westerwald und Taunus.

Es kam dem Schreiber merkwürdig vor, wie sich verschwommene Eindrücke überlagerten, die ihn immer wieder erinnerten an das singuläre Ereignis Flammersfeld und die über fast ein Jahr täglich erfolgte Bahnfahrt von Bad Neuenahr nach Remagen, um dort umzusteigen und den Zielbahnhof Bonn anzusteuern. Nach der achtjährigen Volksschule war er seiner Cousine 1965 gefolgt und hatte nahezu ein Jahr verschenkt durch den Besuch einer privaten Handelsschule – obwohl: Wenn er sich jetzt so beobachtete, wie die Finger seiner beiden Hände über die Tastatur flogen, dann hatte er dort doch ein beträchtliches Kapital angehäuft, das ihm in Zeiten des Studiums immer wieder zu einem bescheidenen Zubrot verhalf und ihm vor allem immer wieder ermöglichte – fast in Echtzeit – seine Gedanken in mehr oder weniger sinnvollen Buchstabenfolgen – verdichtet zu Wörtern und Sätzen – auf den Bildschirm zu bannen. Aber das war lange nicht alles, was sich sozusagen an einem offenkundigen Wendepunkt seines jungen Lebens, der sich nur in Gestalt einer verschwommen Ahnung andeutete, beim langsamen Befahren der B266 kurz vor der Auffahrt zur B9 bei Sinzig an wirren Eindrücken in sein Bewusstsein drängte.

Er hatte es nicht eilig, obwohl er seine Ankunft in der Löhrstraße in Koblenz kaum erwarten konnte. Diese merkwürdige, paradox anmutende Spannung begleitete ihn schon seit Tagen und Wochen. Sie drängte nach Auflösung und Spannungsabfuhr, typisch für einen Zustand, in dem das Alte nicht sterben kann und die Geburtswehen des Neuen sich immer drängender in den Vordergrund schieben. Auf der unterdessen vierspurig ausgebauten B9 konnte er sich bedenkenlos zurücknehmen. Dass ihn fast alle anderen Verkehrsteilnehmer überholten, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der gewaltigen Kraft, die ihn vorwärtstrieb. Er kannte diesen Widerspruch aus seinem inzwischen zu einer absoluten Marotte ritualisierten Erleben der Adventszeit. So dehnte er die sich nach und nach aufbauende Erwartung bis hin zum 24. Dezember, dem Heiligen Abend, bis zum allerletzten Augenblick, in dem sich ein gleichermaßen einsames wie genüssliches Ausleben dieser Spannung in einem überaus kostbaren wie flüchtigen familiären Fluidum aufzulösen begann. Und die Zeit zwischen den Jahren – zwischen Weihnachten und Neujahr – glich einer Insel im Meer der Zeit, einem Zustand ex tempore.

Das lag nun schon für das Jahr 1978 viele Wochen hinter ihm; Wochen in denen sich für sein Leben – da blieb kein Raum für Zweifel – eine massive Wende ankündigte. Und wenn sich sein Leben wenden würde – auch da war er inzwischen alt und erfahren genug – bedeutete das für die Menschen, mit denen er verbunden war, gleichermaßen eine Wende. Während sich allerdings die vorwärtstreibende Kraft dieses Wandels für ihn mit einem Aufbruch verband, gerieten die Turbulenzen, die er auslöste, für sein bisheriges Gegenüber zu einem reißenden Strom, hinein in die Bodenlosigkeit.

Auch nach zweiundvierzig Jahren haben die Ereignisse des Frühjahres 1979 immer noch den Geschmack des harten Brotes dieser Tage. Geht man selbstgerecht mit allen Widrigkeiten und Verstrickungen um – wie es seiner anfänglichen Haltung entsprach –, dann findet sich im hintersten Winkel des Rucksacks dennoch und immer wieder eine Krume dieses Brotes. Man muss sie gemeinsam noch einmal hervorholen, um sie zu zerbröseln und dem Wind zu übergeben. Das Abwesende müsse präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist – so sagen die einen!?

Wenn nur einer darauf besteht, füreinander eklatant ungeeignet zu sein, muss er sich losreißen, wo der andere festhält. Gerät das Festhalten zum wimmernden Klammern, gerät das Klammern zu einer erbarmungswürdigen Selbsterniedrigung und vermag der andere dem nichts entgegenzusetzen als eine vollkommen erloschene Glut, ein Häuflein Asche als Erinnerung an den innigen Aufbruch, dann sind die Wunden tief und wollen lange nicht heilen. Die Bitterkeit dieser heillosen Lähmung gewann ihre Tiefe und ihren galligen Geschmack aus einer fatalen Umkehrung der Rollenverteilung. Sieben Jahre zuvor wollte sich der nun Flüchtige mit fortgesetzter Zurückweisung nicht abfinden. Hätte er doch nur damals aufgegeben – kam ihm nun immer wieder in den Sinn. Die Hypotheken, die er sich jetzt auflud, wogen umso schwerer und würden ihn eine lange Wegstrecke begleiten.

(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz?  Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)

Er versuchte solchen gedanklichen Attacken zu entkommen und näherte sich der Hochbrücke bei Andernach. Sein Fahrtempo entsprach nun der verordneten Geschwindigkeitsbegrenzung, und er kam sich selbst wie eine Schnecke vor, die mühsam über einen Kilometer aufwärts kroch – weg von der Talsohle auf die Höhe. Nach wenigen Minuten öffnete sich der Horizont und gab den Blick frei auf das Neuwieder Becken, vor allem auf den fertiggestellten Kühlturm des AKW Mühlheim-Kärlich, der wie eine riesige Blumenvase die Horizontale dominierte – das Menetekel eines historischen Irrwegs. Die verdrängte alte Welt sollte endlich einer Erwartung weichen, die sich allerdings nicht nur wegen der mühsam abgeschatteten Bedrängnisse keineswegs als gänzlich ungetrübt erwies.

Claudia wohnte damals – als Einzelkind auf der Flucht vor häuslicher und familiärer Enge – gemeinsam mit ihrer Freundin Gabi in einer 2ZKB-Wohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße. In der besonderen Weltwahrnehmung des Schreibers dieser Zeilen war die platonische Vorstellung von den zwei Hälften, die auf der ewigen Suche nacheinander sind, tief verankert. Die erste gewaltige Welle einer Destruktion dieser kindlichen Vorstellung rollte soeben wie ein Tsunami über seine heillosen Versuche einer ersten solchen Verirrung zu entkommen; nicht etwa um sein Weltbild zu korrigieren und einem wie auch immer begründeten Realitätsprinzip stärkere Geltung einzuräumen. Seit Monaten – eigentlich seit dem ersten Erscheinen auf der kleinen Bühne der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule – vernebelte ihm Claudia jeden Schritt in eine halbwegs von Liebesblödigkeit ungetrübte Weltsicht. Er blieb dem Steinerschen Verdikt tief verhaftet, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Die Ereignisse jener Märztage 1979 bildeten den grandiosen Auftakt dafür, dass hartes Brot für viele Jahrzehnte sein Leben begleitete; ein Auftakt, der auf so unfassbare Weise die Steinersche Weltsicht bekräftigen sollte, und der gewiss ohne die vielfältigen Einflüsterungen, die ihn begleiteten, wohl niemals jenen verrückten und aberwitzigen Verlauf genommen hätte.

Gegen 22 Uhr an jenem trüben Märztag lenkte der Schreiber sein Auto vom Friedrich-Ebert-Ring kommend rechts in die Obere Löhrstraße. Um diese Zeit war dieser Straßenabschnitt immer noch recht belebt, da die Spätvorstellungen in den Kinos liefen und die Restaurants gut besucht waren. Keine einzige freie Parknische bot sich an. Er musste in die Schleife rund ums Carré – Richtung Bahnhof, dann abbiegend in die Roonstraße, um über die Bahnhofsstraße und den Friedrich-Ebert-Ring erneut die Obere Löhr anzusteuern. Unmittelbar vor der Metzgerei Waldrich fand er unverhofft eine Parklücke und versuchte sich zu sortieren. Wie unendlich weit weg ist die Vorstellung heute, dass man nicht  j e d e r z e i t  per Handy seinen Standort, sein Kommen – auch sein Begehren, seine Sehnsucht, seine Verzweiflung, sein  D a s e i n  signalisieren konnte: Ich bin hier – wo bist Du?

Er stieg aus, sammelte sich, ging zur Haustüre, klingelte und wartete und klingelte erneut – und wartete. Es war kühl, er war nervös. Die Haustür war verschlossen und auch wiederholtes Klingeln – Sturmklingeln änderte daran nichts. Aber die Verabredung für den heutigen Abend war unmissverständlich beidseitig – abgesprochen in großer Vorfreude. Er hatte kalte Füße, ihn fröstelte zutiefst. War das alles ein Irrtum? Hatte Claudia noch kältere Füße bekommen, war sie vielleicht gar nicht zu Hause, oder verleugnete schlicht ihre Anwesenheit?

Die beiden kannten sich nicht. Die Lawine, in deren anschwellender Dynamik er sich jetzt wiederfand, hatte er selbst mit einer Einladung Claudias und ihrer Freundin Iris zur großen Sylvester-Fete zweier befreundeter Wohngemeinschaften losgetreten. Allein diese Einladung war schon ein absolutes Alarmsignal und bedeutete für seine Lebensgefährtin einen klaren Affront, hatte er dies doch bewusst und gänzlich ohne Rücksichtnahme auf noch bestehende Beziehungsverhältnisse verfügt. Im Winterchaos des Jahreswechsels 1978/79 kam es dann auch folgerichtig zur Verabredung auf einen Kaffee bei Claudia. Deren Wohnung war ihm sogar schon bekannt. Einmal hatte er sie und eine Freundin aus der Vorhölle, der Studentenkneipe auf dem Oberwerth, mit in die Stadt genommen und war noch auf ein Bier mit in die Löhrstraße gefahren. Und Gabi – Claudias Mitbewohnerin – hatte ihn zur gemeinsamen Einweihungsfete eingeladen. Das erste wirkliche und erklärte Antichambrieren, das unmissverständlich Claudia galt, war erst wenige Wochen her und hatte zur heutigen Verabredung geführt. Ganz und gar merkwürdig und für ihn vollkommen ungewohnt hatte er sich bei diesem Antichambrieren für fast eine Stunde zwischengeparkt gefühlt. Gabi, die Mitbewohnerin Claudias, die er schon länger kannte, hatte ihn an der Wohnungstüre empfangen und mit dem Hinweis in ihr Zimmer gelenkt, Claudia wäre noch im Gespräch mit einem Berater der Krankenversicherung. Er erinnerte sich an ein durchaus kurzweiliges Intermezzo bei Kaffee und verspätetem Weihnachtsgebäck. Jahre später sollte er erfahren, dass er tatsächlich in eine Warteschleife geschickt wurde, weil Claudia sich erst noch von einem Gast verabschieden musste, der ihm – und dem er – nicht begegnen sollte. Claudia war angeblich ohnehin lange der Meinung, er sei doch viel mehr an ihrer Mitbewohnerin interessiert und hatte schlicht mehrere Eisen im Feuer. Dass sie Feuer hatte, hatte sich ihm im Übrigen auf dieser Einweihungsfete extrem ins Gedächtnis eingeschrieben. Er war zu früh und bekam ein Telefongespräch zwischen Claudia und ihrem Vater mit – nie hatte er telefonisch ein solch gewitterträchtiges Funkenschlagen erlebt. Auf dem Höhepunkt dieser Fete kam es dann zu einem Eklat, weil wiederum R. sich eine kräftige Ohrfeige einfing. Irgendwie musste es mit der Tatsache zusammenhängen, dass er Claudias letzter fester Freund war, der sich noch darin zu üben hatte, den aktuellen Status quo zu realisieren.

All dies und noch viel mehr ging ihm durch den Kopf. Er stand vor verschlossener Haustüre wie ein begossener Pudel. Die Vorstellung, dass Claudia tatsächlich kalte Füße bekommen hatte, gab ihm mehr und mehr Sinn. Er hätte sich selbst nicht einen Millimeter über den Weg getraut; was sollte Claudia veranlassen Nähe zuzulassen, gar zu suchen – zu ihm??? War er doch nichts anderes als einer dieser typischen treulosen, orientierungsschwachen jungen Männer, die ihr reihenweise begegneten und den Hof machten! Den Hof machen?

Erst einmal wechselte er die Straßenseite. Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss und präsentierte sich zur Straßenseite hin mit zwei großen Fenstern, jeweils – in Ermangelung von Rollläden – mit schweren Stoffvorhängen abgedunkelt. Trotz dieser, keinerlei Einsicht gewährenden, blickdichten Vorhänge hatte er den Eindruck einen Unterschied auszumachen, so dass sich in ihm die Wahrnehmung breit machte, in Claudias Zimmer müsse eine Lichtquelle für einen sanften Unterschied sorgen – vielleicht Kerzenlicht? Die Gedankenorgel kam nun so richtig in Fahrt und die unteren Register bliesen ihm entgegen: „Das geschieht Dir Recht, mitten im Schlamassel eines ungeklärten Beziehungsdesasters, der alten Enge noch nicht wirklich entwachsen, zeigt Dir jemand deine Grenze; Claudia hatte ganz einfach diese Verabredung vergessen, oder ignorierte sie schlicht, beherbergte möglicherweise einen Gast (vielleicht jenen Gast, dem er seinerzeit schon nicht begegnen sollte) und schickte ihn dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ja, wo kam er denn eigentlich her?

Er wollte weg! Er hatte das Gefühl, seine Seele verkauft zu haben und wollte sein Leben zurück. Die Welt und das Herz war ihm eng; seit Jahren hatte er das Gefühl in dieser Enge zu ersticken. Der gemeinsame Weg von Bad Neuenahr nach Koblenz war unzweifelhaft ein Irrweg. Diese Einsicht hatte sich bereits nach wenigen Wochen des ersten gemeinsamen Wohnens in der ersten gemeinsamen Wohnung offenbart: Wo gehst du hin? Wo kommst du her? Wann kommst du zurück? Mit wem triffst du dich? Muss das denn schon wieder sein? Er hatte sich bereits zu Schulzeiten politisch interessiert und engagiert. Schon im November schloss er sich der GEW-Hochschulgruppe an. Der Weg mit den anderen Neuenahrern in eine Wohngemeinschaft führte 1976 zu einer vordergründigen Beruhigung und verdeckte viele Konflikte. Wie lernt man eigentlich Partnerschaft – wie gelangt man aus einer romantischen Liebesbeziehung in eine liebevolle, verantwortliche Partnerschaft, ohne sich gänzlich zu verlieren? Es war nur eine dumpfe Ahnung, dass einem die Welt gänzlich zum Nagel gerät, wenn man kein anderes Werkzeug zur Hand hat als einen Hammer.

Dass die erste Liebe auch die einzige bleibt, das soll vorkommen. Nach einem langen Leben nimmt man dies ungläubig zur Kenntnis und weiß es in der Regel besser. Aber er wusste es nicht wirklich besser. Und er wollte Claudia den Hof machen – den  H O F!!! In der der Gefahr wächst das Rettende auch! Das Rettende? Die Häuser der oberen Löhrstraße hatten dort ihre Hauptzugänge mit Eingangstüre und Klingel. Sie waren aber gleichermaßen über die Bahnhofstraße begeh- und vor allem befahrbar; die Warenanlieferung erfolgte über die Hinterhöfe und selbstredend gab es einen Hinterhofzugang, der in der Regel unverschlossen war. So bewegte sich der Schreiber auf kürzestem Weg um den Block und betrat das Grundstück über den Hinterhof. Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Er stieg die 18 Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf und versuchte es erneut: Klingeln – Klopfen – Klingeln – Klopfen! Zwischen Ernüchterung, Wut und Verzweiflung stellte sich die Frage: Was tun??? Den Schwanz einkneifen und den Rückzug antreten!? Dafür war er nicht hier, und dafür war er nicht gemacht – weiß Gott, danach stand ihm nicht der Sinn. Spontan brach sich die ihm eigene Sturheit, gepaart mit einer dumpfen Liebesblödigkeit Bahn. Lange vor Gerhard Schröder spürte er, wie sich alles Sehnen, alle Energie, aller Eigensinn begann zu fokussieren auf ein zentrales Ziel: Ich will hier rein – ich muss hier rein, jetzt und heute – unverzüglich! (hätte Schabowski gesagt). Und jener Steiner hätte nun beobachtet, dass sich Gott seiner erbarmte mit der Halluzination eines Lichts nicht von dieser Welt.

Er erlebte die folgenden Minuten in einer ähnlichen Entrückung. Und dennoch begann er mit kühlem Kopf die Gesamtlage zu sondieren: Das Treppenhaus verfügte unterhalb jedes Treppenabsatzes – jeweils etwa von der dritten Stufe treppab aus zu öffnen – über schmale Fensterluken, die auf einen Lichtschacht hin ausgerichtet waren. Öffnete man die Luke und kletterte auf die Fensterbank, erblickte man – schräg nach oben versetzt – das Fenster zum Badezimmer der Einlass verweigernden Wohnung von Claudia und Gabi. Unterhalb befand sich ein Glasdach, das den Lieferanteneingang zur Metzgerei vor Regen schützte. Das Badezimmerfenster verfügte über eine solide Fensterbank mit einer Tropfkante. Etwa einen Meter unterhalb dieser Fensterbank verlief in der Horizontale ein ca. zwei Zentimeter breiter Absatz in Art einer Putzkante. Gelang es in einem flüssigen Bewegungsablauf Fuß zu fassen auf diesem Absatz und gleichzeitig Halt zu finden an der Fensterbank, um sodann unverzüglich das Fenster aufzustoßen – sollte es nicht verriegelt sein –, oder aber im Falle der Verriegelung mit einem einzigen gezielten Ellbogenstoß die Fensterscheibe zu demolieren, hätte man die Chance, Einlass zu finden. Das Treppenhaus lag ruhig und verlassen, kein menschliches Wesen ließ sich blicken oder vernehmen. Er war alleine und unbeobachtet. Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Das worst-case-szenario würde  mit einem Absturz in das etwa zwei Meter unterhalb aufgespannte Glasdach enden. Dabei würde er sich aller Voraussicht nach nicht das Genick brechen, aber einen Höllenlärm verursachen und Gott und die Welt – und ganz sicher die Polizei – auf den Plan rufen.

Der Schreiber dieser Zeilen war in jenen Jahren ein durchtrainiertes Leichtgewicht, das bei 187 cm Körperlänge etwa 74 Kilogramm Lebendgewicht auf die Waage brachte; als Bezirksschulmeister im Hochsprung hatte er 1972 seine eigene Körperlänge übersprungen. Er trug eine Lederjacke und Boots mit einer recht steifen Besohlung. Was sich nun zutrug, stand möglicherweise unter göttlichem Segen, und sollte er hier bis heute einer Wahnvorstellung aufsitzen, so hatte er ganz unzweifelhaft eine andere Schutzmacht auf seiner Seite. Er wog die Chancen mehrmals ab, taxierte die Entfernungen und war schließlich fest entschlossen. Bei der worst-case-Erwägung kamen ihm seine Eltern in den Sinn; Vater und Mutter hatten immer blindes Vertrauen gezeigt, auch in wendepunktträchtige Entscheidungen, wie seinerzeit bei der eigenmächtigen Durchsetzung des Wechsels von der Privaten Handelsschule zum Are-Gymnasium in Bad Neuenahr. Ein letztes Zögern verbat sich nun allein schon aus den Einflüsterungen, die er – bei der Ehre seiner Mutter – überdeutlich vernahm. Er sah vor allem die Mutter, die ihn ermunterte und ihm die Sicherheit vermittelte das Richtige zu tun. Alle Erwägungen, ob dies nun Recht sei oder sittsam, spielten überhaupt keine Rolle. Sein Handeln stand einzig unter dem Steinerschen Verdikt, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Zugegebenermaßen war sein Vorhaben nicht nur irrational, sondern zweifelsfrei idiotisch, wenn nicht selbstmörderisch. Erst zwanzig Jahre später sollte er vollends begreifen, warum gerade die Mutter die Patenschaft für seinen aberwitzigen Husarenritt übernommen hatte.

Er vergewisserte sich, ob das Umfeld weiterhin ruhig blieb, stieg auf die Fensterbank der Luke zum Lichthof, taxierte noch einmal genau Abstände und Sachverhalte, den zu erreichenden Absatz und die Griffigkeit der Fensterbank – die schien aus geriffeltem Basalt zu bestehen. Dann atmete er tief durch, machte einen weiten Ausfallschritt, kam unterhalb des Badezimmerfensters zu stehen, versuchte gleichzeitig mit den Fingern der rechten Hand die ausgefräste Führung der Tropfkante zu greifen, während der Daumen im Verein mit den Fingern wie eine Zwinge die Fensterbank von oben klammerte. Dies gelang innerhalb weniger Sekunden. Und es blieben nur wenige Sekunden, sich klammernd auszubalancieren und in einem finalen Rettungsakt das Fenster aufzustoßen. Es verschwimmt zwischen akuter Panikattacke und einer verzweifelten Willensanstrengung zuerst realisieren zu müssen, dass das Fenster verriegelt war, um dann mit letzter Kraftanstrengung den linken Ellenbogen in die Fensterscheibe zu rammen, die splitternd und klirrend zerbrach (die Vorstellung jenes Badezimmerfenster hätte seinerzeit bereits über eine einbruchsichere Doppel- oder Dreifachverglasung verfügt, wirkt heute noch schweißtreibend). Der endokrine finale Mix aus Adrenalin und Testosteron hatte inzwischen jede abgeklärte, eiskalte Haltung in einen Zustand innerer Wallung verwandelt, so dass sich die nächsten Schritte wie in Trance vollzogen. Er fand sich inmitten des kleinen Badezimmers wieder. Der Einbruch selbst hatte sicherlich nicht mehr als eine gute Minute gedauert. Dass dieser Gewaltakt eine unüberhörbare Lautkulisse erzeugt hatte, brachte ihn sekündlich in die reale Welt zurück. Zu seiner Verblüffung blieb alles totenstill, in der Wohnung genauso wie im gesamten Haus. Nun half es nicht mehr Beistand bei Vater, Mutter und allen Schutzheiligen zu suchen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte er sich in einen irren Hasardeur, der glauben musste einen lupenreinen Grand auf der Hand zu haben. Aber das hier war keine Skatrunde, und urplötzlich stand die Frage im Raum, ob er sich nicht maßlos überreizt und verzockt hatte? Warum rührte sich nach dem Zersplittern des Fensters immer noch nichts. Dass Gabi nicht zu Hause war, war von Anbeginn seiner Bemühungen klar, aber was war – verdammt noch mal – mit Claudia?

Er schaltete das Licht ein und setzte sich auf den Badewannenrand, sah, dass er an der Hand blutete, stand auf und wusch sich das Blut ab. Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und blickte in das Gesicht eines… ja, in wessen Gesicht blickte er da? Eines irren, liebesblöden Einbrechers, der sich jetzt den Konsequenzen seines Handelns stellen musste!? Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob hier eine Heldengeschichte geschrieben wurde, oder ob ein betrogener Betrüger sein Waterloo erfuhr. Immerhin so viel lässt sich sagen, dass Claudia während der vergangenen Stunde, in der jemand alle Zustände des Verrücktseins durchlebte, Leib und Leben riskierte, straffällig wurde und alle mehr als berechtigten Selbstzweifel halluzinativ und endokrinologisch in Schach hielt und dabei das Vermögen entfaltete, dem Schacht zu entgehen, in aller Seelenruhe in ihrem Bett lag und schlief – fahrlässig zumal, weil sie einer Kerze erlaubte ein schütteres Licht auf ihre weltentrückte Schönheit zu werfen.

Und der Schreiber war gut beraten, 42 Jahre und 5 Minuten Abstand zwischen sich und den geschilderten Ereignissen wachsen zu lassen. So kommt er heute endlich in Augenhöhe mit Steiner, der vor gut zwanzig Jahren – damals just im Alter des Schreibers – glaubte behaupten zu können, dass erstens die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, einiges für sich hat, und dass sich zweitens damit die Schlussfolgerung ziehen lasse, dass all dies für die jeweils Handelnden Sinn mache – und zwar jenseits aller Vernunft, jenseits von Gut und Böse und sogar jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sei. Die hier geschilderten Ereignisse aus jenen trüben Märzstunden im Frühjahr 1979 befüllen jedenfalls eine bis heute nicht versiegende Sinnquelle.

Über den Sinn, den diese Ereignisse für das begehrte Gegenüber, jene einzigartige schlaftrunkene und weltentrückte Schönheit hatten, mag der Schreiber nicht wirklich spekulieren. Dass uns in wenigen Monaten die Rubinhochzeit (40 Jahre) winkt und die Glocken läuten für ein erhofftes fürsorgliches Finale mag als Antwort überzeugen. Und wenn Pascal sagt, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, so würde Pascal sich heute die Augen reiben: Denn das Herz triumphierte in den Märztagen des Frühjahrs 1979 – und man hört es heute noch pochen; und so wie das Herz den Verstand belebt, so gibt der Verstand dem Herzen heute so viele Gründe, an denen es sich erbauen kann. Allein aus diesen Gründen lohnt es den Geschichten nachzugehen, die der Schreiber hier festhalten möchte – auch für die Nachwelt.

 

Wir machen uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. (2)

Warum sollte man sich darüber Gedanken machen, wie Menschen in diese Welt kommen? Das ist doch das Selbstverständlichste und Normalste überhaupt!? Einerseits ist dies gewiss nicht von der Hand zu weisen. Und am Abend dieses trüben Märztages im Frühjahr 1979 wurde ganz gewiss der Möglichkeit erheblichen Vorschub geleistet, dass aus einer Verbindung dieses liebesblöden, verrückten Einbrechers mit der schönen, weltentrückten Moselperle Kinder hervorgehen könnten – vielleicht zwei Mädchen, deren Vornamen mit L. und mit A. beginnen könnten. Und – besessen von Generativität – wäre es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass aus den beiden irgendwann sogar Oma und Opa würden!?

Während Claudia alles richtig gemacht und sich in der Männerwelt umgesehen hatte, versuchte der nicht mehr ganz junge Hasardeur – wie weiter oben eindrücklich geschildert – soeben seine Freiheit zurückzugewinnen, um sie im gleichen Augenblick wieder zu verpfänden. Geht alles seinen Gang, finden sich die generativitätsverheißenden Keimzellen im besten Falle wie von selbst. Von außen betrachtet mag sich das Verknüpfen zueinander passender Fäden im Einzelfall zuweilen abstrus und irritierend ausnehmen. Schenkt man Biologen, Endokrinologen, Physiologen (insbesondere in Gestalt von Geruchsforschern) Glauben, hat die Natur in der Regel ihre Finger im Spiel. Vor zweieinhalbtausend Jahren hatte Platon mit seiner Vorstellung der beiden komplementären Hälften bereits eine idealisierte Variante dieser Paarungsidee in die Welt gebracht. Zu der Annahme, oder im besten Fall der gemeinsamen Überzeugung, dass sie nicht zueinander passen, - möglicherweise sogar eklatant ungeeignet füreinander sind – kommen Menschen häufig erst nach Jahren, manchmal erst nach Jahrzehnten des Zusammenlebens. So beiläufig, wie es ein Soziologe von Weltrang (Niklas Luhmann) formulierte, dass man sich nämlich unter Umständen nach der Scheidung als jemand wiederfinde, der das erreicht hatte, was er sich gewünscht hatte, und dann einsehen musste, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte, erleben viele Trennungswillige und Trennungsgeschädigte das Zusammenkommen und das Auseinandergehen nicht! Die Bedingungen und Varianten solcher Vorgänge sind unendlich, wenngleich sich grobe Muster erkennen lassen:

  • Die Liebe auf den ersten Blick – zwei Menschen vergucken, verbinden, verstricken und verbandeln sich miteinander. Manchmal geht das gut und aus Liebe wird liebevolle Partnerschaft, häufig verbunden mit der Gründung einer Familie und der Zugehörigkeit zu einer Sippe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben/lieben sie noch heute.
  • Einer verliebt sich und gibt nicht eher auf, bis ihn der/die andere erhört. Damit beginnt entweder eine Erfolgsgeschichte, man traut sich (oder auch nicht) und geht gemeinsam durchs Leben. Oder der Anfang vom Ende nimmt seinen Lauf und man erlebt, was der eine geahnt und der andere nicht sehen wollte/konnte.
  • Zwei Menschen sind befreundet – vielleicht beste Freunde – und nach und nach oder auch mit einem Mal gesellt sich zur Philia der Eros. Zur Frage, ob die beiden miteinander klar kommen (können), könnten vielleicht Harry und Sally etwas sagen!
  • Zwei Menschen verlieben sich unsterblich ineinander. Aber sie scheitern letztlich daran, dass die Einsicht, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, von beiden völlig gegensätzlich ausgelegt wird: Der tragischste aller Widersprüche auf dieser Ebene resultiert aus der ausweglosen Klemme, dass der eine Kinder will und der andere nicht (übrigens der einzige Grund, aus dem nach katholischer Rechtsauslegung das heilige Sakrament der Ehe aufgelöst werden darf). Expertin auf diesem Gebiet ist Eva Illouz!

Es ist wohl kaum anzunehmen, dass vor allem junge Menschen sich über solche Unterschiede Gedanken machen, zumal all diese Varianten sich in einer Welt zutragen, die sich in der sogenannten Moderne Phänomenen verdanken, die sich Aufklärung und Emanzipation nennen. Schaut der Schreiber – zugegeben nun selber schon alt – nur auf seine Eltern, dann wird er auf ganz andere Phänomene stoßen, die das schiere Gegenteil von Aufklärung und Emanzipation bedeuten.

 Das Wissen darum, wie Kinder in diese Welt kommen – Der absolute Zufall der Geburt (3)

Allein das Wissen darum, wie Kinder gemacht werden, war in dieser Welt mit einem Tabu belegt. Die junge Frau, die nun in Erscheinung tritt, hätte mit der Unterscheidung, ob man ein Kind will oder ob man Sex will, gar nichts anfangen können. Es gab nicht einmal eine Sprache dafür – geschweige denn Ansprechpartner, solche Unterschiede bedenken oder gar besprechen zu können. Auch Sex haben zu wollen war beispielsweise zu Beginn der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz sicher nicht das erklärte Ziel einer eben erst siebzehnjährigen jungen Frau. Und wenn sie noch geahnt hätte, dass das, was sie irgendwie wollte, von dem sie aber so ganz und gar nicht wusste, wie es sich zutragen würde und dass es gar dazu führen kann – und in ihrem Fall sogar unabwendbar dazu führte –, ein Kind zu empfangen, dann wäre die Schwester des Chronisten niemals geboren worden; und so auch nicht ihr Sohn und ihre Enkelin.

Wie segensreich doch auch Unwissen sein kann!? Niklas Luhmann hat dafür nur die lapidare Bemerkung übrig, dass die Geburt zwar als Faktum deklariert und in der Regel beurkundet wird, dass sie aber – berücksichtige man, wie es dazu gekommen ist – einen extrem unwahrscheinlichen Zufall darstelle. Und ganz sicher markiert es einen extrem folgenreichen Umstand, wenn infolge des Unaussprechlichen ein Mädchen geboren wird, das seinen Vater niemals kennenlernen wird. Und mehr noch müssen die ursprünglichen Geschehnisse darüber hinaus abgeschattet und im Dunkel bleiben, so dass selbst der Vermerk: „Vater unbekannt“ in der Geburtsurkunde lange unbemerkt bleibt und im Familienarchiv mit einem radikalen Tabu belegt wird. Das hat Folgen, so wie die Tatsache Folgen hat, dass diesem Mädchen zwei Brüder – zwei halbe Brüder – geboren werden, deren Startbedingungen in dies Welt sich in so ganz anderer Weise ausprägen werden.

Exemplarisch mag dies daran greifbar werden, dass eine ungewollte – eine persönliche und familiäre Tragödie auslösende – Schwangerschaft für alle Beteiligten etwas völlig anderes bedeutet als eine erhoffte und mit Kräften ersehnte Schwangerschaft. Dies alles hat der Schreiber zehn Jahre nach dem Tod der Mutter in Hildes Geschichte bereits aufgeschrieben. Ungewöhnlich bis heute erscheinen die Bindungskräfte, die einerseits zwei Wunschkinder – beides Söhne – in starker elterlicher, auch mütterlicher Loyalität halten, die aber gleichzeitig eine starke geschwisterliche Bindung unter allen dreien von der Mutter geborenen Kindern erkennen lassen. Die Tragik dieser singulären Familiengeschichte, die so exemplarisch für ihre Zeit ist, hat viele Facetten: Der Preis, der für ein relativ normales Familienleben zu entrichten war, lag einerseits in der Schweigespirale begründet, die die Mutter-Tochter-Beziehung ganz offenkundig ein Leben lang belastet hat. Andererseits wuchsen zwei Söhne heran in einem familialen Fluidum, dass ebenso offenkundig dazu angetan war, diesen Söhnen eine Haltung zu vermitteln, die alle Formen der Ausgrenzung ausschlossen, eine paradox anmutende Formulierung, die auf sanfte Weise Loyalitätskonflikte andeutet, die auf ganz und gar originelle Weise einen Ausweg finden würden.

Kann man angesichts des historischen Weltbebens in Gestalt der NS-Terror- und Gewaltherrschaft unbefangen von einem kleinen Glück im großen Unglück sprechen? Begründet in den Umständen und dem Ort der Geburt der Tochter im Juni 1942 – genau vier Wochen vor dem 18. Geburtstag der Mutter? Das Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) Flammersfeld im Westerwald bot seinerzeit den absolut geschützten Raum mit geburtsvorbereitender und –begleitender Expertise auf der Höhe der Zeit. So kam ein gesundes, kräftiges Mädchen zur Welt, in dessen Geburtsurkunde aber bereits der Vermerk „Vater unbekannt“ lebensbestimmend werden sollte. Zwar in der Welt zu sein, aber in der Welt zu sein als Ausdruck eines vom Zeitgeist und den mörderischen BeobachterInnen in der Heimat immer wieder signalisierten Ausdrucks der Schande – im Übrigen auch eine Botschaft, die der Großvater der werdenden Mutter mit auf den Weg nach Flammersfeld gegeben hatte – das ist doch eine starke Hypothek!? Und dass zwischen der eigenen Geburt und der Geburt des ersten Bruders in Bad Neuenahr, mit der ich selbst das Licht der Welt erblickte, immerhin zehn Jahre liegen, mag ein äußeres Zeichen dafür sein, dass der Weg zurück in die zivilisierte Gesellschaft – für Ursulas Mutter in Gestalt der Enge einer streng katholischen Spießerwelt ein steiniger war. Ausspucken vor der verkörperten Schande und die üble Nachrede, die sich in Lauterkeit und moralischer Überlegenheit gebärdete, gehörten wohl anfangs zu den alltäglichen Formen der Ausgrenzung. Und diese Ausgrenzung vollzog sich auch im unmittelbaren nachbarschaftlichen Kontakt.

Die einzige vollkommene Ausnahme von diesem, in christlicher Lauterkeit geführten Exklusionsfeldzug manifestierte sich ausgerechnet in Gestalt des Nachbarsohnes. Er allein begann – vor allem auch gegen die eigene Mutter – schon früh seinen eigenen Feldzug zur Eroberung einer geschliffenen Festung. Diese Festung erwies sich vor allem deshalb als schier uneinnehmbar, weil es zur Entfernung der Trümmer, die sich da angehäuft hatten, kein geeignetes Werkzeug gab. Der Schreiber dieser Zeilen spricht andernorts von dem dicken Brett, das sein Vater, Theo Witsch, über viele Jahre gebohrt hat. Seine unendliche Geduld und Ausdauer führte gut sechs Jahre nach der Geburt Ursulas zur Heirat von Hilde und Theo – am 21. August (standesamtlich) bzw. am 18. September 1948 (kirchlich). Da musste sich die kleine Ursula – kurz nach der Einschulung – nicht mehr auf einen vollkommen fremden Mann einstellen, der zwar nicht ihr Vater war, der aber offenkundig schon lange vor der Heirat sein Herz geöffnet hatte für ein Mädchen, dass er dann an Vaters Stelle annahm, und dem er – dafür gibt es keine beredtere Zeugin als jenes Mädchen selbst – ein über die Maßen geliebter (Stief-)vater wurde. Vielleicht ist dies schon die Stelle, an der der überlebende der Brüder Zeugnis ablegen sollte über eine ungewöhnliche Integrationsleistung eines 1922 geborenen Mannes, der seine Jugend, ein Stück seiner Unbefangenheit und seine Gesundheit jenen verbrecherischen Hasardeuren opfern musste, die Europa und die Welt mit Terror und Krieg belegten. Auch er – der nur eineinhalb Jahre ältere Nachbarssohn hatte natürlich keinen Zugang zu dem, was sich in den späten August- und frühen Septembertagen 1941 in Bad Neuenahr zugetragen hatte und ihm schon eine Vaterschaft bescherte, bevor ihm eigene Kinder geboren wurden.

Der Schreiber hat sich sein Leben lang professionell mit der Frage auseinandergesetzt, was man wohl als zuträgliche Bedingungen für einen nachhaltigen positiven Start in sein eigenes Leben betrachten kann. Neben den Schlüsselkategorien Geborgenheit und Zugehörigkeit konnte er die Idee der bedingungslosen Liebe vor allem in Gestalt stetiger liebevoller Zugewandtheit nicht nur in der Theorie als notwendige Bedingungen ausmachen, sondern sie entsprachen auch vollkommen der erfahrenen Praxis im eigenen familialen Umfeld. So hatten die beiden Brüder stets guten Wind im Rücken. Die Schwester hingegen stand primär unter dem Schutzpatronat ihres Stiefvaters, von dem die Brüder erst spät begriffen, dass er nicht Ursulas leiblicher Vater war bzw. sein konnte. So hatten das Familiengeheimnis und das damit verbundene Tabu durchaus auch positive Seiten. In der Gestalt der Schwester – immerhin zehn bzw. fast vierzehn Jahre älter als ihre Brüder – wuchs eine starke, widerborstige, eigensinnige Persönlichkeit heran, die über ein außerordentliches Maß – heute würde man sagen – an Resilienz verfügt. Wer früh um Status und Anerkennung kämpfen muss, ist in seinem Leben eigentlich zu fortgesetztem und möglicherweise auch finalem Scheitern prädestiniert. Dass die Schwester standhielt, nie resignierte und immer – bei allen Rückschlägen und Widrigkeiten in ihrem Leben – Lebenswillen bewies und Lebenslust sich gestattete, macht sie bis heute zu einem besonderen und außergewöhnlichen Menschen. Bei aller selbstbezogenen und kämpferischen Ausrichtung der eigenen Lebensenergie – und ziele lässt sich ein Übermaß an Verantwortung und Empathie erkennen – dies umso ausgeprägter, je älter sie wird; unglaublich angesichts der frühen soziologischen Definition von Benachteiligung: katholisch, ländlich, weiblich – so definierte Erwin K. Scheuch (Kölner Soziologe) in den 50er Jahren die Situation katholischer Mädchen auf dem Lande, zumal im erzkatholischen Rheinland! So lernen wir eminent praktisch und aus Erfahrung heraus den gravierenden Unterschied zwischen formaler Bildung und Herzensbildung.

Bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass – so ganz anders als 1941 – die Bemühungen um (erneute) Schwangerschaft einem mühsamen Geduldsspiel gleichkamen. Franz Streit, dem leiblichen Vater des am 5.6.1942 geborenen kräftigen, gesunden Mädchens, hatte ein einziger Beischlaf genügt, um das Leben anzustoßen; ganz und gar ungewollt, unerwartet, aber billigend in Kauf nehmend, dass jenes Erweckungsgeschehen am 9. September 1941 in Remagen aus Hilde nicht nur eine Frau, sondern eine Frau machen würde, die fortan in guter Hoffnung sein würde, bis sie ihre Ursula hineinbefördern würde in den beginnenden Untergang, dessen Bilanz auch den finalen Blutzoll des Franz Streit am 23. September 1943 (gefallen im Dnjeprbogen bei Saporoshje) ganz selbstverständlich und beiläufig registrieren würde; eine Tatsache im Übrigen, die Hilde und seiner bzw. ihrer Tochter erst mehr als 60 Jahre nach Franzens Tod erreichen würde.

Fast 80 bzw. 70 Jahre nach diesen Ereignissen vermag man vielleicht deutlicher sehen, wie folgenreich sich Schwangerschaften im sozialen Umfeld auswirken: Kam die erste Schwangerschaft denkbar zu früh und ungewollt, so kam die zweite, herbeigesehnte und -herbeigebetete Schwangerschaft eigentlich – und auch zum großen Bedauern des Zweitgeborenen – zu spät. Zu spät, wofür? Eine der immer wieder erzählten Geschichten geht so, dass der Vater Theos und Schwiegervater von Hilde und Großvater von Franz Josef (und Wilfried) nach dem Tod seiner Frau (drei Wochen vor der Hochzeit von Hilde und Theo) keinen Lebensmut mehr hatte – man würde heute von einer durch den Verlust der Ehefrau ausgelösten Altersdepression sprechen. Zweimal hatten die beiden dem Vater mitgeteilt, dass Hilde sich in guter Hoffnung befände; beide Male kam es zum ungewollten Abbruch der Schwangerschaft. Endlich dann bei der dritten Schwangerschaft wollte man die Lehre ziehen und solange warten mit der frohen Botschaft, bis die Schwangerschaft auch stabil und aussichtsreich erschien. Der (Schwieger-)Vater hat – bevor er davon erfahren hat, so geht die Geschichte – dann bei der Fango-Produktion wohl bewusst und willentlich giftige Abgase eingeatmet und ist vor der Geburt seines ersten Enkels gestorben. Der zweite Enkel kam dann 1955. Die Familienplanung war damit abgeschlossen, und fortan lebten die fünf miteinander solange, bis der Tod die Eheleute schied.

Am 24. April 1988 – im Alter von 65 Jahren – starb Theo innerhalb einer Woche an den akuten Folgen eines Herzinfarkts. Zehn Tage zuvor hatte die Familie Theos 65sten Geburtstag in Bad Bodendorf noch groß gefeiert – den Vater auf gutem Wege wähnend. Die Feier ist allein aus einem einzigen Grund besonders zu erwähnen, weil dem Schreiber dieser Zeilen Jahre später beim Anschauen eines Videomitschnitts auffiel, dass zu diesem Festakt keiner der Söhne das Wort genommen hatte, sondern dass die Schwester die Laudatio hielt und dies in beeindruckender Bestätigung des Bekenntnisses, sich keinen besseren Vater vorstellen zu können. Jahrzehnte nach dieser Geburtstagsfeier wirkte dieses Bekenntnis noch einmal wie die verdrängte Bestätigung eines filigranen sozialen Gebildes, in dem der Vater auf unmissverständliche, gleichwohl diskrete Weise der entscheidende Integrationsmotor war.

Dies ist sicherlich umso bedeutsamer, als nach dem Tode Theos die Tochter – zuerst zaghaft, dann aber konsequent und rückhaltlos – damit begann die Frage nach ihrer (väterlichen) Herkunft zu stellen.

 

Spurensuche I (4)

Gehen wir einmal – von 1988 aus gesehen – 28 Jahre rückwärts; wir landen im Jahr 1960, genauer im Juli 1960. Am 19. Juli 1960, an einem Dienstag, fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen, Franz Josef und Wilfried, nach Flammersfeld, so ziemlich genau 18 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Ursula. Die erste Frage, die sich heute stellt: „Was – um Himmels Willen – will sie dort in Flammersfeld?“ Die Erinnerungen des Schreibers dieser Aufzeichnungen sind dünn; hilfreich sind sechs Postkarten, die zum einen das Zeitfenster (19.7.-27.7.1960) exakt belegen, und die zum anderen etwas offenbaren über Umstände und Eindrücke dieser merkwürdigen Reise. Drei Karten sind adressiert an „Familie Theo Witsch“, jeweils eine Karte an „Familie Josef Lahnstein“, „Fräulein Ulla Witsch“ und „Herrn Theo Witsch“. Was am meisten irritiert, sind die Anreden, wobei die erste Karte (20.7.) an „Familie Theo Witsch“ einen rätselhaften, nicht mehr nachvollziehbaren oder irgendwie interpretierbaren Hinweis enthält (fett). Die Anrede irritiert, weil dem Schreiber dieser Aufzeichnungen die Anrede „Vati“ völlig fremd ist und in keiner Weise erinnerlich im Sinne einer alltäglichen Anrede (die lautete immer: Papa und Mama!) Da heißt es:

„Lieber Vati und Ulla, viele Grüße sendet Euch Mutti. Das geben 8 lange Tage. Franz-Josef sagte gestern Abend, da wäre er doch lieber zu Hause geblieben, immer nur spazieren gehen, das ist nicht das richtige. Im Schwimmbad ist kein Tropfen Wasser und spielen kann man auch nicht gehen. Jetzt gehen wir einen Ball kaufen, dann können wir wenigstens Fußball spielen. Der Herr mit Auto ist mir schon begegnet, war mir sehr peinlich. Nochmals Gruß Mutti.“

An ihre Eltern schreibt Hilde:

„Liebe Eltern! Viele Grüße senden Euch Hilde und Kinder. Hier kennt man sich nicht mehr aus. Flammersfeld ist noch 2-mal so groß, wie es war. Liebe Mutter, wie geht es Dir? Wenn es schlimmer ist, dann ruft mich vor 9 Uhr morgens an, die Nummer ist 286. Nochmals viele Grüße Hilde und Kinder.“

Am 21.7. gehen zwei weitere Karten nach Bad Neuenahr; eine an Herrn Theo Witsch und eine an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati, heute regnet es in Strömen, als ob die Welt untergehen wollte, und ich sitze hier mit den Beiden auf dem Zimmer (ich möch zefoß no Kölle jon). Kannst Du Dir das vorstellen. Aber vielleicht regnet es sich heute aus und wir haben dann doch noch ein paar Tage schönes Wetter. Die Leute sind sehr nett und wir bekommen ein prima Frühstück: 6 Brötchen, Brot in Mengen, 1 Ei, Käse, Marmelade, drei Stück Butter. Die Kinder bekommen Kakao. Man könnte es hier schon aushalten. Aber es ist eben zu Hause doch am schönsten. Für heute viele Grüße an Euch beide Mutti.“

Eine mit Bleistift geschriebene Postkarte – liniert – habe offenkundig ich geschrieben:

Lieber Vati und Ulla! Ich wünschte es wäre schon Dienstag. Heute hat es fast den ganzen Tag geregnet. Mama hat uns heute Morgen Regenkeps gekauft. Eben haben wir ein Reh gesehen. Sonst sieht man hier nur Kühe und Ochsen. Was macht Hansi? Für heute viele Grüße von Franz Josef und Wilfried. Auch viele Grüße an Oma und Opa.

Am 22.7. schreibt Hilde an ihre Tochter:

Aus Deinem Geburtsort herzliche Grüße sendet Dir Deine Mutter und Geschwister. Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst. Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens eine Karte schreiben. Für heute nun viele liebe Grüße sendet Dir Mutter.“

Und schließlich die letzte Karte vom 23.7. an Familie Theo Witsch:

Lieber Vati und Ulla! Bis jetzt haben wir noch nicht einen Tag ohne Regen gehabt. Wir sind es richtig leid. Abends liegen wir schon um sieben Uhr im Bett. Wenn man mit dem Zug von hier fahren könnte wären wir schon wieder zu Hause. Aber von hier fahren nur Busse und da hat Franz Josef zu viel Angst. Bis am Dienstag viele Grüße und Aufwiedersehen Mutter.“

Versuchen wir das Wesentliche festzuhalten und es in einen Verstehenshorizont aus heutiger Betrachtung einzuordnen: Vom 19. bis zum 27. Juli 1960 fährt Hilde mit ihren beiden Söhnen nach Flammersfeld im Westerwald, den Geburtsort ihrer Tochter. Diese Geburt ereignete sich – bezogen auf den 19. Juli 1960 genau 18 Jahre und 34 Tage zuvor. Auf der Karte, die Hilde ihrer Tochter schreibt, ist das Geburtshaus Ullas zu sehen, das sogenannte „Braune Haus“, das vier Geschossebenen aufweist, von denen drei auf der Postkarte eindeutig zu erkennen sind. Dieses sogenannte „Braune Haus“ beherbergte 1942 ein Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt – inzwischen ist es abgerissen. Bemerkenswert ist, dass Hilde die Karte mit dem Hinweis beginnt: „Aus Deinem Geburtsort …“. Ursula Witsch, geborene Lahnstein, bekam hiermit einen Hinweis, der ihr – nimmt sie ihn wörtlich – die Frage aufzwingt: „Warum bin ich nicht zu Hause bzw. in Bad Neuenahr geboren, sondern in Flammersfeld?“ Und genauso, wie sie all die kleinen Mosaiksteine gesammelt haben mag in ihrem Unterbewussten, wird sie diesen Hinweis abgespeichert haben auf der langen Liste von Fragen, die sich mit ihrer Zeugung und Geburt verbinden: „Wieso Flammersfeld – am 5.6.1942? Da war meine Mutter nicht einmal 18 Jahre alt!“ Dass Flammersfeld jene wendepunktspezifischen Qualitäten repräsentiert, die Niklas Luhmanns Lebenslauf-Definition entsprechen, wird in unmittelbarer Zukunft eine weitere markante Besonderheit offenbaren. Luhmann bemerkt ja in seiner unvergleichlich trockenen Diktion: „Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“ Und die Postkarte an ihre Tochter enthält weiteren Zunder, und man ist geneigt, Hilde zu unterstellen, dass sie hier bewusst zündelt: „Hast Du auch schon Post von Deinem Ernst? Ich habe gedacht, wenn der Ernst Dir vielleicht nicht schreibt, will ich Dir wenigstens ein Karte schreiben.“ Stand die Beziehung zu jenem Ernst, der der Vater ihres Sohnes Michael werden sollte, soeben auf der Kippe? War es jener Sommer, den Ernst mit einem Freund in Dänemark oder Schweden verbracht hat, um sich die Hörner abzustoßen – seine Erzählungen sind legendär!? Das Zündeln hatte zwiespältige Folgen. Hilde hat gewiss weder damit gerechnet noch davon geträumt, dass es ihre Tochter ihr gleichtun würde, sich nämlich zu einem vergleichbar frühen Zeitpunkt schwängern zu lassen – irgendwann im März 1961, noch mit 18 – wenige Monate vor ihrem 19. Geburtstag. Am 14. Januar bringt sie ihrer Mutter den vielleicht – nein, den ganz sicher – innig begrüßten Enkelsohn zur Welt.

Aber bleiben wir zunächst in Flammersfeld – im Juli 1960! Das Entbindungsheim der NSV war unversehrt. Hilde ist gewiss an diesen Ort zurückgekehrt. Meine Erinnerung mag mich trügen, aber es gibt verschwommene Bilder, die mir zumindest einen Besuch signalisieren. Was zum Teufel hätte unsere Mutter genau an diesen Ort zurückführen sollen, wenn nicht die Hoffnung, den ein oder anderen Akteur, die ein oder andere Beteiligte aus jenen Wochen ihrer Obhut im Heim der NSV wiederzusehen? Und welcher Herr ist ihr begegnet? Und warum war ihr diese Begegnung peinlich? Die Postkarten hat im Übrigen meine Schwester aufbewahrt, meine Schwester, die – nachdem sie gebenedeit war unter den Frauen – ihren Ernst heiratet auf dem Standesamt jenes Ortes, in dem sie das Licht der Welt erblickt hat – in Flammersfeld!

Eine Ironie am Rande all dieser Merkwürdigkeiten ergab sich  40 Jahre später bei der Rekonstruktion des Einsatzweges von Franz Streit in der Deutschen Wehrmacht. Wäre F.S. nicht im September 1943 gefallen, hätte er sich mit dem Stab seines Stammregiments (Panzerregiment 33 der 9. PD) am 15.3.1945 in Flammersfeld wiedergefunden. In den Regimentsunterlagen findet sich zum 15.3.1945 folgender Vermerk: „Die rückwärtigen Teile der Abteilung verlegen über Altenberg – Benzberg – Overath – Much – Schönenberg – Eitorf und Kircheib nach Mehren. Stab über Benzberg – Gummersbach – Auchel – Waldbröl – Wissen – Roth – Hamm – Lenscheid und Weyerbusch nach Flammersfeld.“ Quartier war mit Sicherheit das sogenannte „Braune Haus“, das seine Aufgabe als Entbindungsheim zu diesem Zeitpunkt gewiss schon hatte aufgegeben müssen. Franz Streit, der Hilde zuletzt und seine Tochter zum einzigen Male im Juni 1942 in Flammersfeld gesehen hatte, gehörte da bereits zu den Gefallenen seines Stammregiments, dem er seit der Aufstellung der Division angehört hat.

Es ist müßig über die Motive Hildes zu diesem einwöchigen Urlaub in Flammersfeld zu spekulieren. Dem Verfasser dieser Aufzeichnungen ist erst spät – eigentlich erst im Alter – die unaufgelöste Spannung bewusst geworden, in der Hilde lange gelebt haben muss, und die sie möglicherweise auch dazu veranlasst hat einer Heirat mit Theo erst so spät zuzustimmen. Gleichermaßen unbeantwortet bleibt die Frage, welcher Mann Jahr um Jahr sein Werben aufrechterhalten hätte – gegen alle bedeutsamen Anderen, vor allem gegen die eigene Mutter? Und mit der Heirat war das Menetekel nicht aus der Welt geschafft, dass irgendeines ungewissen Tages Franz Streit auftauchen könnte, um seine Tochter zu sehen und was sonst noch für Motive im Schilde zu führen. Die letzten Heimkehrer wurden 1955 aus russischer Gefangenschaft entlassen! Und da Franz Streit Hilde gegenüber eingestanden hatte, bereits verheiratet zu sein und ein Kind zu haben, lebte sie schlicht in der Ungewissheit über Franzens Schicksal nichts zu wissen. Hilde hat – nach eigenem späten Bekunden – alles vernichtet bzw. verbrannt, was mit Franz Streit zu tun hatte und was sie an ihn hätte erinnern können. Dass Franz Streit den Heldentod gestorben war und nicht nur einen Sohn, sondern derer zwei hatte, würde erst ihre Tochter 60 Jahre später ans Tageslicht befördern. Jahre, nachdem ihr Bruder Wilfried auf dem Weg nach Österreich mit dem Flugzeug abgestürzt war, würde Ursula in Wien (Gert) und in der Nähe von München (Werner) zwei weitere Brüder finden und so ein neues Kapitel unserer und ihrer ganz persönlichen Familiengeschichte aufschlagen.

Ein Schisma der Moderne liegt ganz gewiss in der Möglichkeit einer wirksamen, verlässlichen Empfängnisverhütung begründet. Die Zulassung der Pille in den sechziger Jahren bedeutet ein radikal neues Kapitel in der Beziehung von Frau und Mann. Während sich Hilde mit ihrer gänzlich ungewollten und ungeahnten Schwangerschaft tatsächlich einer Todsünde schuldig machte und den vollen Preis dafür bezahlte, bedeutete die Schwangerschaft ihrer Tochter ein deutlich geringeres Maß an Tragik, da ja immerhin der erfolgreiche Schütze aus der ersten Reihe (Worte meines Vaters) in die Pflicht genommen werden konnte. Die Tragik war gewissermaßen eine nachgetragene, weil Ehen – ausschließlich auf den Tatbestand eines erfolgreichen Beischlafs gegründet – ihre eigenen Hypotheken mit sich schleppen. Weitere Schwangerschaften blieben dem Paar dann auch erspart, bevor die Ehe sich schließlich überlebte und vor dem Scheidungsrichter endete. Dem Prinzip der Generativität war genüge getan und die junge – überaus junge Großmutter – sorgte, so wie das gesamte familiale Umfeld dafür, dass der Enkel beste Startbedingungen für sein künftiges Leben erfuhr. Die lebensprägenden Umstände und die richtungsweisenden Lebensentscheidungen dieses Enkels werden – aus der puren Beobachterhaltung seines Onkels – noch eine raumgreifende Aufmerksamkeit erfahren. Alle in die Verantwortung bzw. das Geflecht von Erziehung und Beziehung einbezogenen – meinetwegen auch verstrickten – Akteure hatten bzw. habe ihre Sicht auf die Familiendynamik, die sich aus all den bereits erwähnten Hypotheken und Belastungen gleichermaßen ergeben. So wie der Schreiber dieses Berichts versucht eigene Spuren aufzudecken (und wo aufgedeckt wird, geht es immer auch um Verhüllung), kann – was den Enkel von Hilde und Franz Streit anbelangt – nur der Enkel selber etwas Licht ins eigene Dunkel tragen – wie er vor Jahren einmal meinte, ganz im Interesse seiner Kinder. Zuletzt war es im Übrigen Christiane Hoffmann (lange stellvertretende Leiterin des Hauptstadtbüros des SPIEGEL und aktuell Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung), die mit ihrem Buch: ALLES, WAS WIR NICHT ERINNERN - zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters (C.H. Beck, Müchen 2022) auf so überzeugende Weise belegt, dass das Gift der Sprachlosigkeit mit Blick auf Familiendynamiken nicht nur den Blick für die eigene Geschichte verstellt, sondern auch zur nachhaltigen seelischen Belastung und - worst case - zum Scheitern des eigenen Lebens beiträgt.

 

Das Herz (der Verstand) hat seine Gründe, welcher der Verstand (das Herz) nicht kennt (5)

Wer an dieser Maxime Pascals bislang gezweifelt hat, wird sicher über die vorstehenden Schilderungen ins Nachdenken geraten sein. Ja, in der Tat sind es nicht Gründe, die das Herz bevölkern. Wie George Steiner meint „sind es Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist.“

Der weiter oben geschilderte Husarenritt des Chronisten im aufbrechenden Frühjahr 1979 ist nichts anderes als ein gewaltiges Zeugnis für die Steinersche Hypothese. Der gewaltsame Einbruch in die Wohnung Claudias markiert eine folgenreiche Zäsur. Sie zeigt einen verrückten und liebesblöden Kerl, dessen Handeln sich nicht mehr um moralische Kategorien schert. Gut und Böse als mögliche Imperative bzw. Regulative werden von pragmatischen, zielorientierten Überlegungen mehr und mehr relativiert. Immer noch gebieten Scham und Respekt, den (die) Namen derer, die in den nunmehr zu schildernden unleugbaren Vabanque-Spielen nolens-volens – häufig unfreiwillige – Mitakteure waren, nur in Abkürzung bzw. Verfremdung anzudeuten. Die epochemachende – wenn auch heute umstrittene – von Alexander und Margarete Mitscherlich in den sechziger Jahren veröffentlichte Schrift „Die Unfähigkeit zu trauern“ (zuerst München 1967) bezieht sich zwar auf die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Dritten Reich. In ihrer zentralen These geht sie von der Weigerung aus, die Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten, das heißt, Trauerarbeit zu leisten. Der Begriff der Trauerarbeit ist umstritten. Was hingegen im vorliegenden Zusammenhang damit angesprochen wird, nämlich die Weigerung eigene schuldhafte Verstrickung überhaupt einräumen zu können, gilt – cum grano salis – in allen Lebenszusammenhängen.

Der Schreiber bewegte sich vom März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung, weil das Trennungsgeschehen, das er initiierte, für ihn einerseits alternativlos war, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbarte, die ein solches Trennungsgeschehen manchmal begleiten. Dazu wusste sich der Chronist dieser Geschehnisse nicht zu verhalten. In Briefen und auch in seinen mündlichen Verteidigungsreden beharrte er entschieden darauf, dass Trennungen eben vorkommen, dass sie – und seien sie noch so schmerzhaft und belastend – zum normalen Weltgeschehen dazu gehören. Und ganz gewiss hätte er damit auch uneingeschränkt Recht behalten, wäre seine Lebensgefährtin – immerhin über sieben Jahre – in der Dynamik dieses Trennungsgeschehens nicht lebensbedrohlich erkrankt. Schon im Mai 1979 wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, die zu einer Notoperation führte. Hier muss die Umkehrung der Maxime Blaise Pascals herhalten, um deutlich zu machen, dass allein der Verstand Gründe in Fülle hat, die dem Herzen fremd bleiben und ihm jeden machtvollen Einfluss verwehren.

(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz?  Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)

Es soll an anderer Stelle berichtet werden, dass diese Klemme – sich zu den Geschehnissen der Trennung von meiner damaligen Lebensgefährtin nicht angemessen zu verhalten – über zwei Jahrzehnte Bestand hatte, und welch simple Veränderungen dazu beitrugen, ihre Auflösung zu befördern.

Wenn wir nun schon an der biografischen Weggabelung angekommen sind, an der sich einerseits moralische Kategorien relativierten, so bedeutet das andererseits keineswegs, dass sie sich auflösten. Die Klemme im Frühjahr 1979 bestand vor allem darin, aufzubrechen in eine neue Welt und gleichzeitig die Frage zu beantworten, wie man die neu entstehende Bindungsdynamik beherrschen oder doch zumindest bezähmen könnte. Eine Vorwegnahme sei gestattet und drängt sich ja selbstredend auch auf, weil schon die Rede war vom bevorstehenden Fürsorglichen Finale. Das Frühjahr 1979 war also der Auftakt zu einem gemeinsamen Aufbruch, dem im Juni 2021 die Rubinhochzeit winkt. Und kurz vor dem Siebzigsten erfindet sich niemand mehr neu. Er hat vielmehr Mühe – wenn er sich schon der Mühe unterzieht Geschichten aufzuschreiben –, nicht in verlockenden Inkonsistenzbereinigungsprogrammen heillos unterzugehen, sondern letzte Reste von Glaubwürdigkeit und Authentizität zu retten. In einem ersten Gespräch über diese Aufzeichnungen mit einem langjährigen Freund, kamen wir auf die Schwierigkeiten zu sprechen, erstens die Frage redlich zu beantworten, wen all dies hier überhaupt interessieren könnte? Zweitens, wen es überhaupt etwas anginge? Und drittens, ob man nicht um des lieben Friedens willen sowieso den Blick viel besser nach vorne richten, und die Vergangenheit (endlich) auch Vergangenheit sein lassen sollte! Und mehr noch stellt die Frage, ob genau diese letzte Empfehlung nicht so etwas sei, wie die Überlebensgarantie für so viele, die beim Betrachten ihrer Vergangenheit ohnehin zu Totstellreflexen neigen (müssten)! Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten. Gewiss geht es mir auch darum, einzugestehen und darauf hinzuweisen, dass uns der Bergdoktor deshalb so fasziniert - ja, natürlich nur die Doofen unter uns -, weil er permanent unsere Geschichten erzählt. Alles was dort in Variation und in Szene gesetzt wird - von beeindruckenden SchauspielerInnen - sind nichts als aufgepeppte Alltagsgeschichten, bei denen sich der Zuschauer und die Zuschauerinnen entspannt im Sessel zurück lehnen können, um sich selbst zuschauen zu können beim Leben, beim Lieben, beim Scheitern und beim Gelingen; auch dabei unter Umständen keinen Weg mehr zu sehen im Chaos der Liebe:

So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder aus den Augen verloren; Du bist ihnen fremd, und sie sind Dir fremd. Deine Enkel beginnen irgendwann zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? – manchmal zu spät. Den Aspekt der Flüchtigkeit hat kaum jemand eindrücklicher auf den Punkt gebracht als Botho Strauß – hier ohne generative Relevanz, was die ganze Sache auf lange Sicht – auf die lange Sicht des Botho Strauß erträglicher macht: "Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die, die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich - einst! seinerzeit! damals! - gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist diesselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Weges über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!" Ich bin schon gespannt, wie die Drehbuch-Autoren des Bergdoktors das Drama des geheimnisvollen Unbekannten (der das Herz Susanne Dreiseitls, der Mutter der Tochter von Hans Gruber, erobert hat) nach der Begegnung mit seiner verlorenen Tochter (Linn Kemper - der Lebensgefährtin von Hans Gruber, was der Bruder vom Bergdoktor ist und der Vater von Susanne Dreiseitls Tochter) auflösen werden!!!

Botho Strauß verflucht die Passanten-Welt. Er war – als er dies schrieb – noch ein relativ junger Mann. Blickt man als alter Mann zurück, ist man weniger versucht – oder auch nur geneigt – die Passanten-Welt zu verfluchen. Sieht man doch eindrücklicher und nachhaltiger die eigene Rolle in der Passantenschar. Und so mag es eben vorkommen, dass eine Schülerliebe all die Verheißungen nicht erfüllen konnte, die man sich im Aufbruch ausgemalt hatte. Der Verschleiß, der da früh einsetzt, ist dann gleichermaßen den eigenen Illusionen wie den eigenen Unfähigkeiten geschuldet. Früh schon bemerkt der Schreiber, dass er sich wieder einmal in die Gefahr begibt, das Erzählen weitgehend zu verfehlen; aus purer Angst und aus ehrlichem Respekt gegenüber den Beteiligten. So bleiben die Schilderungen Andeutungen, die aber aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hineinreichen in die Gegenwart. Sie erinnern erstens an die Altlasten einer verfehlten Erziehung und vor allem an einen Zeitgeist jenseits von Aufklärung, Emanzipation und sexueller Befreiung. Und sie erinnern bis heute an die ungelösten Herausforderungen, die Susanne Gaschke um die Jahrtausendwende folgendermaßen umschrieb:

„Auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen: Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei.“

Dass die Welt in Bad Neuenahr relativ heil geblieben war – mit Blick auf die von Susanne Gaschke angesprochenen zu bewältigenden traditionellen Probleme – verdankte sich schlicht einer Reihe von Zufällen. Für die in den zwanziger Jahren auf dem Land Geborenen stellten sich die Rollenzuweisungen weder im familialen und noch viel weniger im Zusammenhang mit einer sexuellen Identitätsbildung als irgendwie optional dar. Und ich schreibe es dem Zufall zu, dass die Fürsorge für alte Eltern bei uns nur noch gegenüber den Eltern der Mutter erforderlich war. Und es war Zufall, dass Vater und Mutter schon als Kinder Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße wohnten, so dass Fürsorge und Pflege perfekt zu organisieren waren. Und auch die Rollenverteilung ergab sich – gewissermaßen wie von selbst –, da Hilde die ältere der beiden Töchter war. Meine Oma starb 1968 und mein Opa 1970 – jeweils nach etwa halbjähriger Pflege bis zum Tode und vor allem zu Hause. Mein Vater hatte die Hosen an, und meine Mutter trug die Röcke, die dem Vater genehm waren, womit keineswegs gesagt ist, dass im ehelichen Zusammenspiel die Hosenrollen auch immer nach diesem Muster vergeben waren.

Eine kleine Reminiszenz soll hier verdeutlichen, wie ein Jota Veränderung in der familialen Ausgangskonstellation in dramatischster Weise zu spannungsreichen Verschiebungen und unversöhnlichen Konflikten führen kann. Kaum lässt sich auch nur ahnen, wie sehr das Handeln und die Grundorientierung der Akteure vom Zeitgeist bestimmt wurden:

Von 1971 bis 1978 wuchs mir eine zweite Familie zu, die leicht auch zu meiner Schwieger-Familie hätte werden können. Dort, an der Mittelmosel, in einem traditionellen und konservativen Milieu, zeigte sich die strukturelle Gewalt, die aus festgeschriebenen Rollenzuweisungen entspringen kann, in aller Härte und Gnadenlosigkeit. Hier hatte das – meiner Erinnerung nach 1926 geborene – Familienoberhaupt nie einen Zweifel daran gelassen, dass er, der zur Waffen-SS gezogen worden und in französische Kriegsgefangenschaft geraten war, dort, in Frankreich, heimisch geworden war und nur zurückkam an die Mittelmosel, weil er sich seiner Mutter verpflichtet fühlte. Wie die Ehe zustande gekommen war, aus der eine zuerst eine Tochter und dann ein Sohn hervorging, entzieht sich meiner Kenntnis, die sich fast ausschließlich aus den Erzählungen des Vaters und eigenen Beobachtungen nährt. Was mir damals als recht brutale Haltung eines Patriarchen begegnete, erklärt sich vermutlich nur aufgrund des erwähnten Jotas Unterschied. Denn hier gab es nur noch die Mutter des Vaters, die Schwiegermutter der Mutter, die Mitte der siebziger Jahre ihren bis dahin selbstständig geführten Hausstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeben musste und ein Zimmer im großen Haus des Sohnes zugewiesen bekam. Schwiegertochter und Schwiegermutter verstanden sich nicht, und die Mutter des vermutlich einzigen Sohnes, legte es immer wieder auf Machtkämpfe an, die zuletzt absolut unter dem lagen, was wir als Gürtellinie bezeichnen. In all diesen sieben Jahren haben die Eheleute einen einzigen gemeinsamen Urlaub in Langenargen am Bodensee verbracht. Für diese 14 Tage hatte die (Schwieger-)Mutter einen Platz in einem Altenstift des Nachbarortes. Das Ansinnen seitens der Ehefrau, dies sei doch vielleicht auch eine akzeptable Dauerlösung, führte zu einem erbitterten innerfamiliären Konflikt, bei dem sich die Tochter auf die Seite der Mutter stellte. Niemals zuvor und niemals danach habe ich ein einseitigeres Konfliktmanagment erlebt mit einer brachial durchgesetzten einseitigen Lösung. Die (Schwieger-)Mutter blieb in Abwendung einer unzulässigen Schande, die sich mit einer Heimunterbringung aus der Sicht des Vaters ergeben hätte, in der Familie. Enttäuschung, Wut, Hass, Machlosigkeit, Hilflosigkeit – all diese Empfindungen und Haltungen spiegeln die Ablehnung der Mutter wieder. Machtgebaren und Sturheit bis zur Bösartigkeit beschreiben die väterliche Demonstration von Deutungs- und Entscheidungshoheit. Mit Wut und Bitterkeit beantwortete die Tochter in dieser Phase die brachiale Machtdemonstration des Vaters. Meine eigene Verbindung zu dieser Familie endet 1978. Es mag wiederum der pure Zufall sein, dass meine damalige Lebensgefährtin sich entschloss, in dem Ort, in dem ich seit 1980 lebe, ein Haus zu kaufen. Ihre Mutter ist einige Jahre vor ihrem Vater verstorben, und die letzten Monate seines Lebens, der Pflege und Betreuung bedürfend, hat der Vater im Hause seiner Tochter verlebt. An solchen extremen Beispielen lassen sich die Bedeutung und die Eigendynamik von (innerfamiliär relevanten) Kategorien, wie Zeitgeist, Tradition, Konflikt, Ohnmacht, Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit recht authentisch diskutieren.

Es gibt viele Mosaiksteine in meinem eigenen Leben, die dazu beigetragen haben, hinsichtlich der von Susanne Gaschke definierten drei Kardinalprobleme eine konservative Haltung einzunehmen; eine konservative Haltung nach einem durchaus chaotischen Weg durch postmoderne Beziehungswelten. Die erinnerten, soeben geschilderten Konflikte haben sich tief in mich eingeschrieben und zeitlebens daran gehindert, in der Fürsorge sowohl für die Jungen als auch die Alten nur ein Jota Verantwortung zu delegieren. So werden viele der hier aufgeschriebenen Geschichten die Langeweile in der langen Weile widerspiegeln, einzig lesenswert vielleicht durch die mehr oder weniger gelungene Art des Erzählens.

Kehren wir zurück in den Frühling 1979 – die Zeit des Aufbruchs und des Niedergangs. Dass eine neue Liebe wie ein neues Leben sei, diese massenwirksame Kollektivhypnose verfing auch zu Zeiten des geschilderten Wahns Ende der siebziger Jahre nicht mehr wirklich. Vier Männer (in mir) – dieses Gedicht ist zwar erst gut 20 Jahre später in mir gewachsen. Die zeitliche Differenz signalisiert denn auch eher die Tatsache, dass es Abstand braucht, um die Zusammenhänge trennschärfer wahrnehmen und einordnen zu können. Im Alter von Mitte vierzig zeigen sich denn auch die illusionsgeschuldeten Verirrungen im Selbstbild auf brutale Weise. Sie springen einem nicht nur schreiend ins Gesicht, sondern sie sind vielmehr einer Lebenspraxis geschuldet, die mit Feuer und Schwert den Schwachsinn der frühen Jahre beiseite fegt. Und auch wenn das Gedicht in seiner Sprache um Kultivierung bemüht ist und eine gewisse Verklärung der Zusammenhänge nicht leugnen kann, offenbart es doch, dass die Ereignisse im Frühjahre 1979 in ein Vorher und ein Nachher eingebettet sind:

 

Vier Männer in mir (6)

Wachgeküsst mit siebzehn.
Knospen, Triebe blühn.
Den Himmel rosa sehn,
Wie Feuerfunken sprühn.

Riechen, fühlen, flehen.
Das Fremde, unerreichbar fern,
Tastend sich ergehen,
Bliebst ein fremder Stern.

Im Liebesschmerz
Versinkt die Welt.
Zum Himmel steigt mein Herz
Und fällt, und fällt, und fällt.

Die zweite Liebe: tief -
Umworben!
Herz im Herzen schlief,
Ganz unverdorben!

Nun sollt ich wachsen,
Sehn die Grenze -
Will noch spielen, flachsen,
Keine Kränze.

Und wieder fallen,
Schnitt und Wende.
Blind für Fallen
Und das Ende.

Ende heißt Beginn!
Das Neue kann beginnen?
Schulden und Gewinn?
Wenn zweie nur gewinnen?

So hoch wir fliegen,
Tapfer träumen,
Schulden wiegen,
Denn wir säumen!

Ordnungen der Liebe
Weisen uns den Weg
Und wir werden Diebe,
Schmal und eng der Steg.

In der Lebensmitte
Darf ich wachsen!
Folgenreiche Dritte
Sind wir nun erwachsen?

Bin gelassen,
Seh die Grenzen!
Sich und andre lassen
An Gräben und vor Kränzen.

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

 

Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt! Nach mehr als vierzig Jahren kann man sagen, dass Herz hat den Kurs vorgegeben – flankiert von einem wachen Verstand, der letztlich dafür gesorgt hat, dass das Herz vor allem auch in seiner Not nicht alleine geblieben ist. Eine Minute besteht aus 60 Sekunden; ein Stunde aus 60 Minuten, ein Tag aus 24 Stunden, eine Woche aus sieben Tagen und ein Jahr aus 52 Wochen – alleine aus dieser Zeitspanne, auch wenn ein langes Leben nicht einmal eine Nanosekunde markieren mag im kosmischen Rauschen, lässt sich überzeugend ableiten, das zur Herzenswelt die Herzensfreude genauso gehört wie Herzesleid. Hinter 42 Jahren verbergen sich 367.920 Stunden; sie gelebt zu haben, sie erlebt zu haben – dies erst verleiht Körper und Seele jene Gestalt, vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

 

Zeitgeist und Kontenausgleich I (7)

Dann wiederum ist man gut beraten, jene Wendepunkte besonders zu würdigen, die uns Gelassenheit vermitteln und die Einsicht, dass es nun gut ist. Lange bevor ich hier erzählen kann, wie ich in Heidelberg nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Verstand wiedergefunden habe, zwingt sich eine kleine Episode auf, die so viele Altlasten aus meinem Schuldenbuch getilgt hat:

Über drei Jahre habe ich in Heidelberg (IGST) an den Vorbereitungs- und Fortbildungskursen bei Gunthard Weber, Ulrich Clemens und Andrea Ebbeke-Nohlen teilgenommen und mir im Zuge dieser Jahre endlich einen Reim machen können auf mein destruktives, mörderisches Driften in der Vergangenheit. 2000 lag dies hinter mir, und ich fühlte mich einmal mehr bemüßigt auch die Papierhalden der letzten Jahrzehnte zu entschlacken. Im Zuge dieser Sondierungen stieß ich unter anderem auf Briefe, die Ende der siebziger Jahre im Zuge der Trennung zwischen E. und mir gewechselt worden sind. Es war schon die Rede davon, dass ich mich von März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung bewegte, weil das Trennungsgeschehen, das ich vorantrieb, einerseits alternativlos erschien, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbart, die ein solches Trennungsgeschehen ebenso unausweichlich begleiten. Bei der Lektüre dieser Briefe verstärkte sich der Eindruck, dass all dies auch mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen, kein versöhnliches Ende gefunden hatte. Zu dieser Zeit – im Jahre 2001 – wohnte E. bereits in Güls. Ich bereitete die Feier zu meinem fünfzigsten Geburtstag vor. Noch unter dem Eindruck dieser Briefe bewegte ich mich in den Gülser REWE-Markt auf der Gulisastraße. An der Wursttheke kam unversehens E. neben mir zu stehen. Erstmals seit mehr als zwanzig Jahren begrüßte sie mich freundlich und mit einem lange nicht gesehenen Lächeln auf den Lippen. Von der Seite näherte sich ein Mann, den sie mir mit den Worten vorstellte: „Das ist K., mit dem lebe ich jetzt zusammen.“ Zu K. sagte sie: „Das ist Jupp, mit dem hab ich einmal zusammengelebt.“ Der Small-Talk, der sich anschloss war unbefangen und vermittelte erstmals eine gewisse Leichtigkeit. In diesen Minuten erfuhr ich körperlich, dass mir eine Last von der Seele genommen wurde. Im Nachgang habe ich den Kontakt zu E. aufrechterhalten. Im November 2001 lud ich sie zum Abendessen auf die Ankerterrasse in Güls ein. Sie nahm diese Einladung an. Ein weiterer Hintergrund ergab sich – wie schon angedeutet – aus den Vorbereitungen zu meiner Geburtstagsfete. Mit einem guten Jahr Vorlauf hatte ich mich entschlossen mir zu diesem Anlass eine eigene Festschrift zu erlauben. Es war ein erster Versuch, so etwas zu ziehen wie eine Lebensbilanz – mit vielen biografisch folgerichtigen Geschichten und Aufzeichnungen. Ein Kapitel widmete sich explizit der Studentenzeit – und hier in einem eigenen Unterkapitel der Bendorfer Wohngemeinschaft. Ich spürte deutlich die Verpflichtung E. dieses Kapitel als Entwurf vorzulegen und ihre Meinung dazu zu hören. Wenige Tage nach Lektüre der ersten Fassung teilte sie mir mit, dass ich unverzüglich mit rechtlichen Schritten zu rechnen hätte, wenn diese Fassung unzensiert in die Festschrift: „Komm in den totgesagten Park und schau – ich sehe was, was Du nicht siehst“ eingehen würde. Nach den gewünschten Änderungen gab E. ihr Placet und nahm meine Einladung zur Feier an. Vor allem die Einführung in die u.a. von Bert Hellinger entwickelte therapeutische Methode der Familienaufstellung unter der therapeutischen Begleitung von Gunthard Weber haben mir den angemessenen Weg zu einer Entschuldigung vermittelt, die (auch) nach zwanzig Jahren in ihrer Form und Ernsthaftigkeit den Boden für eine Versöhnung bereitet hat. Worauf es hierbei ankommt, hat Hellinger in einer schlichten Intervention deutlich gemacht, so dass Menschen in vergleichbaren Situationen und Konstellationen eine Perspektive erkennen können. Die wesentlichen Aussagen lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:

"Die Lösung (in festgefahrenen, unversöhnlichen Paarkonflikten – auch lange nachdem der gemeinsame Weg im Abgrund endete) ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden und alles, was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, habe ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen."

Nach mehr als zwanzig Jahren wurde hier gewissermaßen ein gordischer Knoten gelöst, der einen unbefangenen und vor allem unbelasteten Weg in eine befriedetee Zukunft nachhaltig belastet hat. Damit sind nicht alle Fehltritte zu entschuldigen, die in der Folge und innerhalb unseres lebensumspannenden Aufbruchs zu Beginn der achtziger Jahre geschehen sind. Der schwierige, krisenreiche Verlauf dieses lebenslangen Projekts gewinnt allerdings aus diesem Blickwinkel sowohl an Plausibilität als auch an Überzeugungskraft. Dass Claudia die Flinte nicht ins Korn geworfen hat, adelt sie. Wo Türen verriegelt schienen, öffneten wir ganze Scheunentore und bargen nicht nur eine Flinte, sondern ganze Feuerwerke aus dem Heu.

 

 Spurensuche II: Vom Familien- zum Sippenkontext (8)

Der Schreiber dieser Aufzeichnungen lernte ja nicht nur seine zukünftige Frau kennen. Ihm wuchs im Alter von 27 Jahren nun tatsächlich eine zweite Familie zu, seine Schwiegerfamilie – bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Sein künftiger Schwiegervater war 1979 fünfundfünzig Jahre alt (Jahrgang 1924), seine künftige Schwiegermutter (Jahrgang 1923) ein knappes Jahr älter. Die Spannungen, mit denen er sich hier konfrontiert fühlte, waren zu Beginn nicht wirklich durchschaubar.

Die Rothmunds – beide selbstständige Existenzen –, sie als Schneidermeisterin von Ruf, er als freier Architekt, bastelten beharrlich an ihrer Altersvorsorge. Bei nur bescheidenen Aussichten auf Rente, sollte das Alter durch Immobilien gesichert werden. Früh – zu Beginn der fünfziger Jahre – hatte Claudias Mutter – das mittlere von sieben Geschwistern –, noch vor der Heirat mit Leo Rothmund, gemeinsam mit ihrem Bruder, Ignaz, ein Haus im Übergang von Metternich nach Lützel – im sogenannten Pollenfeld gebaut – ein zweigeschossiges Haus mit ausgebautem Dachgeschoss. Von Claudias Großmutter wurde das umgebende Gelände (unterstützt durch den oben erwähnten Bruder Ignaz, der mit seiner Familie das erste Obergeschoss bewohnte) seinerzeit und darüber hinaus noch als landwirtschaftliche Erwerbsfläche für den Anbau vor allem von Obst (Kirschen, Erdbeeren) genutzt. Nach der Heirat mit Leo am 21.2.1952 (das ist im Übrigen der Geburtstag des Chronisten) erhielt das Gebäude im Erdgeschoss einen Anbau zur Errichtung einer Werkstatt für die Schneiderei. Leo Rothmund, der Schwiegervater, stammte selbst aus einem bäuerlichen Haushalt in Ittendorf/Markdorf am Bodensee, ca. acht Kilometer von Meersburg aus im Hinterland gelegen. Er war das jüngste von drei Geschwistern – Halbweisen, die ihren Vater Ende der zwanziger Jahre schon verloren hatten. Ernst, der ältere Bruder ist im Zweiten Weltkrieg gefallen, Klärle, die um drei Jahre ältere Schwester, war ausgebildete Krankenschwester und gehörte nach Aussagen ihres Bruders Leo zu den sogenannten braunen Schwestern. Dies wird noch eine bedeutsame Rolle spielen. Jedenfalls sollte sie im Dorf bleiben und nach ihrer Heirat mit Emil Lang den Bauernhof übernehmen. Leo, der sich 1942 – eben achtzehn Jahre alt – freiwillig zur Wehrmacht meldete, um sich die Waffengattung – die Luftwaffe – aussuchen zu können, kehrte kriegsversehrt zurück und entschloss sich gegen Widerstände Maschinenbau am Konstanzer Technikum zu studieren. Er hatte eine Ausbildung als Maschinenschlosser bei der Firma Maybach in Friedrichshafen abgeschlossen und erhielt nach einer Aufnahmeprüfung die Zulassung zum Studium. In Koblenz landete er dann auf der Flucht vor einer vermeintlich in Aussicht stehenden Vaterschaft – fortgeschickt von Mutter und Schwester zu einem Onkel – in Koblenz-Metternich. Mit auf diese Flucht nahm er sein Geheimnis. Wie alle Geheimnisse entfaltete es eine Langzeitwirkung. Zunächst einmal ging alles recht zügig seinen Gang: Heirat, wechselnde Arbeitsverhältnisse, kurze Verweildauer beim neugegründeten Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (hier hat Leo sich ein Strafverfahren wegen Aktenveruntreuung eingehandelt, das er letztlich in einem mehrere Jahre dauernden Prozess gegen seinen Arbeitgeber, die Bundesrepublik Deutschland, gewonnen hat – mit Entschädigungsanspruch und vor allem Anspruch auf Wiedereinstellung, die er dann als unzumutbar zurückgewiesen hat). Denn er war da bereits Vertragsarchitekt bei der Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft (LHG). In den frühen sechziger Jahren hat er erfolgreich einen Antrag auf Zulassung als freier Architekt bei der Architektenkammer gestellt, um dann als Self-made-Man durchzustarten und als Workaholic und Berserker sein Ding zu machen. Schon zu Beginn der sechziger Jahre entstanden zwei Mehrfamilienhäuser in Koblenz-Metternich, 1967 erfolgte der Neubau des Familiensitzes in Koblenz-Güls (das Haus, das wir nach Umbau und Sanierung seit 2020 bewohnen).

Diese etwas ausholenden Hinweise eines Chronisten sollen ansatzweise biografische Hintergründe und vor allem die Bemühungen um eine angemessene Altersvorsorge verdeutlichen – just in der Phase, da ein potentieller Schwiegersohn die Bühne betrat. Denn 1978/79 hatte Leo Rothmund damit begonnen in Koblenz-Güls ein weiteres Mehrfamilienhaus zu erstellen, das Ende 1979 neun potentiellen Mietern Wohnmöglichkeiten eröffnen sollte. Die Rothmunds hatten mit ihrer Tochter – wie man so schön sagt – schon einiges mitgemacht und erlebt. Die früh schon erkennbaren Spannungen zwischen allen Dreien – Vater, Mutter und Tochter – verdankten sich augenscheinlich einem üppigen Nährboden. Der erste der potentiellen Schwiegersöhne aus neureichem Haus in Neuwied-Feldkirchen war angenehm, akzeptiert; es gab sogar einen gemeinsamen Urlaub der beiden Familien – ich glaube im Schwarzwald. Er wäre ein passabler Schwiegersohn geworden, war aber schlicht zu früh dran (später sollte dies im Leben der beiden noch einmal eine bedeutsame Rolle spielen). Claudia blieb nicht beim ersten Besten; sie tat sich um in der Männerwelt und angelte sich durchaus hochkarätige und ansehnliche Kerle. Die Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag eines in den siebziger Jahren landesweit erfolgreichen Vertragsspielers auf der Tennisbühne liegt vor mir. Kein geringerer als jener stadtbekannte Womanizer sollte es sein; danach ein stadtbekannter Gigolo, der im Laufe seines vertrackten Lebens durch windige Geschäftspraktiken das Häuschen seiner Eltern verzockte. Gerade Letzterer rief Leos erbitterten Widerstand auf den Plan. Alle Register der Ausgrenzung – inclusive Hausverbot – wurden gezogen; schon auch ahnend, damit die eigene Tochter erst recht in seine Arme zu treiben. Im Zuge dieser Konflikte verschwand dann Claudia auch für einige Zeit und besann sich erst auf Intervention der guten Seele – der Mutter besagten Hasardeurs – die eigenen Eltern vorerst zu beruhigen, indem sie immerhin telefonisch vernehmen ließ, dass sie wohlauf sei und dass es ihr gut gehe. Die finale Trennung von R. – er hatte schon seine erste tragende Rolle zu Beginn meiner Aufzeichnungen – ist ebenfalls eine kleine Reminiszenz wert; ich erzähle sie nach Claudias immer wieder kolportieren Erinnerungen:

Claudia hatte sich – von Fernweh geplagt – dazu entschlossen mit R. eine Reise – ihre Standardreise, zu der sich mich auch verlocken sollte – in den Süden zu machen; in die heißgeliebte Provence (die sie bereits mit W.H. erkundet hatte) und weiter nach Spanien. In Spanien trug sich dann das von Claudia so oft und süffisant erzählte Erweckungserlebnis zu. Das morgendliche gemeinsame Frühstück wurde im Wechsel der beiden organisiert. Während der eine duschte, bereitete der andere das Frühstück und besorgte Croissants. Eines Morgens beobachtete Claudia unbemerkt, wie R. bei Auftragen die Croissants miteinander verglich und gewissermaßen mit den Händen abwog und das für zu leicht befundene auf Claudias Teller platzierte, während er sich das vermeintlich größere zuschanzte. Claudia erklärt dies sei für sie sozusagen gleichbedeutend mit der exemplarischen, stellvertretenden Offenbarung der charakterlichen Schwächen des einst geliebten Gefährten gewesen – der Augenöffner par excellence! Die Reise ging zu Ende und die Liebesbeziehung der beiden gleichermaßen. R. hatte Mühe das zu realisieren und die zu Beginn der Aufzeichnungen erwähnte Ohrfeige gehört just in diesen Kontext.

Worauf hatte nun Leo untrüglich gewartet? Selbstverständlich auf einen schwiegersohntauglichen Kandidaten, der endlich die Besorgnisse der letzten Jahre vergessen machten könnte. Dem Erzähler nimmt es noch heute den Atem, wenn er sich das Tempo vor Augen führt, mit dem Leo Rothmund jemandem, der gerade dabei war, seine Unschuld vollends zu verlieren, ins Vertrauen zog und dabei offenkundig etwas erkannte, was dem so Erkorenen selbst noch gar nicht in den Blick kam. Leo hat als Fremder über diesen Vertrauensvorschuss hinaus – auch in Krisenzeiten – durch ein nie infrage gestelltes Vertrauen zweifellos die besten Seiten in mir zum Vorschein gebracht. Aber dem soll hier keinesfalls vorgegriffen werden.

Wir – das neue Paar – gerieten unversehens in eine komfortable Situation, die dazu führte, dass der Chronist im Rückblick dazu verleitet bzw. veranlasst wird, nicht nur über ein Leben zu erzählen, sondern – vielleicht einer Katze ähnlich – über die sieben Leben, die ihm auf einmal zuwuchsen und auch zur Zumutung wurden. Zugegeben: es waren keine sieben Leben, aber doch so viele, dass die Gefahr wuchs, den Überblick und die Kontrolle zu verlieren: Schon im Herbst 1979 stattete mich Leo Rothmund mit sämtlichen Vollmachten aus, um seine Häuser bzw. Wohnungen zu verwalten und die Vermietung des neun Wohneinheiten umfassenden, noch in der Bauphase befindlichen aktuellen Projektes zu organisieren. Gleichzeitig bot er uns an, eine der Wohnungen so herzurichten und auszustatten, dass wir – seine Tochter und ich – beste Startbedingungen für unser gemeinsames Leben vorfinden würden. Das Leben seiner Tochter in der Stadt – in einer Mietswohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße war und blieb ihm ein Dorn im Auge.

Ich hatte 1978 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz (EWH), Abteilung Koblenz mein Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen abgelegt. Noch 1977 hatte ich mich gemeinsam mit ca. 25 anderen Aktivisten im Kontext der seinerzeit Deutschland überziehenden studentischen Streiks zur Verhinderung eines allgemein abgelehnten, ja geradezu verhassten Hochschulrahmengesetzes vor dem Landgericht Koblenz verantworten müssen – wegen Nötigung, Beleidigung und Landfriedensbruchs. Ich stand allein schon deshalb im Zentrum dieser Auseinandersetzung, weil meine Unterschrift sich unter allen Beschlüssen und Verlautbarungen befand, die die Studentenschaft seinerzeit publizierte. Ich war Pressereferent im Allgemeinen Studentenausschuss unserer Hochschule – und einer der hartnäckigen Vertreter, die für die Verfasste Studentenschaft ein politisches Mandat beanspruchten. Ich hatte die Streitschrift des linken Juristen Ulrich K. Preuß zur Verfassten Studentenschaft akribisch gelesen und – soweit es in meinem Vermögen stand – für unsere politische Agitation und Argumentation auch entsprechend ausgewertet. Gemeinsam mit Hans-Werner Dinkelbach hatte ich für das Presseorgan des AStAs Wolfgang Abendroth (Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie in Marburg) in Frankfurt besucht, interviewt und als Kronzeugen für unsere Vorgehensweise pressemäßig ausgeschlachtet. Ein Jahr später war zwar die Klage abgewendet, das Verfahren eingestellt, aber die Nachwirkungen sollte ich noch schmerzlich zu spüren bekommen.

Ein kaum begreifbarer und in seinen Weichenstellungen für mich unabsehbarer Zufall – man könnte es schlicht eine überaus glückliche Fügung nennen – wollte es, dass ein aufstrebender Politikwissenschaftler an der EWH interessierte Wissenschaftler und Studenten um sich scharte und in den nächsten Jahren mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein potentes Projekt initiierte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems (PALEPS) – verantwortet von Prof. Dr. Heino Kaack und Prof. Dr. Reinhold Roth (Bremen). Noch im Wintersemester 1978 kam Heino Kaack im Rahmen eines Seminars mit der Frage auf mich zu, ob ich Interesse an einer Mitarbeit als studentische Hilfskraft hätte. Damit war eine der entscheidenden Weichenstellungen meines Lebens in Gang gekommen, auch heute nur begreifbar als ein Zusammenspiel von Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich kann und will dies an dieser Stelle abkürzen und auf Wesentliches beschränken, um es gewiss an anderer Stelle erneut aufzugreifen: Zum einen bekam ich aufgrund meiner Anklage aus 1977 nicht unmittelbar die Freigabe des Verfassungsschutzes – selbst nicht für die Tätigkeit als studentische Hilfskraft. Heino Kaack allerdings zählte zum liberalen Urgestein der Schule, die sich heute noch mit den Namen Karl-Hermann Flach, Ralf Dahrendorf, Burkhart Hirsch, und Gerhart Baum verbinden lässt. Er hat beharrlich das notwendige Brett gebohrt und die Voraussetzungen für eine Tätigkeit im Hochschuldienst erwirkt. Dies war allein schon deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil Heino Kaack in der Folge dafür gesorgt hat, dass ich bis 1984 nahtlos im Hochschuldienst arbeiten konnte; zuerst als studentische Hilfskraft, dann als wissenschaftliche Hilfskraft und zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Gleichzeitig ermöglichte er mir den Erwerb des Diploms und die anschließende Promotion. In einem Vieraugengespräch hat er mir als Gremienstratege – lange bevor die EWH schließlich das Promotionsrecht zugesprochen bekam und alle notwendigen Rechtsverordnungen über den Verfahrens- und Gremienweg abgeschlossen waren – dargelegt, was er vorhatte. Er gab mir einen ungedeckten Scheck in die Hand, getragen von der Zuversicht, dass sich der Verfahrensweg zeitlich exakt mit meinen wissenschaftlichen Fortschritten und Ambitionen decken würde. Gemeinsam mit Norbert Wolf, mit dem ich später lange zusammenarbeiten sollte, bin ich dann in der Tat 1984 als erster auf der Grundlage der eben installierten Promotionsordnung promoviert worden. In diese Zeit fiel die Zusammenarbeit mit Ulrich Sarcinelli und Klaus G. Troitzsch. Ich habe dort Klaus Troltsch, Monika Bethscheider, Andreas Engel und viele andere kennengelernt, Freundschaft mit Werner Simon geschlossen, über den ich schließlich Herbert Wackermann kennengelernt habe; neben Thomas Gauglitz der langjährigste Freund aus Hochschulzeiten. Zur fußballerischen Dimension von PALEPS wird an anderer Stelle zu lesen sein.

Apropos „ungedeckter Scheck“: Studium und Wissenschaft bildeten die Autobahn, auf der ich ganz persönlich – auch im Sinne einer zu begründenden beruflichen Karriere – unterwegs war. Die gleichzeitige Begründung eines ersten ordentlichen Hausstandes wurde mir von meinen künftigen Schwiegereltern nahegelegt. Hatte Leo – worauf auch immer gründend – offene Sympathien für den jungen Mann von der Ahr, so hielt ganz offenkundig auch die künftige Schwiegermutter ihren Segen in petto. Bei der ersten Begegnung in der Tennishalle des Postsportvereins muss ich einen passablen Eindruck hinterlassen haben. Sie war es aber dann auch, die im Zuge der Verhandlungen in Richtung gemeinsames Wohnen in Güls darauf bestand, dass wir dies nicht ohne Verlobung ins Werk setzen könnten. So feierten wir im Frühjahr 1980 in Bad Neuenahr Verlobung, um am 5. Juni 1981 den heiligen Bund der Ehe einzugehen. Das ging nun aber wirklich schnell! Und dieses rasante Tempo mag vielleicht ahnen lassen, dass mir dabei nicht nur die Ohren weggeflogen sind. Beim Kirschenklau im Vorfeld der Hochzeit hat Leo wortwörtlich zu mir gemeint: „Mein Lieber, ich stell Dir hier einen gesattelten Gaul hin, reiten musst du ihn selbst!“ Da hatten Leo Rothmund und Heino Kaack gewissermaßen die gleiche Idee.

War eine sieben Jahre andauernde Verbindung an ein fatales Ende gelangt, so vollzog sich im Anschluss daran innerhalb von zwei Jahren die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes. 1981 haben Claudia und ich standesamtlich und kirchlich geheiratet. Ich wuchs in zwei Voll-Time-Jobs hinein, die sich mental und physisch nur bewältigen ließen, erstens weil ich jung war und zweitens nicht frei von Hybris. Ein weiterer Vorzug, von dem ich selber noch so gar nichts wusste, resultierte wohl aus einem so nicht für möglich gehaltenen Maß an Anpassungsfähigkeit. Sich dies sozusagen in actu, unvermittelt einzugestehen, wäre aus damaligem Selbstverständnis und selbstbildbezogener Befangenheit überhaupt nicht denkbar gewesen. Die grundsatzpolitischen Auseinandersetzungen und die steilen Lernkurven im Kontext einer langen, gediegenen politischen Sozialisation an der Hochschule werden hier noch einer ausgiebigen Erörterung unterzogen. Zu Beginn der achtziger Jahre gerieten jedenfalls eine – wie auch immer schon gemäßigte sozialistische Orientierung – mit Handlungserfordernissen in Konflikt, die schlicht aus der stellvertretenden Wahrnehmung von Eigentümerinteressen und -rechten resultierten. Ich war umfassend bevollmächtigt (Miet-)Verträge abzuschließen, säumige Mietzahlungen anzumahnen und einzutreiben – im Extremfall Kündigungen auszusprechen. Meinem Naturell nach, über das ich in den Jahrzehnten dieser Tätigkeit mehr und mehr lernen musste und durfte, geriet dies häufig genug zu einem Balanceakt, über den Mieter- und Vermieterinteressen in Einklang zu bringen waren. Die Kosten für die eigene, gediegene 3ZKB-Wohnung mit gehobener Ausstattung wurden über meine Dienstleistungen abgegolten. Mitte der achtziger Jahre – nach Promotion und erfolgreichem Zweiten Staatsexamen –, aber ohne Job, auf dem Höhepunkt meiner freiberuflichen Tätigkeit, hatte ich 40 Wohnungen zu verwalten und auch zu makeln, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. In diese Zeit fiel auch mein schulpolitisches Engagement, immerhin als Gründungsmitglied und Vorsitzender eines Vereins, der sich um die Gründung einer Integrierten Gesamtschule in Koblenz bemühte (GfK). Gleichzeitig war ich im Vorstand der Fördervereins Café Hahn aktiv. Und schließlich, um den Aspekt berufliche Karriere abzurunden, ergab sich 1994 – über die Ausschreibung von Ratsstellen im Fachbereich I an der Uni Koblenz – die einmalige Chance vom Schuldienst wieder zurück in den Hochschuldienst zu wechseln. Die Promotion, das erworbene Ansehen bzw. die Qualifikationen in den fünf Jahren meiner Hochschultätigkeit sowie das klare, sachlich begründete Votum des seinerzeitigen Institutsleiters, Prof. Dr. Anton Menke, verhalfen meiner Bewerbung schließlich zum Erfolg. Nach Vertretungen und Lehraufträgen wechselte ich mit Wirkung vom 1. Juli 1994 als Akademischer Rat an die Uni Koblenz und übernahm im Seminar für Allgemeine Didaktik Lehr-, Verwaltungs- und Prüfungsaufgaben mit der Perspektive einer Habilitation; genau neun Tage nachdem mein Bruder Wilfried im Alter von 38 Jahren bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt war.

Selbst beim kontrollierten Schreiben dieser Zeilen wird mir im Nachhinein noch einmal der Wahnsinn dieser Tage vor Augen geführt. Vierzehn Tage zuvor hatte ich meinen Bruder zu einem Vorbereitungstreffen mit Blick auf den siebzigsten Geburtstag unserer Mutter in Güls zuletzt gesehen. Wir waren durch den Rohbau unseres im Bau befindlichen Hauses gegangen, das unter der Planungshoheit und Bauleitung meines Schwiegervaters soeben im Entstehen war. Es war die Zeit, die durch ihre Fülle und durch ihre Veränderungen und Anforderungen in der Lebensmitte herausfinden will, was Menschen im Stande sind auszuhalten. Bei der Frage, wer ich denn nun sei, Mann meiner Frau, Vater meiner Kinder, Onkel meiner soeben Halbweisen gewordenen Nichten, Bauherr, Berufswechsler, Verwalter, Vereinsvorsitzender hatte ich noch nicht wirklich das prekäre Gefühl den Überblick zu verlieren. Dass dies schleichend und immer dramatischer der Fall sein würde, stellte sich erst im Laufe der kommenden Jahre heraus.

 

Assimilation und Akkomodation: Was machen wir, wenn das Unfassbare geschieht? (9)

Es gibt über die ersten Stunden, nachdem mich die Nachricht vom Flugzeugabsturz in der Nähe von Landshut erreicht hatte, sowohl Blogeinträge als auch Tagebuchaufzeichnungen, die Jahre später entstanden sind. Bezeichnend ist die absolute Sprachlosigkeit in den ersten Tagen, Wochen, Monaten, sogar Jahren. Gedanken, eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Nunmehr fast 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, also mit großem zeitlichem Abstand, sind die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Vielleicht beginne ich mit der Selbstbildfacette der Hybris! Mir gegenüber und der Welt gegenüber im Recht zu sein, vor allem auch Recht zu behalten – selbst gegen bessere Einsicht –, war mir in der ersten Hälfte meines Lebens wichtig! Es war der Legitimationsfeiler einer Weltsicht, die erstens auf der Erkenntnis beruhte, dass die Menschen und die Welt schlecht waren: unsere Eltern und Großeltern hatten es nicht gut gemacht – außer natürlich meinen eigenen Eltern und Großeltern. Alles in allem war die Welt moralisch ein Trümmerfeld, Politik und Verwaltung(en) waren korrupt – alles, was in der Welt Bestand hatte, hätte man besser machen können; alles war suboptimal. Wir alle hatten den Anspruch es besser zu machen und begannen mehr und mehr zurückzublicken auf Trümmerwelten, die wir mehr und mehr auch selbst zu verantworten hatten. Aber zuerst lautete die These: Wir sind die Guten! Ich habe alles richtig gemacht: Ich bin von zu Hause weggegangen und habe mein Ding gemacht – als erster Abitur – als erster Studium (vier Abschlüsse!) – Diplom – Promotion – beamteter Lehrer und Hochschullehrer – Ehemann und Familienvater – Häuslebauer – Weltverbesserer – der, der seine Eltern liebt und ehrt – der, der die perfekten Geschwisterbeziehungen pflegt??? Hinter dieser Fassade lebte der, der seine romantisierenden Ideale schon früh verraten hatte; der, der seine politischen Überzeugungen und seine alltägliche Praxis in einer Art Quadratur des Kreises miteinander unter einen Hut zu bringen suchte; der, dessen Schwester dem eigenen Sohn – seinem Neffen – zeitweise den Umgang mit ihm und seinem Umfeld verboten hatte; der, der Zweifel an den stets idealisierten Geschwisterbeziehungen stets zurückgewiesen hat; der, der zunehmend daran scheiterte, auch die Schwiegerfamilie zu befrieden!

Mit diesen Verfalls- und Lähmungserscheinungen trat also jemand den neuen Job an, bastelte weiter an Familie und dem viel zu großen Haus, ohne wirklich zu merken, wie die Luft, die er atmete, immer dünner wurde. Da bewegte ich mich also in meiner statistischen Lebensmitte. Ich habe bereits die Zahl 367.920 an irgendeiner Stelle erwähnt; so viele Stunden verbergen sich etwa hinter 42 Lebensjahren. Und nur an diesem – sich im Zeitfluss – allen Vorstellungsbemühungen entziehenden Stundenhaufen kann man ansatzweise erahnen, was denn eigentlich unvermeidbarer Weise geschieht, wenn jemand versucht, sich zu erinnern. Und was sollte bzw. was kann man überhaupt erinnern?

Ein kleiner, aber notwendiger Exkurs: Mit aller Vorsicht lese ich bei Ken Wilber (Eros – Kosmos – Logos, Frankfurt 2001, hier S. 567): „Der Geist trachtet sich zuerst durch Empfindung, dann durch Wahrnehmung, dann durch Impuls selbst zu erkennen.“ Immerhin wird hier schon deutlich, dass große Erzähler diese drei Ebenen der Selbstrepräsentation vielleicht miteinander zu integrieren vermögen, indem sie uns nahebringen, was jemand denkt, was er fühlt und wie er handelt! In der von mir eher bevorzugten Sprachregelung spricht man von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben (Arnold Retzer in Anlehnung an Niklas Luhmann). Gleich welcher Unterscheidungen man sich auch bedienen mag, es gilt groß aufzuräumen mit einer der zentralen Prämissen meines frühen Selbst- und Weltverstehens. Ken Wilber geißelt in seinen großangelegten Bemühungen sowohl die Ego-Zentristen als auch die Öko-Zentristen und sucht sie zu entlarven als jeweils sich selbst ausschließende Weltbild-Terroristen erster Ordnung. Und auch ich gerate ins Okular des Wilberschen Teleskops, mit meinen eigenen frühen abstrusen Aufbruchsphantasien, mit denen ich mich und die Anderen in die Irre führte:

„Wenn wir also auf ursprüngliche Weise wirklich unsere Gefühle leben können, werden auch all unsere existentiellen Probleme dahinschmelzen. Dass meine Gefühle nicht einmal im Ansatz den Standpunkt des anderen einnehmen können, dass meine Gefühle, als Gefühle selbstreflektierend sind, dass sie egozentrisch um sich selbst kreisen, dass sie aus sich selbst heraus niemals in den intersubjektiven Kreis aufsteigen, wo allein Liebe wirklich hervorstrahlen und wo allein Mitgefühl gedeihen kann – dass die Propagierung einer Ethik des ‚Sich-gut-Fühlens‘ als primärer moralischer Impuls mich direkt in den göttlichen Egoismus und die existentielle Hölle katapultiert: über all das nicht ein Wort.“

An den zu schildernden Tiefpunkten meines empirischen Lebens – den Monaten meines selbstverordneten Knasts – in der Mitte des Jahres 1997, getrennt von Kindern und Familie – begann dann jene späte Erweckung, die nach so vielen Bemühungen – jetzt 2021/22 – zu einem neuerlichen Aufbruch führen. Auch die will ich mit Ken Wilber kurz markieren. Das liegt deshalb nahe, weil ich gegenwärtig das Heranwachsen zweier Enkelkinder erlebe und Ken Wilber jene Lektion anbietet, die am Anfang jedes Erwachsenenlebens stehen müsste und die etwas zu tun hat mit nicht auslassbaren Entwicklungsabfolgen. Diese Lektion geht einher mit dem Hinweis, dass wir alle tunlichst etwas wissen sollten über die erste Differenzierung zwischen dem Ich und dem anderen, zwischen Subjekt und Objekt. Hier – so Wilber – gehe es um die Ablösung vom „ursprünglich-archaischen Zustand der undifferenzierten und indissoziierten Partizipation“, die meist in den ersten zwei bis drei Lebensjahren erfolge.

„Diese notwendige Differenzierung  wird völlig mit der Dissoziation verwechselt und wird deshalb als Ur-Verlust, als Ur-Entfremdung interpretiert, die das Ich für immer von den anderen trennt, von sich selbst und von der Natur. Und folgerichtig wird dann alles darauf folgende menschliche Sehnen, aller menschliche Antrieb, alle Motivation und alle kulturelle Anstrengung als eine Reihe zum Fehlschlag verdammter gequälter Versuche gesehen, dieses Verlorene Paradies wiederzugewinnen.“

Es geht bei Ken Wilber um  G R E N Z E N – theoretisch haben wir alle das einmal gelernt, dass es elementare Differenzierungen gibt von physischem Ich und physischem anderen, des emotionalen Ich vom emotionalen anderen, des begrifflichen Ich vom begrifflichen anderen, des kulturellen Rollen-Ich vom Rollen-anderen. Das gelebte Leben – meine Biologie –, das erlebte Leben – meine gedankliche oder auch Bewusstseins-Welt – trennen sich von meiner sozial erfahrenen und gestalteten Welt, von meinem erzählten Leben. Interessanterweise führt Ken Wilber auch die Haut-Grenze ein, die Unterscheidung von Innen und Außen:

„Mein mentales Ich beispielsweise enthält alle möglichen Arten von Identifikationen mit Familie, Werten, Anliegen, Gruppen, Nationen etc. und keine von ihnen existiert innerhalb meiner Haut-Grenzen.“

In konsequenter Auslegung dieser Prämisse meint Ken Wilber, diese Unterscheidungen von Innen und Außen seien nicht überschreitbar und wendet sich gegen ein aus seiner Betrachtungsweise fatales Missverständnis und betont noch einmal, dass der Verlust des archaischen prädifferenzierten Zustands keine unwiderrufliche Entfremdung darstelle, sondern in Wirklichkeit nur die erste Stufe des Erwachens – zum Erwachsenen-Dasein (möchte man hinzufügen):

„In ähnlicher Weise wird eine andere Person ein Teil deiner emotionalen Ausstattung, wenn sie in deinem emotionalen Raum ist, nicht in deinem Magen. Der emotionale Raum existiert außerhalb der Haut-Grenze […] Ich kann mich emotional identifizieren mit Menschen, Anliegen, Gruppen, Nationen, unabhängig davon, wo sie sich örtlich befinden: Sie werden ein Teil von mir, wenn ich sie in meine emotionale Identität aufnehme, in meinen emotionalen Raum, und dann handeln sie innerhalb dieses Raumes, folgen seinen besonderen Gesetzen oder den Mustern meiner affektiven Gemütszustände, die sich wiederum daran anpassen oder ihre Tiefenstruktur verändern könnten, um neue Dinge zu assimilieren. Der mentale Raum bewegt sich auf ähnliche Weise außerhalb des emotionalen Raums (der kognitiv-mentale Raum kann buchstäblich die ‚Rolle des anderen‘ annehmen, anderen ‚unter die Haut dringen‘, ‚durch ihre Augen‘ sehen, neue Ideen assimilieren/akkomodieren etc.) und der spirituelle Raum befindet sich außerhalb des mentalen und in der Weite des Kósmos.“

Unter die Haut gehen in meinem emotionalen Raum – der Tod meines Bruders war eine Grenzerfahrung, die so ziemlich alles auf den Kopf und wiederum vom Kopf auf die Füße stellte, was bis dahin Geltung hatte. Da war zunächst einmal gar nichts gebacken im Sinne einer schlichten Assimilation; einer schlichten Integration eines brachial über mich – über uns hereinbrechenden Tsunamis. Ganz im Gegenteil wurde damit ein Akkomodationsprozess in Gang gesetzt, in dem sich über Jahre vollkommen neue Bewältigungs- und Verarbeitungsmuster herausbilden sollten.

Dass das finale Ereignis eines Flugzeugabsturzes nur wenige Minuten andauerte – und von den Beteiligten (bis auf den Piloten) auch nicht durchschaut wurde, vermutlich bis wenige Sekunden vor dem Zerbersten des Viersitzers auf freiem Feld, unter blauem, wolkenlosem Himmel, muss ich mir auch heute noch immer wieder vor Augen führen. Darin liegt der Auslöser für immer wieder aufwallenden Zorn und zugleich ein gewisser Trost. Es bleibt bei der tröstlichen Vorstellung, dass die vier Männer aus Bad Neuenahr (zwischen Ende dreißig und Ende fünfzig), von denen mein Bruder Willi der jüngste war, diesen Flug – in Vorfreude auf ein verlängertes Wochenende in Zell am See (Österreich) – bis kurz vor 10.00 Uhr am 21. Juni 1994 bei herrlichem Mittsommerwetter als reinen Genuss und außergewöhnliche Abwechslung und Bereicherung in einem für alle arbeitsreichen Alltag genossen haben. Da spielte es keine Rolle, dass ich meinen Bruder mal wieder als Idioten ansah, der keine Gelegenheit auslassen konnte, die man gemeinhin als puren Luxus oder meinetwegen als so überflüssig, wie einen Kropf betrachten konnte. Es spielte keine Rolle, dass er dafür eigentlich überhaupt kein – sozusagen überflüssiges Geld – zur Verfügung hatte (sein Konto war bis zum Anschlag überzogen). Es spielte keine Rolle, dass er sich eigentlich in einer kritischen Phase bewegte, in der seine Ehe lange auf dem Spiel gestanden hatte, er eine Affäre beendet hatte und sich wieder zurück bewegte in seine Familie mit zwei heranwachsenden Töchtern, von denen die eine sieben Jahre alt war und im September achte Jahre alt werden würde und die andere eben – im April – fünf Jahre alt geworden war. Es konnte gar keine Rolle spielen, dass die Mutter eben einmal in 14 Tagen ihren 70sten Geburtstag feiern sollte – wir hatten die Vorbereitungen dafür ja miteinander noch wenige Tage zuvor abgestimmt! Warum – verdammt noch einmal – musste mein idiotischer Bruder die Nase wieder mittendrin haben??? Er gehörte ja gar nicht dazu!!! Die beiden anderen hatten die Reise bei einer Tombola gewonnen. Er war nur als Ersatzkandidat eingesprungen für jemanden, der die Reise nicht antreten konnte. Warum war da nicht irgendjemand anderes – vielleicht partner- und kinderlos – interessiert gewesen, diese Reise anzutreten? Und warum – verflucht noch einmal – musste diese Maschine von einem gewissenlosen, ausschließlich an seinen eigenen Interessen und Motiven ausgerichteten Egomanen gesteuert werden??? Dieser Mann, den man gemeinhin für die ideale Besetzung dieses Parts im gesamten Arrangement hätte ansehen müssen, und der als Held von Landshut in der Bild-Zeitung abgefeiert wurde – diesem schon immer mit einem puren Filtrat aus reiner Scheiße gedruckten, waffenscheinpflichtigen Drecksblatt –, dieser Mann entpuppte sich nach der sorgfältigen Untersuchung des Bundesluftfahrtamtes als über die Maßen fahrlässiger Pilot. Entgegen seiner Verantwortung hatte er vor Abflug weder das Logbuch noch den Füllstand des Tankes überprüft. Der Check war abends zuvor erfolgt. Dass die Maschine nach seiner Abnahme nochmals für einen Schleppflug bewegt wurde, war so seiner Aufmerksamkeit – trotz ordnungsgemäß erfolgten Eintrags ins Logbuch – entgangen. Wenige Liter Sprit haben gefehlt, um das Fluggerät vorschriftsmäßig auf dem Landshuter Flugplatz zu landen. Bis in alle Ewigkeit hätte niemand Kenntnis erlangt von der Fahrlässigkeit des erfahrenen Bundeswehrpiloten. Dann – aber auch nur dann, unter genau dieser Maßgabe – hätte der Vergabe einer Lizenz zur Erteilung von Flugunterricht nichts im Wege gestanden. Onkel Günther, der Schwager unseres Vaters, ist noch am 21.6.94 nach Landshut gefahren und hat schon unter dem unmittelbaren Eindruck der Absturzstelle – wie dann von der Luftfahrtbehörde bestätigt – gemutmaßt, dass es ein Leichtes gewesen wäre die Maschine auf freiem, abgeernteten Gelände notzulanden; n o t z u l a n d e n! Darum war es dem Piloten zu tun, nämlich genau dies zu vermeiden. Braunschweig geht akribisch und unerbittlich jeder außerregulären (Not-)Landung nach. Die Maschine hatte nicht gebrannt – der Tank war staubtrocken. Der Pilot hatte zu hoch gepokert. Um zu verhindern, dass man ihm Fahrlässigkeit und Versäumnisse nachgewiesen und damit selbstredend die Erteilung einer Lizenz als Fluglehrer verweigert hätte, hat er leichtfertig sein eigenes und das Leben der drei ihm anvertrauten Männer aufs Spiel gesetzt – und verloren. Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Nie ist mir diese Luhmannsche Lebenslaufformel zynischer und erbarmungsloser vorgekommen.

Das Leben meines Bruders war innerhalb von Sekunden ausgelöscht; unsere Mutter hatte ihren jüngsten Sohn verloren, seine Kinder ihren Vater und seine Frau ihren Mann. Fast 27 Jahre nach diesem Ereignis kann man natürlich sehen, dass die Welt sich weiter gedreht hat. Der eingetretene Verlust soll jedenfalls aus meiner Sicht – zumindest für die Blutsverwandtschaft – in seiner elementaren und existentiellen Dimension kein Gegenstand für Spekulationen sein. Auch die Frage, ob die Ehe Bestand gehabt hätte, sollte in ihrer rein spekulativen Perspektive hier keine Rolle spielen. Relativ früh habe ich begonnen den gesamten Blickwinkel umzukehren und meinen Bruder zum Adressaten von Briefen und Mitteilungen gemacht, wie es denn hier bei uns weitergegangen sei; eine Adresse hatte ich nicht, aber die Zustellung ist auch nicht verweigert worden. Warum ich mich der Spekulationen enthalten will, hängt zusammen mit dem Respekt, mit dem ich auf die Lebenswege der unmittelbar Betroffenen schaue; da gäbe es für meinen Bruder nichts zu meckern. Gleichwohl begleitet mich die Frage, was beispielsweise ein früher Verlust des Vaters für Töchter bedeuten mag, manchmal in meinen Träumen, aber auch im Wachen.

Die Frage, die ich mir hingegen erlaube und der ich mich gar nicht entziehen kann, hängt mit uns Brüdern zusammen, mit dem Ausmaß, in dem ich ihn vermisse und seinen Segen erhoffe. Mit unserer Schwester und unserer Cousine fühle ich mich da in nahtloser Übereinstimmung. Willi war in seiner Frohnatur meiner Schwester näher als mir; in einer vorsprachlichen, vollkommen selbstverständlichen Dimension von Zugehörigkeit und emotionaler Bindung muss man vermutlich lange nach einem vergleichbaren Brüderpaar im Geiste und im Herzen suchen. Dafür gibt es ein so unendlich dichtes feinstoffliches und feinmaschiges Gewebe, das diese tiefe Intuition auch nach 27 Jahren trägt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass ich wenige Jahre nach Willis Tod in seine Fußstapfen getreten bin und mich selbst nicht schützen konnte vor den Lektionen, die er bereits – als der Jüngere – dabei war zu lernen. 1997 hat er seinen Beitrag dazu geleistet, mich zu besinnen und endlich erwachsen zu werden – auch um herauszufinden, wer ich denn eigentlich bin. Um dorthin zu gelangen, musste die Welt sich weiterdrehen. Unsere Mutter musste sterben, und neben die neuentdeckte Lust am Leben musste ein preußisch anmutendes Pflichtethos treten, so dass ich tatsächlich ganz werden konnte?

 

Gaudeamus igitur – Studium

Ein erster kleiner Exkurs: Werde der du bist – Wissenschaftssozialisation (10)

Ich sitze hier im umgebauten und sanierten Haus meiner Schwiegereltern; der Blick auf den querterrassierten Heyerberg – inmitten von Weinbergen – signalisiert mir zumindest, dass ich angekommen bin. Es ist meine zehnte Adresse in einem Leben, für das sich inzwischen das siebte Jahrzehnt vollendet hat. Dorthin gelangt zu sein – an diesen Ort, erfüllt mich gleichermaßen mit Genugtuung wie mit schlichtem Unglauben. Von den Pferden, die man mir angeboten hat, und die ich bestiegen habe, bin ich nicht – zumindest nicht final – heruntergefallen. Sie haben mir treu zur Seite gestanden und bekommen bei mir ihr Gnadenbrot. Das eine hat mich durch die Welt des Berufs und der Wissenschaft getragen; das andere, dessen Zügel ich nicht immer fest in der Hand hatte, hat immer – manchmal auch ohne mein Zutun – den Weg zu den Futtertrögen gefunden. Die wenigsten von uns bleiben souverän in allen erdenklichen Lebenslagen. Dass ich nun schauen kann, hat zu tun mit einer materiellen Auskömmlichkeit. Was mir anvertraut worden ist, habe ich zumindest nicht verschleudert. Wie ich nun in die Welt zu schauen vermag, das wiederum verdankt sich einer verrückten Drift durch die Welt der Bücher und des Geistes. Wenn ich mit zunehmendem Alter und vielleicht auch zunehmender Reife die sogenannte Luhmannsche Lektion lernen durfte, hat dies zur Folge, dass mir das Herz (und auch der Kopf) sehr viel leichter sind als noch vor mehr als vierzig Jahren. Manchmal fühle ich bis heute die Versuchung, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen, sie zumindest als Vehikel nutzen zu können, das mir sowohl Erinnerungen erlaubt als auch – immer wieder neu – die Chance eröffnet, die mir nahen Menschen meiner Liebe über den Augenblick und das konkrete Handeln hinaus zu vergewissern – am Anfang war das Wort. Und ganz gewiss – dies hat sich über all die Jahrzehnte bewahren lassen – war Sprache immer das Medium, über das ich mich von missliebigen Phänomenen oder Zeitgenossen distanzieren konnte, bis hin zur finalen Attacke (da kann auch schon einmal die Frage auftauchen und auf Beantwortung drängen, ob Alexander Gauland  und Björn Höcke Drecksäue sind, und ob man mit einer solchen Annahme sus scofra – den Wildschweinen – nicht zu nahe treten würde.

Ganz behutsam habe ich dann mit der Zeit die Seiten gewechselt, weil ich Norbert Bolz folge, wenn er bemerkt, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen: „Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren. Auch reicht der Bezug auf die Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb ‚nur‘ als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft. Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit“, darum gehe der Streit zwischen Luhmann und Habermas (40).

Der Seitenwechsel:

1986 – vor 44 Jahren – habe ich meine Dissertation veröffentlicht. Die wissenschaftstheoretischen Kernaussagen hatten Bekenntnischarakter – zumindest war ich selber fest davon überzeugt. Mit einem offenen Bekenntnis wäre ich ganz sicher auf den Widerstand meiner Betreuer gestoßen (Prof. Dr. Heino Kaack und seinerzeit von PD Dr. Ulrich Sarcinelli). Wenn ich nun eine längere Passage wiedergebe, verblüfft mich vor allem, wie sehr ich mich heute mit der seinerzeit als kritikwürdig betrachteten Position Luhmanns identifiziere und die kritischen Vorbehalte Habermasens für mich relativiert habe. Ja, auch damals ging es schon um die wissenschaftstheoretischen Giganten Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Es ist im Übrigen frappierend und erhellend, wenn man die folgende Passage im Kontext der Covid19-geschuldeten Politik liest – insbesondere mit Blick auf die Debatte um die Einschränkungen von Grundrechten (Dissertation, S. 100ff.):

„Die Kernaussage Luhmanns impliziert – sozialisationstheoretisch gewendet – einen Sozialisationstyp, der ein nahezu motivloses, selbstverständliches Akzeptieren bindender Entscheidungen soweit verinnerlicht hat, dass – wie Easton/Dennis formulieren – ein funktionaler Handlungsspielraum des politischen Systems durch einen ‚diffuse support‘ seitens der Bevölkerung gewährleistet ist …] In gewisser Weise – so Luhmann – ist ‚Opportunismus bestandswesentlich geworden, denn Werte können nicht mehr durch sture Rangprioritäten festgelegt werden. Dem entspricht die Bedeutung von kognitiven Wertstrukturen, die auf der Grundlage abstrakter Grundhypothesen (z.B. die Verteilung sozialer Chancen und Positionen erfolgt in dieser Gesellschaft nach gerechten Kriterien = Leistung) relativ enttäuschungsfest sind.“ Weiterhin ist die Rede von einer „effektiven Systemintegration, die – zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften – unauflöslich an eine komplementäre funktionale Sozialintegration“ gebunden ist. Und nun einmal genau hinschauen und – jetzt in der zweiten Februarhälfte 2021 beobachten, was sich nach einem Jahr Pandemiedruck und –erfahrung möglicherweise verändert: „Das heißt, die Voraussetzungen für eine effektive Systemintegration (Regierbarkeit) sind voraussichtlich in dem Maße gegeben, wie der einzelne bzw. die Masse der Bevölkerung z.B.

  • den Staat als Rechtsstaat bewertet, in dem politische Entscheidungen durch legitimierte Gremien zustande kommen;
  • glaubt, seine/ihre Interessen – zumindest überwiegend – in einer wählbaren Partei vertreten zu sehen;
  • davon ausgeht, durch politische und wissenschaftliche Eliten (rationale) Problemlösungsstrategien angeboten zu bekommen, die er durch seine Wahlentscheidungen beeinflussen kann;
  • davon ausgeht, das politische System sei 1. in seinen politischen Eliten glaubhaft und identifikationsfähig, 2. auf der Problemlösungsebene effizient und 3. In seinen Leistungen bzw. Entscheidungen sozial und gerecht.

Jürgen Habermas geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass ‚im Publikum der Staatsbürger‘ die gebrauchswertorientierten – und das heißt: an Erfolg kontrollierbaren Erwartungen zunehmen. Das steigende Anspruchsniveau verhalte sich zum wachsenden Legitimationsbedarf proportional: die fiskalisch abgeschöpfte Ressource ‚Wert‘ müsse die knappe Ressource ‚Sinn‘ substituieren. ‚Fehlende Legitimationen müssen durch systemkonforme Entschädigungen ausgeglichen werden. Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche schneller steigen, als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht mehr befriedigt werden können.‘ Diesem Bedürfnistyp entspricht eine politisch abstrakte Grundhaltung, verbunden mit einer überwiegend privatistischen Karriere-, Freizeit- und Konsumorientierung. Habermas hat den zugrundeliegenden Einstellungskomplex in den zwei Syndromen des ‚staatsbürgerlichen und familial-beruflichen Privatismus‘ zusammengefasst.“

Im Februar 2021 gewinnt man den Eindruck, dass sich das gesellschaftliche System – im Zusammenspiel seiner Subsysteme – auf einen Kipppunkt zubewegt. Erstaunlich waren bislang die Akzeptanzwerte zum politischen Krisenmanagement, so dass man Jürgen Habermas weitgehend entgegenhalten kann, dass es selbst angesichts der drastischen Einschränkungen über die letzten 12 Monate nicht wirklich zu einer nachhaltigen Legitimationskrise gekommen ist, etwas worauf die AfD in überlebensgieriger Haltung wartet. Spannend in diesem Mega-Wahl-Jahr wird nunmehr sein, inwieweit die oben genannten Kriterien für eine über das politische System gewährleistete Systemintegration weiterhin Bestand haben! Erosionserscheinungen lassen sich deutlich erkennen mit Blick auf das Impfdesaster sowie mit Blick auf erkennbare Kommunikationsdefizite hinsichtlich der sogenannten Inzidenzwerte (50 bzw. 35 pro 100.000) und die damit nach wie vor begründeten Einschränkungen. Diese Bemerkungen belustigen in gewisser Weise kurz vor der Drucklegung. 2022 ist die Pandemie nicht überwunden und die endemische Lage nicht wirklich eingetreten. Wir haben eine beträchtliche Anzahl von Impfverweigern mit teils fatalen Folgen. Das politische System hingegen steht in seiner Funktionalität nicht wirklich in Frage.

Aber eigentlich wollte ich ja nur verdeutlichen, wie ich behutsam von der einen Seite (Jürgen Habermas) zur anderen Seite (Niklas Luhmann) geraten bin – hierzu ein Zitat, mit dem ich die Festschrift zu meinem Berufsausstieg 2017 eingeleitet habe:

„Denn es geht hier (bei vielen privaten und öffentlichen Konflikten, Anm. Verf.), möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

Der neuerliche Versuch, den eigenen Spuren zu folgen und wortschöpfend jene Erinnerungs- und Reflexionsinseln einzudeichen, die sich vordrängen und die man aufspüren muss/will, soll zeigen inwieweit man aus der von mir als Luhmannsche Lektion bezeichneten Einsicht, Gewinn ziehen kann. Mit Blick auf mein Vorhaben bedeutet dies nichts anderes, als durch einen zweiten und dritten Blick vorschnelle Urteile und Bewertungen zu vermeiden.

Welche Wege hat man denn gewählt bzw. welche Wege haben sich denn angeboten oder gar aufgenötigt, um die Luhmannsche Lektion für sich annehmen zu können? Katholisch, vom Lande, aber ein Junge – vielleicht war letztere Variable in den 50er und 60er Jahren doch noch der entscheidende Unterschied, der beispielsweise die Wege meiner Cousine Gaby – ca. sechs Stunden älter als ich – und meine Wege Mitte der sechziger Jahre aus dem Gleichschritt gebracht hat? Sie hatte mich ja noch motiviert – orientierungslos, wie ich war – gemeinsam mit ihr nach der Volksschule in Bonn eine Private Handelsschule (Dr. Köster) zu besuchen. Der Hinweis ist ja bereits erfolgt, wie sehr ich mich dort deplatziert gefühlt und letztlich gequält habe. Erwähnenswert sind lediglich meine Fingerfertigkeit an der Schreibmaschine/Tastatur, und dass ich eine Zeit lang die Schulbank mit Hannes Bongartz gedrückt habe. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, wie ich auf die Werbekampagne des Aufbau-Gymnasiums in Bad Neuenahr – meiner Heimatstadt – aufmerksam geworden bin. Jedenfalls habe ich mich aus eigenem Entschluss für die Aufnahmeprüfung angemeldet und diese Prüfung auch bestanden. Wenn ich versuche mir die Frage zu beantworten, welches Selbstbild denn hier zugrunde lag, dann lohnt ein Blick zurück in die Volksschule. Ich war zuletzt – in der Klassenstufe 7/8 ein guter Volksschüler. Die Leistungsanforderungen und die Arbeitshaltung, die dort erwartet wurde, entsprachen fast zur Gänze meinem Persönlichkeitsnaturell. Natürlich müsste ich hier andere befragen. Aber inzwischen bin ich 70 alt, und ich kenne viele Geschichten über mich, auf die ich hier zurückgreifen werde, um ihnen dann selbstverständlich eine eigene Färbung zu geben.

 

Kindheit, Jugend und Schule (11)

Ich war ein ängstliches Kind, ein Muttersöhnchen ganz klassischen Zuschnitts.

Zeit für eine kleine Randbemerkung: Wir schreiben den 30.5.2022 - kurz vor Drucklegung von Kurz vor Schluss - Teil II. Heute morgen habe ich Leo in den Kindergarten gebracht - Leo ist am 8. Mai drei Jahre alt geworden. Heute morgen hatte er schon signalisiert, nicht in den Kindergarten zu wollen (ich habe ja schon bemerkt, dass ich selbst nie einen Kindergarten besucht habe). Mit Leo habe ich mich auf der Fahrt in den Kindergarten unterhalten; wir haben für heute Nachmittag eine Gartenaktion beschlossen. Auf dem kurzen Fußweg in den Kindergarten war das auch so weit ein tragfähiger Plan. Nachdem wir das Eingangstor zum Kindergarten hinter uns hatten, liefen dann die ersten Tränchen. Ich habe in Leos Gesicht geschaut und bin dann innerlich zerschmolzen. Mit Humor und Standfestigkeit und der Aussicht auf den Nachmittag ist es mir dann gelungen, Leo zu überzeugen, dass der Kindergarten ein guter Ort ist. Will sagen: Das ängstliche Muttersöhnchen, das der Opa einmal war, ist mit siebzig erwachsen (im übrigen war die Initialzündung zu einem wirklichen und rückhaltlosen Erwachsenenleben ja mit der Sterbebegleitung meiner Mutter verbunden) und kann sich souverän den Erforderissen des Alltags stellen. Unvorstellbar bleibt allerdings die Vorstellung, ich selbst hätte im Alter (auch schon) von drei Jahren einen Kindergarten besuchen müssen; war halt eine andere Zeit!

Die Mutter war der Hafen, sie verkörperte das Nährende und vor allem das Gewährende, das Weiche und Herzliche auch von ihrer körperlichen Seite her – so auch emotionaler Rückhalt auf allen Ebenen des Denkens, Fühlens und Hoffens. Die väterliche Seite war davon nicht wirklich trennscharf zu scheiden. Über ihn habe ich schon im Zusammenhang mit Ulla, meiner Schwester, berichtet. Gerade ihr gegenüber und aus ihrer Sicht zeigt sich mit Abstand bis heute, dass wir von einer Vaterfigur der besonderen Art sprechen. Er war schlicht ein Ermöglicher im Rahmen seiner Möglichkeiten – Fußball stand mit Abstand an erster Stelle, Fußball war sein Leben, dieses Gen hat er in allen Ihm Entwachsenen und Anvertrauten mit nachhaltiger Wirkung verankert. Beim Räumen bin ich auf einen Zeitungsartikel aus den 60er Jahren gestoßen: Schülerstadtmeister im Tischtennis – Doppel: Peter-Georg Witsch und Franz Josef Witsch, weder verwandt noch verschwägert, aber Nachbarskinder und Schulkameraden; Schülerstadtmeister im Einzel: 1. Platz: Peter-Georg Witsch – 2. Platz: Franz Josef Witsch. Der Vater hatte eine Tischtennisplatte gekauft, die bei gutem Wetter in der Garageneinfahrt und bei schlechtem Wetter in der Garage selbst platziert wurde. Hier haben wir alles gelernt, was man zum (Über-)leben braucht: Gemeinschaftssinn und taktische Finessen in der Doppelkonkurrenz, Durchsetzungsvermögen im Einzel sowie die nötige Frustrationstoleranz, um angemessen mit Enttäuschungen und Niederlagen umgehen zu können. Und wenn wir gar zu viele waren, dann wurde Tischtennis einfach im Rundlauf gespielt. In Klein-Frankreich, so der Name des Straßenzuges von der Landgrafenstraße bis zum Ostende der Stadt, lebten viele Kinder. Vor mir liegt das Foto der Dahlienkönigin aus dem Jahr 1965 – Helene Steinborn; ihrer Einladung zu Kakao und Kuchen waren zweiunddreißig (32) Kinder im Alter von vier bis vierzehn Jahren gefolgt.

Die Kombination von Individualsport (Tischtennis) und Mannschaftssport erwies sich als hohe Schule mit nachhaltigen Sozialisationseffekten. All dies taugte dazu den Wert von Gemeinschaft wie die Erfordernisse von individueller Durchsetzungskraft gleichermaßen zu vermitteln. Das hatte auch etwas zu tun mit der Verankerung eines Leistungsgedankens, der uns beispielsweise 1969/70 sowie 1970/71 in der A-Jugend-Sonderrunde des Fußballverbandes Rheinland die Chance eröffnete, unsere Kräfte in der für uns höchsten Spielklasse zu messen. Gerade der Fußball übt(e) bis ins hohe Fußball-Alter hinein eine große Faszination aus. Er war auch in die Studentenzeit hinein und weit über sie hinaus ein außerordentlicher Integrationsfaktor; sogar in der Wertschätzung meines Doktorvaters – ein motorisch bescheiden ausgestatteter Egg-Head – stieg ich in ungeahnte Höhen, als wir mit der Projektmannschaft PALEPS die Hochschulmeisterschaften im Hallenfußball gewinnen konnten.

Springen wir noch einmal zurück in eine Kindheit und frühe Jugend, die so unfassbar eindrücklich geprägt war von absoluter Freiheit einerseits und dem Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit andererseits. Entscheidend für dieses Lebensgefühl war die Tatsache, dass wir buchstäblich am Rande der Stadt wohnten. Mein Elternhaus – Kreuzstraße 113 (Baujahr 1900) stand lange einsam und alleine wie ein Monolith als zivilisatorischer Außenposten da. 1936 bauten meine Großeltern mütterlicherseits zunächst eine einzige Etage – ein unterkellertes Erdgeschoss an das etwa 11 Meter hohe Elternhaus meines Vaters (Kreuzstraße 111) – ein skurriles Panorama. Erst nach und nach, zu Beginn der fünfziger Jahre folgten in lockerer Bebauung mehrere Einfamilienhäuser in der Kreuzstraße. Diese Straße verfügte im Sinne eines singulären Alleinstellungsmerkmals auf der Höhe der beiden Elternhäuser über einen freien, ungehinderten Blick auf den gegenüberliegenden Sportplatz und darüber hinaus in die Parkanlagen – unverbaubar bis heute! Dort war mein Heimatverein der Sportclub 07 (SC07 Bad Neuenahr) zu Hause. Unterhalb dieser Sportanlage folgten die Zirkuswiese und daran anschließend der Schuttabladeplatz. Letztere Liegenschaften verschafften diesem Viertel das zweifelhafte Etikett Klein-Frankreich. Der Zirkus gehörte ein- bis zweimal im Jahr zu den kalendarischen Höhepunkten; alle Zirkusfamilien von Rang, ob Althoff, Barum, Knie, Krone oder Sarrasani machten bei uns Station. Ansonsten war die Zirkuswiese eine beliebte Anlaufstelle für das fahrende Volk – wir nannten sie damals Zigeuner. All dies umso mehr, als sich die Stadtverwaltung endlich entschloss auf der Höhe der Zirkuswiese einen Hydranten zu installieren. All die Jahre zuvor stellten die Häuser 111 und 113 in der Kreuzstraße die Zapfstellen zur Verfügung. Außergewöhnlich – auch unter dem Aspekt möglicher Gefährdungen – wirkte sich der Schuttabladeplatz aus. Die Kreuzstraße war bis auf die Höhe der Hausnummer 115, dort wohnte ab den frühen 50er Jahren die Familie Heinz, mit einer spiegelglatten Asphaltdecke versehen – für unsere Rollschuh-Aktivitäten eine geradezu paradiesische Voraussetzung. Die abknickende Apollinarisstraße war lange – bis in die sechziger Jahre – nicht mehr als ein befestigter Feldweg. Die Kreuzstraße selbst ging in ihrer Verlängerung über in einen befestigten Feldweg, der an der erwähnten, von Hainbuchen eingefriedeten Zirkuswiese, vorbei Richtung Osten zu einem großen als Schuttabladeplatz genutzten Areal führte. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es noch nicht einmal Rudimente eines Umweltbewusstseins. Es gab keine Mülltrennung. Die Lastkraftwagen und seinerzeit vielfach noch Pferdefuhrwerke – vor allem der Bauern Hansen und Moog – verbrachten alle Sorten von Müll dorthin; Schlachtabfälle genauso wie Bauschutt oder das, was wir heute Restmüll nennen. Um allein das Müllvolumen zu begrenzen, wurde der Müll abgefackelt – je  nach Windrichtung waren wir grundsätzlich die ersten, die nicht nur den Qualm, sondern auch die Geruchsemissionen zu spüren bzw. zu riechen bekamen. Dies galt im Übrigen auch für den nach wie vor mit Dampfloks betriebenen Personen- und Güterverkehr auf der Ahrstrecke; die verlief etwa fünfhundert Meter nördlich parallel zur Kreuzstraße. Das gesamte Areal dazwischen war zu unserer Kindheit und Jugendzeit Wildnis. Wir verfügten so über eine unfassbare Vielfalt an Gelände, dass für alle erdenklichen Spielanlässe und –vorhaben alles bot, was Kinderherzen höher schlagen lässt. Die Gärten wurden abgelöst durch wilde Brombeerhecken, verwilderte, aufgelassene Gärten mit allen möglichen Obstbäumen. Es gab den Fußballplatz, der im Süden an die Ahr grenzte; die Ahr war im Sommer Badeplatz, bei Hochwasser gefürchtetes Wildwasser, das im Übrigen so manchen Fußball in die weite Welt entführte – über die Ahr in den Rhein und so bis in die Niederlande, die auf diese Weise zum ersten Mal überhaupt mit Fußbällen in Berührung kamen. Auf der anderen Seite der Ahr erstreckten sich weitläufige Parkanlagen – auch diese in allen Variationen, vom französisch inspirierten hingezirkelten Lenné-Park bis hin in den englischer Parkkultur nachempfundenen Kaiser-Wilhelm-Park – inmitten eine große Teichanlage, der sogenannte Schwanenteich; müßig zu betonen, dass von all den Kindern in Klein-Frankreich kaum eines einen Kindergarten von innen gesehen hat.

Von diesem Vorposten der Zivilisation musste man sich einige hundert Meter stadteinwärts bewegen, um zu realisieren, dass man tatsächlich in einem kleinen, aufstrebenden Kurstädtchen lebte. So war denn auch unser Schulweg geprägt von einer ländlich anmutenden Ausgangslage, von der aus wir uns dann – der Kreuzstraße folgend – zuerst über die Landgrafenstraße hinweg, die Wendelstraße kreuzend, die Jesuitenstraße rechter Hand liegen lassend über die Poststraße hinweg die Telegrafenstraße erreichten (an keinem Tag musste irgendjemand von uns Kindern diesen Schulweg alleine gehen). Nach wenigen Metern standen wir dann vor der imposanten Rosenkranzkirche. In unmittelbarer Nähe mit vorgelagertem Schulhof befand sich die Volksschule – das alles fest in katholischer Hand. Die Schule, in die wir Ostern 1958 eingeschult wurden, war kein vertrauenserweckender Ort, kein Ort, von dem man annehmen und erwarten konnte, dass wir im Mittelpunkt einer uns zugewandten, uns freudig und respektvoll empfangenden Institution stehen würden. Das ganze Gegenteil war von Beginn an der Fall. Die Klassen waren mit bis zu 60 Kinder in dafür nicht ausgelegten Räumen überfüllt. Die bewährten Rezepte einer äußerst schwarzen Pädagogik ließen in ihren Methoden immer noch die Handschrift einer mehrheitlich von nationalsozialistischen Erziehungsidealen geprägten Lehrerschaft erkennen. Mir genügt ein einziges, zentrales Beispiel, um dies eindrücklich zu belegen: Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Esch, führte über den gesamten Vormittag eine Liste, in der sämtliche, von ihr als Vergehen gegen Ordnung und Disziplin erachtete Vorkommnisse vermerkt wurden. Am Ende des Schulunterrichts kam ihr Kollege Ostermann und schritt zur Exekution der verhängten Strafen. Die in der Kladde vermerkten Schüler mussten vor der Klasse antreten und sich mit ausgestreckten Armen hinstellen. Fräulein Esch entschied – je nach Schweregrad der Vergehen –, ob der Schüler die Handflächen oder die Handrücken zeigen musste. Mit einem Reis wurde dann entweder auf die Handinnenflächen oder die Handrücken geschlagen. Diese Vorgehensweise missachtet die Grundregeln auch körperlicher Züchtigung, deren Einhaltung selbst pädagogische Vertreter entsprechender Maßnahmen als unverzichtbar annehmen: Zwischen Vergehen und Bestrafung darf keine eklatante Zeitdifferenz – ein ganzer Schultag oder mehr – treten; neben dem Delegieren von Strafmaßnahmen vermittelt Schülern dies die Erfahrung pures Objekt von Sühnemaßnahmen zu sein, ohne dass der Strafende auch nur in der Lage ist, die von ihm vollzogene Strafe in ihrer Berechtigung und Angemessenheit begründen oder nachvollziehen zu können. Die Prügelstrafe gehörte zum alltäglichen Repertoire der Unterrichtsführung. Disziplinarische Verfehlungen oder Leistungsverweigerung (vergessene Hausaufgaben) wurden häufig durch Schläge geahndet.

Nach der vierten Klassenstufe verließen uns einige unserer Mitschüler Richtung Realschule oder Gymnasium. Rektor Müller empfahl meinen Eltern für mich den Übergang auf die Realschule alternativ auch das Gymnasium. Soweit ich mich erinnere, war dies nicht annähernd eine denkbare Option. Von all den Kindern, die das Gruppenfoto mit der Dahlienkönigin des Jahres 1965 zieren, besuchten nur wenige eine weiterführende Schule. So blieb ich ganz selbstverständlich auf der Volksschule. Wir zogen um – zuerst in einen Altbau in der Weststraße, später in einen Neubau in der Nachbarschaft, die heutige Grundschule Bad Neuenahr. Aufgrund akuten Lehrermangels fasste man die Klassenstufen 5/6 und 7/8 zu großen Lerngruppen zusammen mit jeweils über 50 Schülern. Der Schulunterricht war nach Geschlechtern und Konfessionen streng getrennt. Dass die Empfehlung eine weiterführende Schule zu besuchen nicht gänzlich unbegründet war, zeigte sich dann im Verlauf der weiteren vier Schuljahre (die seinerzeitige Volksschule schloss damals noch mit dem Besuch der achten Klasse ab). Die Lehrerschaft verjüngte sich rein altersmäßig. Mein Lieblingslehrer in den klassischen Fächern Deutsch, Rechnen, Heimat-/Erdkunde war der Lehrer Wilhelm. Er ermunterte mich zu konstanter mündlicher Mitarbeit, und er stellte meine Heftführungen als beispielhaft in den Raum. Meine Volksschulhefte haben die vielen Umzüge leider nicht überlebt. Ich entdeckte seinerzeit die Möglichkeit mittels Pauspapier Abbildungen, Risse, Zeichnungen in mein Heft zu übertragen und auf diese Weise die rein sprachliche Seite enorm aufzuwerten. Legendär waren meine Übertragungen der Erdteile in mein Erdkundeheft – vor allem die politischen Karten mit Ländergrenzen, Hauptstädten und Metropolen müssen eine reine Augenweide gewesen sein. So lernte ich die politische Geographie der Erdteile auswendig und illustrierte sie in meinen Arbeitsheften. Wer konnte denn damals schon aus dem Stehgreif die Hauptstädte von Uruguay oder Paraguay nennen? Der Enkel dieses von mir hochverehrten und geschätzten Lehrers, so alt wie mein Neffe Michael, hat als junger Mann Südamerika bereist, eine Straßenkinderprojekt „Menino“ (der Name auch der von ihm begründeten Band) begründet und ist schon als junger Mann mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Ein zweiter überaus prägender Pädagoge war der von uns allen hochgeschätzte Sportlehrer Erno Mahler. Die Begriffsverwendung Pädagoge gibt hier hohen Sinn, da wir alle gleichermaßen in Berührung kamen mit einer individualpädagogisch ausgerichteten Haltung eines Lehrers, der es Verstand die sachlich-fachlichen Anforderungen und Angebote mit den Entwicklungsmöglichkeiten seiner Schüler in einer wohlverstandene Passung zu bringen. Eine wohlkalkulierte didaktische Überforderung kitzelte ungeahnte Potentiale wach – immer gepaart mit einer individuell wertschätzenden Grundhaltung des Herrn Erno Mahler. Er lebt 82jährig in Bad Neuenahr und hat sich bis heute einen jungenhaften Charme bewahrt. Noch heute bewahre ich Zeitungsartikel auf, wonach das Basketball-Spiel auf der Volksschule geradezu kultiviert wurde und unsere Schulmannschaft auf Stadtebene einen schulübergreifenden Wettbewerb gewann.

Der Abschluss der Volksschule war mit einer Weggabelung verbunden, die vor allem auch alte, gewachsene Freundschaften über die Jahre relativierte, bis sie teils vollkommen absanken in jeweils getrennte Welten. Mein bester Freund, Peter-Georg Witsch, Namensvetter und Sparringspartner in allen Disziplinen, an denen sich Jungen-Identität – inclusive aller konkurrenzorientierten Individualisierungsschübe – ausbildet, machte nach der Volksschule eine Lehre zum Wasser- und Heizungsinstallateur. Mit Mitte dreißig wechselte er ins örtliche Spiel-Casino, im Übrigen ein Weg, der mir auch offen gestanden hätte, da unsere beiden Väter dort als Croupiers arbeiteten. Ende der achtziger Jahre führte ihn sein Weg in die Justizvollzugsanstalt Koblenz, weil er sich einer kriminellen Vereinigung angeschlossen hatte zum Zweck eines fortgesetzten Betrugs seines Arbeitgebers durch technische Manipulation der Spielgeräte. Wir haben uns danach noch einmal wiedergefunden, er hat – gemeinsam mit seinem Bruder, Karl-Heinz – das legendäre Fest zu meinem fünfzigsten Geburtstag im Café Hahn besucht und ist leider schon acht Jahre danach – im März 2010 – an einer Krebserkrankung verstorben. Er, sein Bruder, mein Bruder und Bernd Jobst, dem hier ein eigenes Kapitel zu widmen ist, bildeten Anfang der sechziger Jahre schon einmal so etwas wie eine zwielichtige Vereinigung, der sogenannte K9-Klub. Wir trafen uns in unserer Freizeit in einer Scheune bei Jopa (Bernd Jobst). Wir alle wohnten in einer Straßenflucht, in Klein-Frankreich, in der Kreuzstraße auf einem Straßenabschnitt, der eben einmal 100 Meter Wegstrecke umfasste. Wir organisierten unsere Spiele, kleine Fahrradtouren und erkundeten die Umgebung, beschafften uns auf unlautere Weise die notwendigen Utensilien und Lebensmittel für unsere kleinen Gelage. Während einer dieser Erkundungen – hoch über dem Apollinarisbrunnen (heute verläuft dort die Trasse der A61, nachdem sie das Ahrtal in Richtung Bonn/Köln überquert hat) – packte Jopa plötzlich eine Kamera aus und meinte: „Heute machen wir einmal ein Foto von uns allen!“ Ungläubig sahen wir unseren Spinner an – Jopa war schon damals ein recht exzentrischer Sonderling, und meinten: „Und wer fotografiert???“ Mit einer überlegenen Geste wischte er unsere dumme Frage hinweg und klärte auf: „Das ist eine Kamera mit Selbstauslöser. Ich stelle einen ausreichenden Zeitvorrat ein, und wir postieren uns in etwa 10 Meter Entfernung.“ Jopa platzierte die Kamera auf einem kleinen planierten Erdhügel, nachdem er den Kameraausschnitt überprüft und justiert hatte. Wir lagen schon bereit. Er drückte auf den Auslöser und spazierte in aller Seelenruhe zu uns hin, legte sich neben uns, mahnte uns zum Stillhalten, bis der Auslöser vernehmlich das Objektiv zur Belichtung öffnete. Das Foto, das ich hüte, wie meinen Augapfel, zeigt von links nach rechts zuerst den Jupp, dann den Peter, seinen Bruder Karl-Heinz, meinen Bruder Willi und schließlich den Meisterfotografen Bernd Jobst, unseren Jopa. Drei dieser damals etwa acht- bis etwa zwölfjährigen Jungs strecken ihre jeweils linken Unterschenkel himmelwärts – eine Bewegungsrichtung, die von drei im Hintergrund stehenden Zaunpfählen aufgenommen wird. Diese drei, Willi, Jopa und Peter, sind die ersten drei Verstorbenen, Willi 1994 im Alter von 38 Jahren, Jopa 1995 im Alter von 41 Jahren und Peter-Georg 2010 im Alter von 59 Jahren – zuletzt folgte der jüngste der K9er, Karl-Heinz, der vor wenigen Jahren im Alter von eben erst 60 Jahren verstorben ist – der einzige Überlebende kommt jetzt seiner Chronistenpflicht nach.

Von uns Fünfen war es mir alleine vergönnt von der herkunftsgemäßen, vorgespurten Bahn (Schullaufbahn) abzuweichen. Voraussetzung dafür war der einsame Entschluss die verspätete gymnasiale Laufbahn zu wagen. Mitte der sechziger Jahre zeigte sich die von Georg Picht ausgerufene und diagnostizierte Bildungskatastrophe in all ihren verheerenden Auswirkungen. Er kritisierte in einer Artikelserie die Situation des seinerzeitigen Bildungswesens in der Bundesrepublik an und löste eine intensive Debatte mit ersten schulpolitischen Konsequenzen aus. Dabei ging es vor allem um die im internationalen Vergleich niedrigen Bildungsausgaben in Deutschland und die geringe Quote an Abiturienten und die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land. Im Raum stand die Forderung nach grundlegenden Reformen des dreigliedrigen Schulsystems und der Erwachsenenbildung. Die SPD mit ihrer Gallionsfigur Willy Brandt forcierte mit ihrer Parole Mehr Demokratie wagen auch eine Kehrtwende in der Bildungspolitik. Die Mobilisierung von Bildungsreserven lief unter anderem auch über die sogenannten Aufbau-Gymnasien, die qualifizierten Volksschulabsolventen und Realschulabgängern einen Übergang in die Mittel- bzw. Oberstufe des Gymnasiums ermöglichten. Ich wechselte nach bestandener Aufnahmeprüfung 1966 auf das Are-Gymnasium Bad Neuenahr. Schon in der Obertertia erwischte es mich zum ersten Mal. Das Anforderungsniveau und das Tempo erwiesen sich als zu rasant. Ich benötigte einfach eine etwas längere Anpassungsphase – und da war noch etwas anderes: Ich fand auf dem Aufbaugymnasium alte Freunde aus der Volksschule wieder, sowie gescheiterte Gymnasiasten, die hier ihre zweite Chance suchten. Vor allem aber versammelten sich auf dieser Schule junge Menschen, die im Alter von 14, 15, 16 Jahren vielleicht schon etwas deutlicher sehen konnten, dass sie hier eine unverhoffte Chance bekamen, ihrem Leben gewissermaßen eine Wende in Richtung Bildungserfolg (mit der Perspektive Studium und beruflichem Aufstieg) geben zu können. Der Radius, der sich schlagen lässt, um die Herkunftsorte der Schüler zu erfassen, lag sicher zwischen 100 und 150 Kilometern. Dies lag daran, dass das Are-Gymnasium eine Internatsschule war; ab 1965 mit den Jungeninternat auf der Hauptstraße (das sogenannte Päda) und dem Walburgisstift für die Mädchen auf der südlichen Seite der Ahr in Beuel, wo auch der Schulneubau – eingeweiht 1965 – entstand.

So trug sich ein Aufbruch in zweifacher Hinsicht zu: ein Aufbruch in ungeahnte Bildungswelten und vor allem hinein in die ausgehende zweite Hälfte der sechziger Jahre. Damit bewegten wir uns nicht nur in einem beginnenden sozialen Umbruch, sondern die kulturelle und politische Dimension dieses Umbruchs begegnete und konfrontierte uns mit unglaublich vielen Facetten und Möglichkeiten:

Der – vordergründig betrachtet – faszinierendste Einfluss ging von der Musik aus. Beatles und Rolling Stones waren schon seit Anfang bzw. Mitte der sechziger Jahre unterwegs; Beach-Boys, The Who, Small Faces und Bee Gees gleichermaßen. Und dann betraten Jimmy Hendrix, Jim Morrison, Bob Dylan, Joan Baez und so viele andere die öffentliche Bühne. Alles ging dann sehr schnell. Ich hatte mit Wolfgang Bialek und Fredy Biedermann Weggefährten aus der Volksschule wiedergefunden, hinzu kamen Percy Wilhelm und Alfred Mayer. Schon 1967 hoben wir The Lice aus der Taufe. Dazu bedurfte es zunächst einmal lediglich einiger akustischer Gitarren; Wolfgang bekam als Einzelkind von seinen Eltern ein Schlagzeug und einen Bass geschenkt. Nach den ersten zaghaften Versuchen stand der Entschluss. Wir waren fleißige Jungs, die sich manche Mark nebenher verdienten, und so hatten wir 1968 ein komplettes – wenn auch bescheidenes Equipment beieinander und legten einen beeindruckenden Fleiß und eine enorme Energie an den Tag, um schnellstmöglich bühnenreif zu werden. Im Keller der Borromäus-Bücherei fanden wir einen Probenraum. Wir nahmen schon im Frühjahr 1968 am lokalen Wettbewerb regionaler Bands im Bürgerhaus Heppingen teil und hatten recht schnell ein passables Repertoire beieinander, um eineinhalb Stunden auf der Bühne (be-)stehen zu können. Dabei kam uns enorm zugute, dass wir mit Fredy Biedermann einen excellenten Sänger in unseren Reihen hatten, hinter dem wir alle miteinander ein Stück weit abfielen: Unsere Paradestücke schöpften wir aus den Megahits der Bee Gees (Words, To Love Somebody), natürlich der Stones (Satisfaction, Paint It Black, Tim Is On My Side, Under My Thumb, Jumpin‘ Jack Flash), dann ein Paradestücke von Small Faces (All Or Nothing), bei dem der Fredy Biedermann zur absoluten Höchstform auflief; dies galt gleichermaßen für „Give Me A Ticket For An Aeroplane“ von den Box Tops. Dazu kamen von den Tremoloes „Silence Is Golden“ und vor allem von Otis Redding: „(Sittin On) The Dock Of The Bay“. Stücke, die bei keinem Auftritt fehlen durften, waren selbstredend „House Of The Rising Sun“ von Eric Burdon & The Animals und „Hey Joe“ von Jimmy Hendrix. Das Kultstück aber schlechthin war Nights in White satin! In den Osterferien 1968 machten wir – Wolfgang Bialek, Fredy Biedermann und ich – uns mit den Fahrrädern auf den Weg. In einem weit ausholenden Dreieck fuhren wir drei Jugendherbergen als Zwischenziele an: Die erste Station war Boppard am Rhein. Von dort aus fuhren wir auf die Höhe durch den Hunsrück bis nach Simmern, und dann weiter nach Cochem an die Mosel, um anschließend den letzten Tagesritt von dort aus durch die südliche Eifel zurück nach Bad Neuenahr in Angriff zu nehmen. Zu unserer Grundausrüstung gehörte ein Koffer(Transistor)Radio, das abwechselnd an der Mittelstrebe unserer Fahrräder mit Klebestreifen fixiert wurde. Auf jeder Tour hörten wir mehrmals Nigths in White Satin und waren uns einig, dass diese Herz-Schmerz-Ballade zu unserem Standardrepertoire gehören sollte. Für mich ganz persönlich bildet dieser Song ein gewaltiges Hintergrundrauschen bei meinen ersten unglücklichen Liebesdramen. Aber unserer Band war nur ein einziger, kurzer Sommer beschieden: Fredy Biedermanns Eltern waren früh geschieden, und Fredys Vater – ein bunter Hund – unterhielt in Remagen einen Club. Er verschaffte uns sonntagsnachmittägliche Auftrittsmöglichkeiten. So ansehnlich und so verlockend anfangs die Gelegenheiten waren auf der Bühne im Rampenlicht zu stehen, so schnell war dann der Spaß auch vorbei. Rampensau-Qualitäten hatte ohnehin ausschließlich Fredy Biedermann.

Ich war ja bereits in der Obertertia hängengeblieben, und meine Schulleistungen waren im Keller. Es gab ein klärendes Gespräch zwischen der Mittelstufenleitern, Frau Ledig – sie wohnte in der Kreuzstraße, drei Häuser stadteinwärts von der 113 aus gesehen – sozusagen in der Nachbarschaft. Sie machte unmissverständlich klar, dass ich bei gleichbleibenden Leistungen die Schule verlassen müsste. Die Wochen und Monate, die sich anschlossen, kommen annähernd dem gleich, was ich Wendepunkte im Luhmannschen Sinne nenne. Schon nach wenigen Wochen eröffnete ich meinen Kumpels von „The Lice“, dass sie in Zukunft ohne mich auskommen müssten. Ich war in mich gegangen und hatte eine klare Entscheidung gegen die Band und für die Schule getroffen. Das Ergebnis kann man hier in aller Kürze abhandeln und kommentieren: Heute nennt man das wohl Mobbing, was ich dann erlebte. Die Jungs schnitten mich, kein Wort – sie gingen mir schlicht aus dem Weg. Diese Entscheidung war absolut weichenstellend – so etwas hat sich immer wieder einmal in meinem Leben zugetragen. Keiner meiner Bandkollegen hat Abitur gemacht. Allesamt haben den Übergang in die Oberstufe nicht geschafft. Mein Schulweg war auch danach mühsam und von einem weiteren Rückschlag begleitet, da ich die Unterprima wiederholen musste. Mein bestes Zeugnis auf dem Gymnasium war mein Abiturzeugnis, auf dem keine Note schlechter als befriedigend ausfiel – außer Mathematik (mangelhaft). Aber damit konnte ich seinerzeit bestens leben. Die sozialen Kontakte verschoben sich allmählich – Erwin Josten, Günther Traub, Edmund Lenz, Dieter Rolser waren dabei die engsten Freunde; nicht unerwähnt bleiben darf meine unglückliche und unerfüllte Liebe zu Karin Franzen. Sie war lange Jahre die Gefährtin von Jochen Scharfenstein, der ein unzertrennliches Duo mit Arnold Retzer bildete. Beide gehören – wie ich – dem 52er Jahrgang an, und beide haben mir Nachhilfe in Mathematik erteilt, so dass ich wenigstens ein mangelhaft ins Abitur retten konnte. Arnold Retzer hat dann mehr als vierzig Jahre später die Laudatio zu meinem Berufsausstieg 2017 gehalten – wir haben dabei gemeinsam gleichermaßen Van Morrison und excellenten Gülser Weinen die Ehre gegeben.

Drei prägende LehrerInnen möchte ich erwähnen: Zum einen die bereits genannte Nachbarin aus der Kreuzstraße, Fräulein Ledig, lange Jahre meine Lateinlehrerin, die – so glaube ich – häufig (ohne meine Kenntnis) ihre schützende Hand über mich gehalten hat. Dann einen Drecksack erster Güte: Wolfgang Groß, genannt „Goofy“ (Mathematik und Physik). Besonders er ist mir in Erinnerung als ein Vertreter einer rabenschwarzen Pädagogik – vielleicht hatte er mich, aus welchen Gründen auch immer, besonders auf dem Bildschirm. Mindestens einmal in der Woche war ich auserkoren entweder Hausaufgaben oder auch einfach nur im Laufe der Unterrichtsstunde gestellte Aufgaben an der Tafel zu lösen: „Witsch, bitte an die Tafel, zeigen Sie uns doch bitte einen möglichen Lösungsweg!“ Wohlwissend, dass er mich genüsslich und krachend scheitern sehen würde, während er mit übergeschlagenen Beinen auf dem Tisch süffisant meine – in der Regel – aussichtslosen Bemühungen beobachtete. Die gänzlich andere Seite – sozusagen im Sinne eines pädagogischen Leuchtturms – repräsentierte Magister Karl Heinz Klein; der war kein Lehrer, sondern kam aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ich meine WDR Köln) als Deutschlehrer zu uns und entpuppte sich als der Förderer und Facilitator schlechthin. Er regte mich zum Literaturstudium an, beobachtete und förderte meine ersten lyrischen Versuche. Im Vorwort meines ersten Lyrikbändchens 2003 habe ich mich seiner erinnert und ihm für seine Unterstützung und Ermunterung gedankt. Wir haben uns mehrfach getroffen und einen kleinen, späten Schriftverkehr begründet.

Schule war dann natürlich noch sehr viel mehr. Die späteren „Bendorfer“ sind die gesamte Oberstufe gemeinsam marschiert und dachten seinerzeit Freundschaften fürs Leben zu begründen – immerhin waren es ja auch drei Paarbeziehungen, die es bis nach Koblenz bzw. nach Bendorf geschafft haben. Heute nenne ich nicht einmal mehr die Namen bzw. ich erwähne sie nur noch kürzelweise, weil sich alle Bindungen und Verbindungen nach meinem 50sten Geburtstag 2002 aufgelöst haben und alle Versuche der Kontaktaufnahme – zumindest zu T. und Ev. – zurückgewiesen wurden; nichts ist für immer.

Will ich meinen merkwürdigen Weg in allen mir erinnerlichen Facetten nachvollziehen, dann müsste hier meine Abiturrede folgen – sie löste 1974 einen Skandal aus (ich werde sie gelegentlich einfügen). Das Schreiben des seinerzeitigen Schulleiters, des ehrenwerten Dr. Helmut Bauer, liegt mir noch vor und ist in seinem Tenor sehr hellsichtig richtungsweisend gewesen.

                                Er schrieb mir am 19. Juni 1974

                                „Lieber Franz-Josef Witsch!

Ich möchte nicht mit einer Briefschuld in die großen Ferien gehen und versuche deshalb eine vorläufige Antwort auf Ihre ‚Stichworte‘, die Sie mir bei der Abiturienten-Entlassungsfeier übergaben. Sehr beeindruckt hat mich die Tatsache, dass Sie die Worte auf dem Grundstein unserer Schule ‚Sum ut fiam‘ zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen machten. Wie dieses Motto eigentlich gemeint war, hatte ich einmal bei einer Abiturienten-Entlassungsfeier näher ausgeführt. Solle ich noch einen Durchschlag davon finden, könnte ich Ihnen diesen gern noch zusenden. Vorläufig als kleiner Dank für Ihre Aufmerksamkeit ein Rest-Exemplar des Jahresberichts 1964/65, der Ihnen zusammen mit dem natürlich inzwischen auch veralteten Prospekt einer kleine Erinnerung sein soll.

Erst durch Ihre Äußerungen wurde mir klar, in welch desolatem Zustand Ihre Generation unserer Welt sieht. Ob die gleich Überzeugung von Ihnen noch in wenigen Jahren geteilt werden wird, möchte ich allerdings bezweifeln. Solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung ist, misst man sie an einem selbstgesetzten Ideal. Das ist das Vorrecht jeder jungen Generation. Später versucht man, einfach für andere dazusein, ein Werk nach bestem Wissen und Gewissen zu tun und in allem ‚sein Bestes‘ zu geben, was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wir gelingen können.

Die Begründung Ihrer verzweifelten Grundhaltung, dass es sich hier um eine ‚Selbstentfremdung handele, scheint mir allerdings nicht eigener, sondern übernommener Ansicht zu entspringen, wobei hinzuzufügen ist, dass keiner in Denken und Ansichten den Zeitströmungen zu entrinnen vermag, in denen er unvermeidlicherweise befangen ist.

Zur behaupteten ‚Hypokrisie‘ allerdings vermag ich keinerlei Stellung zu nehmen, da diese, so allgemein ausgesprochen, sich nicht verifizieren lässt.

Zum Schluss darf ich Ihnen noch sagen, dass mich eines sehr erstaunt hat: Sie sprechen immer vom Erziehungsanspruch der höheren Schule und erwähnen nicht ein einziges Mal das, was sie mit Bildung eigentlich zu erreichen versucht; d.h. mit der Vermittlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne die geistige Arbeit gar nicht möglich wäre. Um das aber zu erreichen, sind ‚Kärrner‘ notwendig, die ihre harte tägliche Pflicht tun und nur hoffen können, dass gestreuter Same aufgehe und Frucht bringe.

Mit guten Wünschen für Ihre persönliche Zukunft und freundlichen Grüßen

Dr. Bauer (Oberstudiendirektor)

 

So brüsk und entrüstet ich seinerzeit die Hinweise Dr. Bauers zurückwies, wenn ich die Welt weiterhin so düster und durch eine völlig überzogene, unangemessene moralinsaure Brille betrachten würde, hätte ich eine gleichermaßen düstere Zukunft vor mir, so uneingeschränkt muss ich ihm rückblickend zustimmen. Fast fünfzig Jahre nach diesen besorgten Worten, wäre er vermutlich ein wenig stolz auf mich, weil ich mir nahezu seine gesamte Argumentation zu eigen gemacht habe; gewiss bin ich seiner Weltsicht eher gefolgt als meiner spätpubertären Weltschelte und habe nach bestem Wissen und Gewissen etwas getan – mein Bestes gegeben –, „was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wird gelingen können“. Im Scheitern jedenfalls bin ich ein Meister fast aller Klassen geworden.

Zu meiner düsteren Weltsicht passten die ersten Versuche, sich politisch zu positionieren und zu profilieren. Ich arbeitete in der Schüler-SV mit. Es bildete sich eine erste, sich marxistisch nennende und sich als solche verstehende Schülerzelle. Ein bekannter Schülertreffpunkt befand sich am Beginn der Jesuitenstraße, die schräg gegenüber des Jungeninternats zuerst als Gabelung, von der Hauptstraße südlich in Richtung Kreuzstraße führt. In der Gabelung befindet sich ein Heiligenhäuschen. Die vorgelagerten Stufen dienten vor allem im Sommer als Sitzgelegenheiten, die häufig von Schülern belagert wurden. Ende der sechziger Jahre lernten wir bei dem seinerzeit mit Abstand versiertesten Gitarristen der Stadt die ersten Riffs. Der Junge war Ulrich Schmücker, der am 5. Juni 1974 in Berlin ermordet wurde. Schmücker hatte sich der Vereinigung „2. Juni“ angeschlossen. Nachdem er mit führenden Mitgliedern 1972 in Bad Neuenahr verhaftet und nach einem Jahr entlassen wurde, ging er nach Berlin zurück und arbeitete – vom Verfassungsschutz angeworben – als V-Mann. Nach seiner Enttarnung wurde er Opfer eines Fememordes. Über die genauen Zusammenhänge und die Verstrickungen des Verfassungsschutzes herrscht nach wie vor Unklarheit.  Im längsten Prozess der Justizgeschichte der Bundesrepublik versuchte man die Ermordung Schmückers aufzuklären. Dies ist bis heute nicht abschließend gelungen, so dass wir es bis heute von einem peinlichen Justizskandal sprechen müssen.

Dies findet hier Erwähnung, weil der Weg in die siebziger Jahre – nach Koblenz und ins Studium – letztlich auch im Hinblick auf meine politische Sozialisation von einer Reihe von Irritationen begleitet war. Die Erschütterung über die Verirrungen Ulrich Schmückers und seinen Tod haben bis heute ihren Nachhall nicht verloren.

 Kindheit, Jugend und Studium - Der Zugang zu Bildung (12)

Mit dem Wintersemester 1974/75 begann ich mein Studium an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz. Hier sollte sich vollends erweisen, dass der Zugang zur Bildung und zum Studium ein unschätzbares Privileg bedeutete. Schon in den ersten Wochen lernte ich Thomas Gauglitz kennen. Er war deutlich jünger als ich (Jahrgang 1956). Zwischen uns stimmte von Beginn an die Chemie, und wir schlossen uns noch im November der GEW-Hochschulgruppe an, einer gewerkschaftlich organisierten Gruppe von Studierenden, die insbesondere die Interessen von LehrerInnen im Blick hatte, aber sehr grundsätzlich gepaart mit einem fortschrittlichen schul- und bildungspolitischen Anspruch, den wir zu einer gesellschaftspolitischen Perspektive erweiterten. Eine Reihe von Altsemestern nahm uns unter ihre Fittiche, dazu gehörten Achim Wichert, Waltraud Dietrich und Klaus-Dieter Mohrs. Mit dessen Vater sollte ich als Neu-Gülser zwanzig Jahre später einer gemeinsamen Sportgruppe angehören, während sein Sohn zuerst Sozialdezernent und später Oberbürgermeister von Wolfsburg wurde. Innerhalb von zwei Semestern gelang es uns die RCDS-Hochburg Koblenz zu schleifen, die Mehrheit im Studentenparlament zu erreichen und damit den Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) zu übernehmen. Unser Studienjahrgang hat von da an die studentischen Gremien dominiert und deren Politik in Koblenz geprägt. Hier ist ein breites Netzwerk entstanden, das bis heute Bestand hat.

Das Studium selbst bot mir durch entsprechende Schwerpunktsetzungen endlich die Gelegenheit meinen Interessen nachzugehen. Die gewählten Fächer für das Lehramt – Deutsch und Sozialkunde – sowie die Wahlpflichtfächer (Philosophie, Soziologie, Psychologie und Didaktik) erlaubten mir recht zügig Fuß zu fassen. Da ich theorieversessen war, hatte ich in den Seminaren relativ schnell einen bestimmten Ruf weg, der mir letztlich ja auch den Zugang zu dem bereits erwähnten DFG-Projekt unter der Leitung von Heino Kaack verschaffte. Ich möchte nicht eine Zeile verschenken, um hier sehr klar und unmissverständlich klarzustellen, dass ich – selbstredend Heino Kaack – meine akademische und damit letztlich auch meine berufliche Laufbahn verdanke; seiner Fürsprache, seinem Vertrauensvorschuss und seiner Art auch abweichenden wissenschaftlichen Optionen Raum zu geben; Optionen, denen sein Wissenschaftsverständnis seinerzeit aus meiner Sicht einer Verengung gleichkam. Heino Kaack hat es hingenommen und nicht – jedenfalls nicht öffentlich – insistiert gegen einen Abgrenzungsversuch meinerseits. Einmal mehr wollte ich deutlich machen, dass ich mein „substantielles Anliegen nicht im dürren Geäst eines empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses verdorren lassen“ wollte (im Vor-/Dankwort zur Drucklegung meiner Dissertation). Der moralische Zeigefinger reichte noch lange über die Schulzeit und über die Studienzeit hinaus in ein Leben, in dem eigentlich alles falsch war: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“ (Theodor W. Adorno) Eine linksliberal inspirierte Weltsicht bedeutete aus meiner Sicht, dass es – jenseits aller theologischen Winkelzüge – nicht um den Teufel ging, sondern um die Menschen selber, die unermessliche Schuldbürden auf sich geladen hatten:

Da war zunächst einmal die Kriegsgeneration, die gewissermaßen in Sippenhaftung genommen werden konnte, weil sie den Nationalsozialismus ermöglicht und getragen hatte. Da ich freigestellt war zur Lektüre, war es ein Leichtes und überaus verlockend, die linken Klassiker, ergänzt um den aktuellen Diskurs, zur Weltschelte zu nutzen. Die Deutungshoheit der Frankfurter Schule und das von uns unterstellte Legitimationsdefizit – nicht so sehr der politischen Ordnung –, sondern vielmehr der sie tragenden Akteure, verlieh uns mächtigen Wind in den Segeln. Peter Sloterdijk hat die Motive und die Platzhalter für unsere Generalkritik rückblickend überaus präzise auf den Punkt gebracht: Über aller Kritik schwebte die Frage, warum es eine inzwischen an die Macht gekommene menschliche Freiheitspraxis noch immer nicht zu einer hinlänglich guten Welt gebracht hatte. Ein entsprechender Freiheitsbegriff gipfelte in der Vorstellung die Verantwortung für befriedigende Weltverhältnisse übernehmen zu müssen. Und wo dies nicht gelang, waren zuallererst die Schuldigen auszumachen, um nicht nur den Erwartungshorizont, sondern auch die behinderungsrelevanten und zu beseitigenden Feindbilder vor Augen zu haben. In den siebziger Jahren waren das folgerichtig die bürgerliche Eigentumsordnung, die Klassenherrschaft, der Kapitalprozess und – in der Begrifflichkeit von Jürgen Habermas – die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Macht- und Geldsysteme. Vor allem die K-Gruppen, aber auch der SHB oder DKP-nahe Studentenorganisationen beanspruchten stellvertretend das Vorsprecheramt im Hinblick auf noch nicht ausreichend zur Selbstvertretung befreite Gruppen. Der Kampf um eine Verfasste Studentenschaft mit politischem Mandat übernahm in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Funktion eines klassischen Stellvertreterkrieges. Wir beanspruchten mit unseren demokratisch frei gewählten Vertretungskörperschaften auch Stellung zu allgemeinpolitischen Fragen beziehen zu dürfen. Das auf Bundesebene diskutierte und verabschiedete Hochschulrahmengesetz untersagte den Vertretungskörperschaften der Studierenden eine entsprechende Praxis unter Strafandrohung. Im Verlauf dieser, in bundesweite Streiks ausmündenden Auseinandersetzungen kam es schließlich an der EWH Koblenz zu einem Polizeieinsatz und zu einer Strafanzeige gegenüber einer Reihe studentischer Aktivisten durch die Hochschulleitung. Die Staatsanwaltschaft Koblenz verfolgte vorgebliche Verfehlungen und Straftaten und es kam zu einer Anklage vor dem Landgericht Koblenz. Die Anklage vertrat – neben angeblichen Straftatbeständen der Beleidigung und Nötigung – die Auffassung ein Teil der Aktivisten hätte sich des Haus- und Landfriedensbruchs schuldig gemacht. Das Verfahren wurde 1978 eröffnet und endete mit einem Freispruch der Beklagten. Gleichwohl hatte dies für jeden Einzelnen Konsequenzen. In den Personalakten waren entsprechende Vermerke, die in einer Reihe von Fällen das Placet des Innenministeriums zur Einstellung in den Landesdienst oder gar zur Verbeamtung erheblich erschwerten bzw. verzögerten.

 

Zur Welt kommen – zur Sprache kommen - Spurensuche III (13)

Geht es aber sehr viel grundlegender noch einmal darum den ursächlichen Einflüssen auf die Spur zu kommen, die mich in der Tat zur der Überzeugung brachten, es könne – im Sinne Adornos – kein richtiges Leben im falschen geben, so muss man in der Tat auf die von Dr. Bauer – dem Schulleiter während meiner Zeit auf dem Are-Gymnasium – geäußerten Zusammenhänge und die schlichte Feststellung zurückkommen, es sei das Vorrecht einer jeden jungen Generation, die Welt an einem selbstgesetzten Ideal zu messen, solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung sei. Da hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Meine Unduldsamkeit gegenüber Zuständen, die befriedigende Weltverhältnisse nicht einmal ansatzweise erkennen ließen, hatte ihre Wurzel zuerst einmal im privaten Raum, nämlich in meiner Familie: Meine Kindheit in der Kreuzstraße in Bad Neuenahr, am Ostende der Stadt, war eine gemeinsame mit meiner Cousine Gaby und meinem Bruder Wilfried. Meine Cousine lebt heute noch im umgebauten Elternhaus unserer Mütter. Das Elternhaus meines Vaters haben wir nach dem Tod meiner Mutter an die Tochter einer Freundin aus Kinderzeiten verkauft. Auch sie – die Freundin aus Kindertagen – lebt heute noch gemeinsam mit ihrem Mann in unmittelbarer Nachbarschaft, eng befreundet mit meiner Cousine.

In der Kindheit gehörte das Vater-Mutter-Kind-Spiel zu unserem alltäglichen Spielevorrat. Beide Elternhäuser verfügten über ein gemeinsames Garten-Areal. Wenn wir unter uns waren oder sein wollten, dann war dies unser bevorzugtes Terrain. Gaby kochte Petersiliensuppe, ich kurvte mit dem Rädchen durch den Garten, kam irgendwann von der Arbeit und Willi musste Gabys Suppe essen und unseren Anweisungen folgen. Im Rückblick erstaunt mich dieses Arrangement, weil Vater-Mutter-Kind schon damals – als wir im Alter von sechs bis zehn Jahren waren – aus ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Motiven zustande kam. Gaby kannte Vater-Mutter-Kind nur bruchstückhaft. Während Willi und ich tagtäglich erlebten, wie das funktionierte – Vater-Mutter-Kind(er) –, lebte Gaby mit ihrer Mutter alleine im Obergeschoss des Hauses unserer Großeltern. Der Vater – unser Onkel Fred – lebte in Köln und hatte dort eine neue Liebe gefunden. Darüber wussten wir allerdings nichts. Unser Onkel Fred war Handelsvertreter und reiste durch die ganze Republik, um Pflege- und Kosmetikprodukte der Firma Schwarzkopf zu vertreiben. Er konnte also nicht zu Hause sein, weil er ja unterwegs war und arbeiten musste. Aber er kam an den Wochenenden zu Besuch, manchmal auch an Wochentagen, um sich zeitig wieder auf den Weg zu machen, weil er ja arbeiten musste. Gaby freute sich immer auf ihren Papa, der ihr – wenn er da war – immer seine volle Aufmerksamkeit widmete. Die Tante – unsere Tante Annemie – war ein ruhiger und zurückhaltender Mensch. Sie war so ruhig und zurückhaltend, dass man eigentlich nie merkte, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war halt still, ihr Lachen ein Lächeln und sehr verhalten, immer mit einem kleinen Schuss Verlegenheit einhergehend. Für meinen Bruder und mich war dieses immer gleichbleibende, unaufgeregte gemeinsame Leben – Hausbacke an Hausbacke – vollkommen normal. Nie fiel uns irgendetwas auf, weil alles so war, wie es immer war. Unsere Cousine war ein aufgewecktes, lebenslustiges Kind, mit dem wir tagtäglich zusammen waren, weil vor allem die beiden Schwestern über ihre Eltern – man konnte fast meinen – einen gemeinsamen Hausstand pflegten. Alle Feste feierten wir gemeinsam, jeden Tag begegneten wir uns – vor allem im gemeinsamen Garten.

Gaby war ein Einzelkind, und als Einzelkind war sie auch verschlossen. Viel später – sehr viel später – hat sie uns erzählt, dass sie schon im Alter von etwa zehn Jahren im Wäscheschrank ihrer Mutter auf Dokumente gestoßen sei, die sie zwar nicht zur Gänze verstand, die ihr aber so viel Einblick in die merkwürdige Art des Familienlebens eröffneten, dass sie seither wusste, dass ihre Eltern geschieden waren. Sie hat das für sich behalten. Uns hat sie erklärt, dass sie diese Information fest und tief in sich verkapselt hat, mit niemandem darüber geredet hat, sich niemandem anvertraut hat, weil sie Angst hatte, dass dann vielleicht der immer herbeigesehnte Kontakt zu ihrem geliebten Papa hätte abbrechen können. Das Bild der Tante Annemie hat sich denn auch erst nach und nach als ein wirklich problematisches und in hohem Maß belastetes herausgestellt, als sich mir die Zusammenhänge aufdrängten zwischen der Art und Weise wie Gaby mit ihrer Mutter zusammenlebte und den zunehmenden – oder doch zumindest in meiner Wahrnehmung sich stärker ausprägenden – Stimmungsschwankungen meiner Tante; Stimmungsschwankungen, die einhergingen mit einer latenten und immer offener zutage tretenden Antriebsschwäche. Schließlich prägte sich ein Krankheitsbild aus, das ärztlicher Expertise bedurfte und das man seinerzeit mit dem Befund einer endogenen Depression klassifizierte. Lebt man Tag für Tag in einem engen Verbund – Mutter-Vater-Kinder in dem einen Haus, Großmutter-Großvater sowie Mutter-Kind im Nachbarhaus – ist der Blick für das Offensichtliche verstellt. Fürs Verstellen gibt es ein unschuldiges Nicht-Sehen-Können und ein schuldhaftes Nicht-Sehen-Wollen. Etwa im Alter von siebzehn Jahren begann ich die Welt zunehmend durch diese Brille zu sehen und zu bewerten; erste Gedichte entstanden und ich konfrontierte meine Mutter mit meinen Einsichten: Der Tante geht es schlecht, weil niemand ihre schiefe Stellung im Leben sehen will! Das Gestell, in dem sie sich bewegt, führt zu dauerhaften seelischen Verkrümmungen mit somatischen Kollateralschäden. Man kann nun exemplarisch zeigen, wie der Zugang zu Bildung – ich war inzwischen Oberstufenschüler – Voraussetzungen schafft, die sozialen Beziehungen in einem Familienverbund durch andere Brillen zu betrachten. Das führte dann auch zu ersten Konflikten. Wenn dieser Zugang einbricht wie ein Frühlingserwachen und diese Brillen die Wirklichkeit wie einen Abgrund erscheinen lassen, bleibt dies (auch) für den Beobachter nicht folgenlos:

Für die Erklärung meines Unbehagens gab es eine klassische Blaupause. Geliefert hat sie Sigmund Freud mit seiner Abhandlung über das Verhältnis von Kultur und Unbehagen, also Unlust und Leid. Die Quellen der Unlust und des Leids bekommen erstmals konkrete Begriffe und Gesichter. Dass wir alle nach Lustvermehrung streben, leuchtete mir unmittelbar ein. Genauso leuchtete mir ein, dass dies als grundsätzliches Prinzip nicht realisierbar sei; vor allem die Außenwelt erschien mir als die entscheidende Quelle von Unlust. Ich begriff für mich und die beobachteten Widersprüche den Widerstreit von Lustprinzip und Realitätsprinzip als Sesam-Öffne-Dich, das mich in die Lage versetzte die entsetzliche Wirklichkeit nicht nur zu sehen, sondern auch zu erklären. Als wichtigste Quelle des Unglücks erschien die Kultur bzw. die Art und Weise, wie sie die menschlichen Beziehungen in ein Zwangskorsett zwängte. Der Urkonflikt trat auf den Plan, indem ich mir die Idee zu eigenmachte, dass Triebbefriedigung permanent unterlaufen bzw. unterbunden würde und damit einen strukturellen Gegensatz zu individueller Freiheit in die Welt trage. Das ganz und gar Unerträgliche an dieser Konstellation beruhte auf der gleichzeitigen Annahme, dass es aber doch die Liebe sei, die uns von all dem heilen könne, ja müsse! Die Liebe als Urmotiv der Familie – zumindest der Familie, wie ich sie kannte. Die Liebe umschloss in meiner Vorstellung nicht nur Sexualität, zudem noch in einer vollkommen idealisierten Vorstellung, sondern alle Formen und Spielarten einer liebevollen Zuwendung – und dies zuvorderst in der Gestalt der Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern unter ganz besonderer Betonung der Mutter-Kind-Beziehung.

Nun hatte ich meine Theorie und geriet zunehmend in die Lage, die realen Verhältnisse daran zu messen!!! Was war los mit meiner Tante? Um meinen nachhaltigen Schock vorwegzunehmen – weil er sich in aller umfassenden Dramatik erst mit einer Zeitverzögerung von Jahrzehnten einstellte –, will ich hier etwas in den Raum stellen, was mir meine Cousine – jedenfalls in dieser Umfänglichkeit – erst nach ihren eigenen Lebenskrisen offenbarte. Dass sie es in ihrer gesamten Kindheit, in ihrer Jugend, in ihrem Erwachsenenleben, in der Zeit als sie ihre Mutter zum Sterben brachte, nicht ein einziges Mal erlebt habe, dass ihre Mutter – offen und offensiv – körperliche Nähe, Zärtlichkeit, Schmusen, die oxytocin-geschwängerte Atmosphäre eines vorbehaltlosen Kuschelns, Liebhabens erlaubt oder gesucht habe, macht mich – indem ich es hier aufschreibe – immer noch vollkommen fassungslos (meine Cousine hat dies u.a. niedergelegt in einem Brief an die kleine Gaby – entstanden durch Anregungen im Rahmen einer Therapie). Meine Cousine Gaby ist ein herzlicher, liebevoller Mensch, der seine Liebe in so vielen untauglichen wie tauglichen, für sie unzuträglichen wie zuträglichen Lebenssituationen verströmt (hat), dass sich für mich auch heute noch mehr Fragen als Antworten aufdrängen.

Klar war, dass man in einem eng geschnürten Korsett nicht zu sich selbst kommen kann, wenn die Kultur – die ungeschriebenen Gesetze – jemanden zwingen, sich zu verstellen – ein Leben lang. Unsere Großeltern, die Eltern meiner Mutter und meiner Tante, sind 1968 bzw. 1970 verstorben. Mir ist Jahrzehnte später glaubhaft vermittelt worden, dass unser Großvater bis zu seinem Tod nichts gewusst hat von einer Scheidung – diese Wahrheit hatten Mutter und Tochter tief in sich vergraben, auch verborgen vor der Enkelin bzw. der eigenen Tochter, die ihr eigenes Wissen, das sie zwischen Bettwäsche und Lavendel entdeckt hatte, ebenfalls tief in sich als Geheimnis aufbewahrte. Aber was bedeutet das? Kann man sich ein Leben in Einsamkeit und Lüge in diesem Ausmaß überhaupt nur annähernd vorstellen? Gaby, Willi und ich – wir spielten Vater-Mutter-Kind. Meine Tante spielte über Jahre mit Onkel Fred und Gaby Vater-Mutter-Kind. Es gibt viele Fotos, auf denen die kleine Familie zu sehen ist. Und es gibt unzählige Fotos, die Gaby mit ihrem Vater zeigen.

Unser Onkel Fred war in Bad Neuenahr eine Legende – eine Fußballlegende. Jeder kannte ihn, und fast alle bewunderten ihn. Dass dieser charmante Kölner Junge mit dem linken Bums in Bad Neuenahr schon Vater war, bevor er meine Tante Annemie heiratete, war einerseits so etwas wie ein offenes Geheimnis, andererseits aber auch viel weniger. Solche Tatbestände wurden nicht kommuniziert, darüber wurde nicht gesprochen – sie wurden so nachhaltig verschwiegen und verdrängt, dass selbst die unmittelbar Beteiligten der Amnesie anheimfielen. Immerhin hat sich der Sohn Onkel Freds – Gabys Halbbruder – seinem Vater an einem Rosenmontag in den 90er Jahren vorgestellt. Der Schock für Onkel Fred lag allein schon darin begründet, dass er plötzlich seinem Ebenbild gegenüberstand. Sag mir heute einer, wie das funktioniert hat?

Tatsache ist und bleibt, dass Fred Annemie heiratete. Annemie war eine schöne Frau – gleichzeitig ein Seelchen. Der richtige Mann an ihrer Seite hätte dieses Seelchen nicht nur als schöne Frau gesehen, er hätte all ihre Qualitäten, all ihre besonderen Seiten zum Blühen und Klingen gebracht. Aber dazu hätte er diese Frau aufrichtig lieben und sehen müssen – in der Haltung einer ganz und gar zweifelsfreien Höchstrelevanz. Aber unser Onkel Fred war nicht nur ein Frauenheld; er war offenkundig ein Mann, der eine selbstbewusste, tatkräftige Frau an seiner Seite benötigt hätte, jemand, der ihm Grenzen setzte; also das gerade Gegenteil von meiner Tante Annemie. Natürlich sehe ich heute im Konzert der Nachgeborenen ein großes Glück darin, dass aus dieser Verbindung die Cousine Gaby hervorgegangen ist; auch wenn ihr Leben von Anfang an nicht unter einem glücklichen Stern stand. Fred spielte das Spiel mit Netz und doppeltem Boden, bei dem man eine Frau – wie bei einem billigen Taschenspiertrick – einfach verschwinden lassen kann. Es war fast ein klassisches Doppelleben – aber eben nur fast. Fred hatte lange schon wieder eine Ehefrau in Köln; er war ja rechtmäßig geschieden. So kam er – der Vatermann – in unregelmäßigen Abständen zu Besuch, zu Ausflügen und Unternehmungen, und fuhr abends wieder in seine Arbeitswelt. Die Arbeitswelt war irgendwann nicht mehr die eines Handelsvertreters, sondern die eines kleinen Hoteliers in prominenter Lage, unmittelbar am Dom.

Das alles geht mich nicht wirklich etwas an. Die Anmaßung in den frühen siebziger Jahren war hingegen verständlich, weil mir diese Welt und die Menschen in ihr unverständlich blieben. Noch aus dem Bertelsmann-Lesering – da war ich allenfalls 16 – war mir ein Kompendium von Schriften des Philosophen Karl Jaspers zugekommen. Es liegt hier vor mir; es ist unter allen Büchern das in vielfacher Hinsicht besonderste! Zerlesen, mit Bleistift unterstrichene Passagen, da es noch keine Textmarker gab; es hat in allen existentiellen Krisen immer Botschaften parat gehabt, die mich nicht haben verzweifeln lassen. Um die Bedeutung meiner Tante für mein Weltverständnis aufzuschließen, gibt es – neben der freudschen Lektion – noch heute wesentliche Anstöße. Die wenigen Sätze Karl Jaspers‘ zum Alter entfalten heute erst ihre volle Wirkung. Ich bin inzwischen siebzig Jahre alt:

„Ein Rückblick auf das eigene Leben, zumal im Alter, bringt in eine zweideutige Verfassung. Es ist, als ob man etwas abschlösse, was noch im Gange ist… Das Bewusstsein bewegt, das Wesentliche noch nicht gesagt, das Entscheidende, das sich ankündigt, noch nicht gefunden zu haben. Daher wird ein (philosophierender) Rückblick zu einem besseren Ausgang des Plans für künftige Arbeit. Das Sicherweitern der Vernunft ist nicht eingeschlossen in den biologischen Lebenskreis. Man kann in die für das Alter paradoxe Stimmung geraten, der Blick öffne sich auf Grund der geistigen Erfahrungen in neue Weiten.“

In der – innerhalb der zusammengestellten Schriften – integrierten Kleinen Schule des philosophischen Denkens überschreibt Jaspers einen Abschnitt mit Anker in der Ewigkeit. Darunter finden sich in Kapitel XI und XII Ausführungen über Liebe und Tod. Beide Kapitel sind für mein Denken mit Blick auf diese existentiellen Ewigkeitsthemen richtungsweisend geblieben. In der Phase des Sturm und Drangs, die gleichbedeutend war mit einer zweiten Geburt, in der man zur Welt kommt, indem man zur Sprache kommt, nahmen sich meine eher verzweifelt anmutenden Versuche zu beschreiben, was mich innerhalb der großen Familie bedrängte, dilettantisch aus:

efliH oder: Land des Schweigens - Land des Lächelns (1970)

Eine Frau zerbricht,
ohne Kraft gebiert sie die Krankheit,
provoziert das Mißverständnis,
als das sie ihr Leben langsam begreift.
Leben in sich –
Mikrokosmos:
Fehlentwicklung der stofflosen Materie,
die ausbricht in schütterer krankhafter Anomalie.
Lächelnd begrüßt man (die) Ursachen,
mit denen,
als die man lebt,
als die man redet über Zerredbares,
als da sind Gärten und Krankheit;
die selbst sich entpuppt als Paradoxon!
In wem, worin sei efliH,
die Hilfe?
Gewiß in niemandem,
dessen Stimmbänder
programmiert
zerreden die Wirklichkeit!

Soweit ich mich erinnere, ist dieser erste Versuch etwas mir Unheimliches zur Sprache zu bringen, das einzige Gedicht, das meine Mutter je von mir gelesen hat. Ich habe sie damit konfrontiert und habe gefragt, was los sei mit der Tante? Aber ich habe nicht nur gefragt – ich habe gleichzeitig angeklagt: Ihr könnt doch nicht alle einfach zusehen, wie die Tante zugrunde geht!

Die philosophischen Erörterungen zu einer Vorstellung von Liebe, wie sie Karl Jaspers entfaltet, haben mich 2007 wieder eingeholt. Sehr viel weiter unten wird seine Patenschaft aufleben und dann einen reifen – zumindest gereiften – Wanderer zwischen den Welten antreffen. Anfang der siebziger Jahre traf die Jasper‘sche Lektion mit der Freud‘schen zusammen. Mit einem Paukenschlag erhellte sich mir die missliche Lage meiner Tante: Primeln reagieren unmittelbar auf Liebes-, pardon, auf Wasserentzug; sie lassen buchstäblich die Köpfe hängen und zeigen ihre prekäre Mangelsituation an. Mir kam es so vor, dass meine Tante den Kopf dauerhaft hängen ließ, weil alle lebenserhaltenden Versorgungsleistungen auf ein Minimum abgesenkt waren. Die vitalisierenden Austauschbeziehungen zu den Nächsten waren so sehr geschrumpft, dass auf Augenhöhe ebenso wie nach oben, wo Eltern immerhin sich noch sorgten – wie nach unten, wo jemand gleichermaßen mit seinen Würzelchen in der Luft hing und nach Zuwendung lechzte, ein stetiger Mangel das Leben prägte. Meine Tante trottete Jahr um Jahr, wie der Esel dem Wagen – mit dem frischen Grün vor Augen – hinterher, ohne die geringste Chance, sich daran auch nur einmal laben zu dürfen. Das Opfer, das sie zum Wohlergehen ihrer Tochter brachte, ließ sich offenkundig nicht erweitern zu einer aktiven, liebevollen Zugewandtheit der eigenen Tochter gegenüber. Wenn ich versuche Freud‘sche Begriffe wie Lustvermehrung (im Sinne eines Lustprinzips) im Zusammenhang mit meiner Tante zu denken, drängen sich unmittelbar die Begriffe von Unlust und Leid in den Vordergrund. Meine Tante kam mir – bis auf wenige Jahre der Ausnahme – vor, wie das Ebenbild einer mater dolorosa, einer Schmerzensmutter, in deren Entbehrenserfahrung eigener Lust sich die emotionale Spärlichkeit der eigenen Tochter gegenüber spiegelte. Lust meint hier – vielleicht – am wenigsten sexuelle Lust –, sondern vielmehr das Bedürfnis nach Anerkennung, noch elementarer das Bedürfnis danach, überhaut zuerst einmal gesehen zu werden. Schwer verständlich bleibt die Zurückhaltung auch da, wo sich ein Gegenüber anbot, wo der männliche Blick mit Avancen einherging, und schlicht ein Interesse ihr gegenüber ganz einfach als Frau signalisierte. Die Kränkungserfahrungen müssen galaktischen Ausmaßes gewesen sein, und die daraus resultierenden Ängste vor Enttäuschung so grabentief, dass man kaum von einer Freiheit der Wahl reden mag. Im Brief meiner Cousine an die kleine Gaby erhält diese Annahme weitere Nahrung durch den Hinweis, dass die beiden Schwestern – meine Mutter und meine Tante – 1955 wieder etwa zur gleichen Zeit schwanger gewesen sein müssen. Während im November 1955 mein Bruder Wilfried geboren wurde, stellte sich für meine Tante – bei aller Last und aller Not – auch noch das Mega-Trauma einer Totgeburt ein; Gaby hätte eine Schwester gehabt, so wie ich einen Bruder hatte. Im Rückblick baut sich das Bild einer riesigen Glocke auf, unter der die Tante wohl nie einen anderen Klang gehört hat als den, dass im Leben alles schief läuft, was schief laufen kann. Sie hatte für sich Murphys Gesetz als lebensbegleitenden basso continuo angenommen.

Wut, Enttäuschung, Entrüstung sind gewiss umso ausgeprägter, je machtloser man vor einer Situation bzw. einem Zustand verharren muss. Meiner Mutter gegenüber war ich ungerecht und selbstgerecht gleichermaßen; meinen Vater sah ich in der Angelegenheit gar nicht erst in der Verantwortung. Die Keimzelle des Unbehagens in der Kultur lag zweifellos in der mütterlichen Linie begründet – in einem Lügengespinst, das die einen schützen sollte und die anderen nicht schützen konnte. Die Oma – die moralische Instanz der Familie – war wider Willen Mitwisserin des Ehedesasters; auch der juristischen Konsequenz einer Scheidung im erzkatholischen Mief der Voreifler. Sie schützte ihren jähzornigen Ehemann (vermutlich vor sich selbst); keiner hätte dafür garantieren wollen, dass der dem Stenz aus Kölle nicht ans Fell gehen würde. Die kleine Gaby, die der umfänglichsten und wirksamsten Schutzbastion bedurft hätte, konnte niemand schützen; sie sorgte für sich selbst durch Wohlgefallen und Willfährigkeit; ihre oberste Zielsetzung bestand im unbedingten Erhalt des Kontakts zum geliebten Papa – um jeden Preis.

Zur Welt war – neben Franz Josef und Wilfried, in einem anderen Leben – ja schon Ursula gekommen. Aber zur Welt kommen bedeutete bei uns nicht quasiautomatisch auch zur Sprache zu kommen. Zur Sprache kam eben nichts, außer Alltäglichem, Beiläufigem und Nebensächlichem. Über allem, was das Leben und seine Dynamik in der Familie ausmachte, herrschte tiefes Schweigen. Nein, das trifft es nicht in angemessener Weise. Das Tabu, das ein Schweigegebot hätte auslösen können, wirkte ja selbst im Verborgenen. Das teuflische an einer solch verzwickten Gemengelage liegt ja gerade darin, dass sich niemand auskennt, niemand etwas Genaues nicht weiß und – wenn überhaupt – nur im Trüben fischt. So kam es, dass sich über Jahre und Jahrzehnte die Fragen selbst rarmachten und begannen ein Versteck-Spiel zu treiben. So muss es nicht verwundern, dass uns das Fragenstellen selbst abhandenkam. Tief im Verborgenen kontrollierte die Scham das Miteinander. Wir alle lebten miteinander in einem wohlbegründeten Modus der Dankbarkeit. Dies verhalf dem Tabu zu einem komfortablen Dasein; einmal ganz davon abgesehen, dass das Leben ja nach vorne treibt und gelebt sein will – mit Kind und Kegel, mit so vielen Träumen, Hoffnungen und Erwartungen. So lebten wir alle – nun ja, Adorno würde sagen – unser richtiges Leben im falschen. Da tut es doch gut und lenkt die Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung, wenn man einfach mal gut 1000 Kilometer südostwärts schaut – in die Nähe von Wien, nach St. Pölten oder nach Mistelbach:

Dort kam es in den frühen 60er Jahren in einer Familie zu einem nachhaltigen, heftigen Streit, weil jemand sich traute an einem Tabu zu rütteln. Franz Streit war nicht heimgekehrt. Ein paar spärliche Informationen gab es ja schon weiter unten zu lesen. Er hinterließ Frau und zwei Kinder, die im ehrfürchtigen Respekt vor ihrem Vater von der Mutter erzogen wurden. Dass Franz nicht nur Vater von zwei Söhnen war, sondern dass er im Rheinland eine Blutsspur hinterlassen hatte, so dass ihm dort genau zwischen den beiden Söhnen eine Tochter geboren wurde, hatte er bei seinem letzten Besuch in der Heimat der Mutter anvertraut. Die Mutter ihrerseits hatte sich irgendwann ihrer Tochter – der Julie – anvertraut, weil sie mit dieser Gewissenlast nicht alleine leben konnte. Wie sein Vater, war Werner Panzersoldat geworden und hatte während des Mauerbaus in stetiger Alarmbereitschaft eine ferne Ahnung davon bekommen, was dies wohl im Ernstfall bedeuten könnte (dass Werner Soldat in der Bundeswehr sein konnte, war eine Folge seiner Entscheidung – im Gegensatz zu seinem Bruder Gert – die deutsche der österreichischen Staatsangehörigkeit vorzuziehen. Gerda Streit, die Mutter, stammte aus Duisburg und war Deutsche). Bei einem seiner Besuche in Österreich nahm in sein Bruder bei der Ankunft beiseite und bereitete ihn auf dicke Luft vor. Etwas Ungeheuerliches war geschehen: In einem Streit zwischen der Gerda, ihrer Mutter, und der Julie, ihrer Tante und somit Schwägerin der Mutter (von der gesagt wurde, sie sei die Lieblingsschwester von Franz gewesen), hatte die Julie der Gerda in ihrer Wut – vielleicht auch in wohlüberlegtem Kalkül? – an den Kopf geworfen, sie solle doch endlich mal den Franz vom Altar holen. Diese Heldenverehrung sei ja nicht auszuhalten, wo doch jeder wisse, dass der Franz noch eine Tochter in Deutschland habe. Die Entrüstung und der Schock saßen gleichermaßen tief und lösten die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Fest steht nur, dass die beiden Söhne Franz Streits von da an nie mehr der Gedanke losgelassen hat, diese Schwester zu finden – ihre Suche war ziel- und erfolglos, so ganz anders als die Bemühungen ihrer Schwester.

Ein kleiner Abschnitt – einfach so eingefügt in den Gedankenfluss – verändert das Bild einer heilen Familie, gar einer Familienidylle nachhaltig. Die Kreuzstraße 113 war ein ehrenwertes und vor allem ein offenes Haus. Es wäre ein lohnendes Unterfangen die Geschichte dieses Hauses und seiner vielen Bewohner zu erzählen.

 

Ein ehrenwertes Haus I (14)

In der Kreuzstraße 113 wohnten seit den frühen fünfziger Jahren Theo, Hilde mit Franz Josef und ab 1955 auch mit Wilfried. Theos Eltern waren 1948 – die Mutter – und 1951 – der Vater – verstorben. Theos Schwester, Agnes, bewohnte zu Beginn der fünfziger Jahre noch das Erdgeschoss, während die kleine Familie im ersten Obergeschoss Quartier genommen hatte. Im Dachgeschoss wohnte die Familie Siepen, der Vater Alkoholiker – im Übrigen der erste, von dem ich hörte, dass er in Ermangelung von Nachschub auch schon einmal Kölnisch Wasser getrunken haben soll. Die beiden Söhne Hermann und Toni erlernten ein Handwerk (Dachdecker und Anstreicher) und waren nebenher passionierte Fischer; die Ahr floss etwa 150 Meter – jenseits des Fußballplatzes –, und lieferte damals noch vom Aal bis zur Forelle einen ergiebigen Fischfang. 1959 wurde der Altbau saniert und umgebaut; eine Zentralheizung, fließend Kalt- und Warmwasser wurden installiert. Durch den Einbau einer Toilette und eines Bades mit Toilette ging die elende Zeit des Plumpsklos über den Hof endlich zu Ende. Heute muss ich mir deutlich vor Augen führen, dass die Eltern, die zwar durch die Angestelltentätigkeit des Vaters als Croupier im Spielcasino über ein regelmäßiges und durchaus ansehnliches monatliches Budget verfügten, drei der im Haus befindlichen Zimmer vermieteten, um ein Zubrot zu erwirtschaften. Im ausgebauten Dachgeschoss entstanden zwei Dachgauben; im ersten Obergeschoss wurde eines der Zimmer abgetrennt und gleichermaßen vermietet. Einige Jahre lebte ein Arbeitskollege des Vaters gemeinsam mit seiner Frau in diesem Zimmer. Im Dachgeschoss gab es wechselnde Mieter.

Die folgen- und segenreichste Vermietung ergab sich 1959 durch den Mietvertrag mit einem Zivilangestellten der Bundeswehr, die in Bad Neuenahr einige Dienststellen unterhielt: Bert Skala war technischer Zeichner (Bauzeichner). Er kam aus Nördlingen, wo er mit Frau und Schwiegermutter nach der Vertreibung aus dem Sudetenland (Karlsbad) eine neue Heimat gefunden hatte. Bis zum Tode meines Vaters und darüber hinaus bis zum Tode von Bert und Traudel entstand eine lebenslange Freundschaft der besonderen Art. Für mich persönlich ganz entscheidend waren die mehrwöchigen Besuche Traudels in größeren Abständen. Nach meiner Einschulung nahm sie sich meiner immer wieder an und half mir mit ihrer unendlichen Geduld einen Weg ins Buchstabenchaos zu finden. Gegenüber ihrer so ganz anderen, wohltuend unaufgeregten Art fasste das Muttersöhnchen tiefes Vertrauen zu diesen beiden fremden Menschen, die auf so ungewöhnliche Weise das Bild eines skurrilen, liebenswerten Paares verkörperten; er groß gewachsen, fast ein Hüne und dennoch rundlich. Sein Gesicht verströmte grundsätzlich gute Laune, verschmitzt, dominiert von aufsteigenden Linien mit einem eigenwilligen überaus gepflegten Oberlippenbärtchen – und außergewöhnlich lebendigen, kleinen Schweinsäuglein; sie klein und rundlich, weich, mollig in allen Körperregionen und immer in der Lage, gleichermaßen Freundlichkeit und Gleichmut zu verströmen. Allein schon die liebevolle wechselseitige Anrede mit Burli und Weibi vermittelten eine so ganz und gar andere idiolektalische Herkunft und einen über alle Maßen wertschätzenden Umgang miteinander. Um es vorwegzunehmen: Der Suizid Berts – etwa ein Jahr nach dem Tod Traudels – offenbarte die umfängliche Bedeutung jener soziologischen Definition einer intensiven Paarbezogenheit, die Peter Fuchs eingefallen ist: Bert und Traudel verkörperten für mich in Totalität die Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz auf eindrückliche Weise. Und doch gibt es da eine Nuance, die gleichermaßen irritiert und beeindruckt. Sie liefert wiederum George Steiner wohl ein gewaltiges Argument für seine Annahme, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt: Und es waren bei Bert und Traudel offenkundig  „Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs; jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse“und vor allem – „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist“.

Meine Mutter hat mir erzählt – so innig und vertrauensvoll war wohl die freundschaftliche Bindung zwischen ihr und Traudel –, dass die beiden nie in ihrem Leben eine sexuelle Beziehung miteinander gelebt haben. Traudel sei in den Kriegswirren der letzten Wochen in Karlsbad gemeinsam mit ihrer Mutter in die Hände russischer und tschechischer Soldaten geraten, mehrfach vergewaltigt worden und seither fernab jeglicher Form sexuellen Empfindens gewesen. Frappierend für mich war dabei, dass dieses Paar – Traudel und Bert – auf so ungewöhnliche Weise einen liebevollen Umgang miteinander pflegte, so dass es für mich in meiner Erinnerung – wenn dies je für ein Paar Sinn gemacht haben sollte – die vollkommene Symbiose, die komplementäre Ergänzung platonischer Hälftigkeit verkörperte. Ungewöhnlich für mich und eher kaum zu glauben, dass ich bereit war – als 13jähriger – eine Woche, 400 Kilometer von zu Hause, eine ganze Woche zu verbringen; die Korda-Oma und Traudl, und natürlich auch Bert, haben mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Szegediner Goulasch, jede Form von Strudel, alle erdenklichen Variationen von Mehlspeisen, gefüllte Paprika und vieles mehr erweiterten meinen kulinarischen Horizont. Meine Schwester mochte vor allem Bert und verbrachte als Jugendliche Ferienzeiten in Nördlingen und Siegsdorf – die Äußere Einfahrt 28 wird mir immer als Willkommensadresse in guter Erinnerung bleiben.

Das ehrenwerte Haus als offenes Haus sorgte durch die Beherbergung so unterschiedlicher Menschen, die vor allem auch unterschiedlichster landsmannschaftlicher Herkunft waren für so etwas – man könnte sagen – wie frühe kulturelle Vielfalt. Bendixens waren Nordlichter – aus Hamburg oder Schleswig-Holstein, Fräulein Butzke ist mir in Erinnerung geblieben vor allem als extravagante Erscheinung mit Turmfrisur – ein eher dunkler Typus; Elke Bendix hingegen war blond und eine gleichermaßen aparte Erscheinung. Dafür hatte ich allerdings noch nicht wirklich einen Blick und auch noch kein ausgeprägtes Interesse. Major Seidenschnur war in Uniform eine imposante Erscheinung; ihn umgab eine würdevolle Aura. Meine Schwester legte für ihn jene typische Teenager-Schwärmerei an den Tag – ähnlich wie bei ihrem hochverehrten und heißgeliebten Onkel Fred.

 

 Ein ehrenwertes Haus II - Die vierte Generation (15)

Im Dachgeschoss der Kreuzstraße 113 gab es gartenseitig eine kleine Kammer, die auch gaubenartig ausgebaut wurde. Nach der Heirat meiner Schwester mit meinem Schwager Ernst wurde diese Kammer zum ersten eigenen, abgeschlossenen Rückzugsort der jungen Eheleute. Michael, der im Januar 1962 geboren werden sollte, war ja ein typisches sogenanntes Sechsmonatskind. Dieses Schicksal teilte er mit vielen seiner GenerationsgenossInnen – nichts besonderes! Diese Sprachregelung diente selbstredend nur der Verschleierung der Tatsache, dass meine Schwester bereits in Umständen war, als die beiden heirateten – standesamtlich und kirchlich an einem Tag im Sommer 1961. Am Tag der Hochzeit – nach einem gemeinsamen Kaffee in der Familie – traten die beiden ihre Hochzeitsreise an! Wohin wohl? Nach Flammersfeld – back to the roots – an den Geburtsort meiner Schwester. Sie fuhren mit Ernstens Isetta die gleiche Strecke, die Ullas Mutter im Frühsommer 1942 – zwanzig Jahre zuvor – gefahren war, um sich in Flammersfeld in die Obhut des NSV-geführten Entbindungsheims zu begeben.

So bekam das ehrenwerte Haus alles zu sehen, was in Klein-Frankreich – so wie allerorten – zu einem ganz normalen Leben dazu gehört. In der Sippe und in der Wohngemeinschaft im Umfeld der beiden Nachbarhäuser – Backe an Backe – gab es den Alkoholiker, den notorischen Fremdgeher, Sechsmonatskinder, kinderlos gebliebene Liebende platonischen Zuschnitts, damals schon versingelte Einzelgänger. Vor allem gab es aber ein Geheimnis, dass alle anderen gewöhnlichen Vorkommnisse noch ein wenig an Tragweite in den Schatten stellte. Meine Schwester hat mir erzählt, dass es immer wieder Ereignisse gab, die ihr zumindest ungewöhnlich erschienen – jenseits des allzu alltäglichen Gewöhnlichen. Dazu gehörten auch die Hänseleien, dass ihr Vater ja gar nicht ihr richtiger Papa wäre.

Gewiss spielte dies ganz sicher keine Rolle vom 14. Januar 1962 an; das ist der Geburtstag meines Neffen. Knapp zwanzig Jahre nach der zufälligen Geburt seiner Mutter, erblickt ein strammer Junge das Licht der Welt. Alle kommen zusammen, um das Kindlein anzuschauen und fortan wohlwollend zu begleiten – ein besonderes Kindlein? An dieser auch nicht ganz selbstverständlichen Geburt und dem, was sich anschließt, lässt sich mit einem Abstand von fast sechzig Jahren so außerordentlich Ungewöhnliches, vielleicht Besonderes zeigen: Die Mutter ist jung – ein Backfisch typischen Zuschnitts für die ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre. Ihr wird ein wildes, ungestümes, teils widerborstiges Wesen nachgesagt. Immerhin hat sie es zu einem Aufenthalt in einer Haushaltsschule klassischen, ultrakonservativen Zuschnitts gebracht. Nach dem Abschluss der Volksschule kam man auf die Idee, das Einschleifen von Zucht und Ordnung sowie die Grundfertigkeiten zu einer rollenbewussten Haushaltsführung in fremde Hände zu geben. Bensberg war aber nur eine kurze Episode mit einem fluchtartigen Ende. Die anschließende Lehre in der Weinbrennerei Both in Ahrweiler machte sie dann zur Grenzgängerin zwischen Bad Neuenahr und Ahrweiler. In den beginnenden sechziger Jahren heiratete man eigentlich nicht über die Stadtgrenzen hinweg; die Rivalität zwischen den seinerzeit kommunalpolitisch noch unverbundenen Städtchen war legendär.

Sieht man sich frühe Fotos von Michaels Eltern an, so mag man meine Schwester schon auch verstehen können. Der Schwager verkörperte auf einer Skala von 0 bis 100 das Männerbild der ausgehenden fünfziger Jahre ganz sicher mit einem Extremwert – athletischer Körperbau, ausgeprägte männliche Gesichtszüge, starker Bartwuchs. Entscheidender war aber wohl die Männlichkeitsattitüde. Meine zum Auftakt erzählte Einbrecher-Geschichte hatte – wie angedeutet – ganz sicher auch eine endokrine Dimension. Der sogenannte chemotionale overkill war zweifellos ein vernunftminderndes Antriebsmoment. Ganz gewiss war es aber nicht eine strukturelle Variable im Sinne einer auf Permanenz gebürsteten, testosterongesteuerten Männlichkeitsfalle. Das war bei meinem Schwager anders. Willi, mein jüngerer Bruder und ich bewunderten diesen jungen, kraftstrotzenden Mann, der eine andere Weltsicht und eine andere energetische Präsenz in unsere Familie brachte. Und er gehörte ja dann – nolens volens – ruck-zuck dazu. Unser Mittagstisch wurde erweitert. An den Wochenenden allemal saßen wir nun zu sechst am Küchentisch in der Kreuzstraße 113. Auch hier eine Vorwegnahme kleineren Zuschnitts: Wenn Claudia und ich auch heute noch regelmäßigen Kontakt zu meine Ex-Schwager pflegen, dann beruht dies auf einer fortgesetzten Loyalitätshaltung gegenüber seiner verlustig gegangenen Schwiegerfamilie, die mir bemerkenswert vorkommt. Hier war die Integrationsfigur unsere Mutter. Ganz gewiss kann man von einer respektvollen, dankbaren Haltung gegenüber Ullas Mutter sprechen. Und dies bedeutet nicht im Geringsten eine auch nur halbwegs sichtbare Differenz gegenüber unserem Vater. Ernst betont bis heute, dass er in der Kreuzstraße 113 zum allerersten Mal Familie in einer umfassenden, für ihn ungewohnten Form erlebt habe. Diese Haltung hat die gescheiterte Ehe überdauert. Die Differenz, die sich aufbaut im Zuge einer männlichen Identitätssuche sowohl zu seinem Sohn als auch zu mir, berührt einen lebensbegleitenden Grundkonflikt, an dem wir auf unterschiedliche Weise die Erosion eines klassischen männlichen Selbstbildes nachvollziehen werden.

Der Schoß der Familie war ein weicher und tiefgründiger für meinen Neffen Michael. Meine Cousine Gaby konnte es kaum erwarten, ihn endlich in Augenschein und auch in den Arm zu nehmen, nachdem sie sein Zur-Welt-Kommen verpasst hatte. In ihren Erinnerungen an einen traumatischen, sechswöchigen Erholungsaufenthalt an der Nordsee (Wyk auf Föhr) deutet sie an, dass sie an jedem noch verbleibendem Tag die Stunden und die Minuten zählte, bis sie endlich nach Hause durfte. Natürlich weiß ich das alles, weil ich inzwischen schon so unendlich alt bin. Das Ei, aus dem ich gekrochen bin, lag ja in genau so einem Nest, wo man als Säugling und als Kleinkind alles bekommt, auch wenn nichts da ist. Michaels Ankunft erfreute eine Uroma, einen Uropa, eine Oma, eine Großtante, zwei Onkel und eine Großcousine. Da konnten die Eltern getrost ihrer Arbeit nachgehen. Für alles war gesorgt. Vergessen habe ich jetzt den Opa. Allein am liebevollen und ehrenden Andenken, das ihm sein Enkel bewahrt, lässt sich ermessen, in welch sicherem Hafen sich das Schiffchen des Heranwachsenden bewegte. Ein zweites Mal zeigte sich, dass dieser Theo Witsch nicht ganz von dieser Welt war.

Mein Freund Hans, der sich einige Jahre in häuslicher Gemeinschaft mit dem Sohn seiner Lebensabschnittsgefährtin arrangieren musste, hat mehrfach betont, dass er – wäre er ein Löwe – die missratene Brut (seine Worte) längst totgebissen bzw. weggebissen hätte. Entspannung kehrte in der Tat erst wieder ein, als der Sohn sich entschloss, sich fortan in väterliche Obhut zu begeben. Die kleine Randbemerkung zeigt, dass eine erkennbar vollständige Akzeptanz blutsmäßig artfremder Familienmitglieder (aus der Sicht des Vaters bzw. Großvaters) – zumal noch in der Ausprägung einer liebevollen Zuwendung – alles andere als selbstverständlich ist.

Es ist in der Tat hier nicht die Rede von einer oft beobachteten blinden Loyalitätshaltung der Kinder und Enkel ihren Eltern/Großeltern – insbesondere dem blutsmäßig nicht verwandten Stiefvater/Stiefgroßvater gegenüber; das ganze Gegenteil ist der Fall: Zeit seines Lebens – je älter er wurde, umso intensiver – praktizierte Theo Witsch eine rückhaltlose Loyalität seiner Stieftochter und seinem Stiefenkel gegenüber.

Was Michael für seine Großmutter bedeutet haben mag, beschäftigt mich bis zum heutigen Tag. Da kam ein Wesen zur Welt, das in unmittelbarer Blutslinie zu Franz Streit stand – ein durchaus besonderes Menschenwesen. Ohne Franz Streit keine Ursula – ohne Ursula kein Michael. Wir schauen heute unsere Enkelkinder an und rätseln, welche Linie sich hier wohl zeigt. Ich folge auch hier George Steiner, der andeutet, dass das Universum, das sich in einem Menschen heranbildet und verkörpert, mit dem Libidinösen gleichzusetzen… es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Präferenzen zu erklären, einer fast verächtlichen Reduktion gleichkommt. Und auch wenn ich ihm folgen möchte in der Annahme, dass alle Zweifel an genetischer Vaterschaft, sofern sie zu den schmerzhaften Verrücktheiten der Eifersucht führen mögen, aus einer sozialen Perspektive kontraproduktiv sind, so gehören sie doch zweifelsfrei zu unseren alltäglichen banalen Erfahrungen. Das Schuldenkonto Hildes – der Mutter, Großmutter und Ehefrau – mag auf diese Weise nochmals angewachsen sein; zumal angesichts eines Ehemannes, Stiefvaters und Stiefgroßvaters, der dem sozialen Imperativ folgte und keinerlei Tötungsphantasien an den Tag legte. Es mag ihm keiner Überlegung wert gewesen sein. Er hatte eine (Stief-)Tochter, der er zu keinem Zeitpunkt stiefväterlich begegnete. Dies übertrug er nahtlos auf den Enkel Franz Streits. Die Zuspitzungen, die ich hier bewusst auch in einer nüchternen sprachlichen Logik erzeuge, indem ich zwischen sozialer und genetischer Großvaterschaft switche, sollten uns zumindest dazu ermuntern, beide Aspekte gleichermaßen in Augenschein zu nehmen. Und im Sinne Christiane Hoffmanns möchte ich noch einmal in den Raum stellen, wie toxisch alles wirkt, was wir nicht erinnern - mehr noch: was wir nicht erinnern wollen.

Wir sind also in einem ehrenwerten Haus aufgewachsen, das in der Folge – hinein in die wilde Zeit der Endsechziger und der frühen siebziger Jahre – all die Qualitäten offenbarte, die man im besten Sinne mit der Vorstellung von einem offenen Haus verbindet. Hier war jeder willkommen, hier hatte jeder Zugang, hier wurde niemand abgewiesen oder ausgeschlossen. An den Samstagen fanden sich am Mittagstisch häufig Gäste, die Willi oder ich mitbrachten – Schulkameraden, Freunde, später selbstverständlich die Freundinnen der Söhne. Dieses lebendige, offene Haus ließ uns alle Möglichkeiten; Rudi Krawitz würde sagen: „Wir mussten nichts – und durften alles.“ Dies funktionierte sicherlich auch deshalb so reibungslos, weil die private und die öffentliche Dimension der Familie über viele Jahre aufging im Engagement für den Fußballverein, dessen sinngebende und sozialisationsmächtige Bedeutung wir bereits alle mit der Muttermilch in uns aufgenommen hatten. Bis zum letzten Tag seines Lebens hat mein Vater – wie so viele andere seiner Generation – das Seelenschmalz und das Gelenkschmiere für ein reges, vielfältiges Vereinsleben verkörpert. Mir ist heute wichtig zu wissen, dass mein Vater den Niedergang seines innig geliebten SC 07 Bad Neuenahr nicht mehr miterleben musste; mit der sinngebenden Bedeutung des Vereinslebens ist hier ein essentielles Identitätsmoment gemeint, dessen Verlust für unsere Väter ein krisenträchtige Enttäuschung bedeutet hätte. Kurzum, die Spielsaison, die vereinsmäßig organisierten Feste und Unternehmungen hatten im Jahreskreis ihren festen Platz im Sinne vollkommener Alternativlosigkeit. Zwei Beispiele veranschaulichen diese Behauptung auf eindrucksvolle Weise. Kirmes – im Oktober – wäre ohne das Festzelt des SC 07 eine schale Angelegenheit geblieben, genauso wie die vereinsgestützten Anstrengungen zur Fastnacht. Hier ist mein Bruder in die Fußstapfen unseres Vaters getreten – 25 Jahre lang haben die Sportkameraden um meinen Bruder herum ein Wilfried-Witsch-Gedächtnisturnier organisiert, um seiner zu gedenken.

Das ehrenwerte Haus hat sich gewandelt im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Die enge Welt in Klein-Frankreich hat Freigeister hervorgebracht. Es ist eine untergegangene Welt, die heute nur noch in der Erinnerung lebt - deshalb ist es so wichtig zu erinnern! Eine erste folgenreiche Zäsur ist sicherlich mit dem Tod unseres Vaters verbunden. Die allerdings wäre noch im generativen Wechselspiel zu verkraften gewesen, wäre ihm nicht 1994 mein Bruder gefolgt. Die zentrifugalen Kräfte gewannen an Einfluss und ihre Dynamik war weder in ihren ursächlichen Zusammenhängen erkennbar noch beherrschbar.

 

 Ein ehrenwertes Haus III - Erosion und Verfallserscheinungen (16)

Um einen Laden zusammenzuhalten, braucht es viele Arme und einen langen Atem. Eine Zentrifuge übt auf diejenigen, die ihr ausgesetzt sind, die unterschiedlichsten Wirkungen aus. Während die einen sich anklammern und den Fliehkräften trotzen, nutzen sie andere einem Katapult gleich, um Abstand zu gewinnen. Mitte der sechziger Jahre war es meinem Schwager gelungen, als städtischer Angestellter die Leitung des Ahrweiler Freibades zu übernehmen. Dazu gehörte eine Dienstwohnung innerhalb des Schwimmbadgeländes. Michael war Ende der sechziger Jahre der zweite aus unserer Familie, der ein Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur entschloss er sich entgegen seiner Neigungen – die hätten ihn vermutlich zu einem (Lehramts-)Studium der Fächer Germanistik und Geschichte veranlasst – zu einem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Er wohnte anfangs noch zu Hause. Unterschiedliche Lebensauffassungen belasteten zunehmend das Verhältnis zu seinen Eltern. Mein Schwager und meine Schwester beantworteten dies mit einer eher autoritären Haltung; sie weigerten sich vor allem, ihn dabei zu unterstützen, seine Wohnung an seinen Studienort nach Bonn zu verlegen. Willi, Gaby und ich entschlossen uns ihn mit vereinten Kräften finanziell zu unterstützen, so dass er – gegen den Willen seiner Eltern – gemeinsam mit seiner damaligen Freundin nach Bonn zog. Sehr viel später ist zumindest mir bewusst geworden, dass diese Intervention einer ziemlich verqueren Form eines Kontenausgleichs gleichkam. Die Idee des Kontenausgleichs bekam nach dem viel zu frühen Tod meines Vaters zusätzliche Nahrung. Die Konflikte zwischen meiner Schwester und der Mutter wurden schärfer; anfänglich noch durch den Einfluss meines Schwagers abgemildert. Er vertrat die konsequente Haltung, dass das Rühren an der Vergangenheit nichts als ein demonstrativer Akt der Undankbarkeit darstelle. Die beiden entfernten sich zunehmend voneinander bis zum offenen Bruch 1992 und der anschließenden Scheidung. Die Männer verschwanden aus unserer Familie – zuerst mein Vater, dann mein Schwager und schließlich mein Bruder. Michael hatte den Absprung nach Bonn geschafft und vermied es selbstredend auch bei seiner Rückkehr aus Bonn noch einmal mit seinen Eltern unter einem gemeinsamen Dach zu wohnen. Meine Schwester entschloss sich nach Jahren der Einsamkeit zu einer zweiten unglücklichen Ehe mit einem Zivilangestellten im Verteidigungsministerium (Dienstsitz Bonn). Diese Verbindung hatte zumindest den Vorzug, dass die ziellose Suche meiner Schwester nach den väterlichen Wurzeln nicht nur Struktur gewann, sondern auch einen erheblichen Motivationsschub erfuhr.

Ich fand mich – wie schon so oft – in der Rolle des Mediators wieder. Meiner Mutter konnte ich vermitteln, dass ihre Söhne – auch ihr 1994 verstorbener jüngster Sohn – den Bemühungen ihrer Tochter nach einer Klärung ihrer väterlichen Herkunft immer positiv und verständnisvoll gegenüber standen, und dass es nun an ihr sei, die Tochter zu unterstützen.

Ulla wusste zumindest, dass ihr Vater Österreicher war – so viel hatte sie von ihren Tanten erfahren; auch der Vorname Franz war gefallen. Bevor sich die Mutter nun so weit öffnete, dass die Suche trennschärfer werden konnte, hatten wir alle erdenklichen Versuche gestartet, die allesamt nicht zielführend waren. Erst die Kombination des Namens Franz Streit und seine wahrscheinliche Nationalität als Österreicher sowie der Hinweis, dass er sich als Rekonvaleszent zu einem Erholungsurlaub im Spätsommer 1941 in Bad Neuenahr bzw. in Ahrweiler aufgehalten hat, führte dann schließlich und endlich zum Durchbruch. Meine Schwester bekam die Mitteilung, dass die Familie wohl zuletzt in Mistelbach/Österreich gemeldet war. Nach einigen Fehlversuchen erhielt sie die Telefonnummer eines Mannes in Mistelbach, der nach wenigen Sätzen zu ihr sagte: „Auf diesen Anruf haben wir 40 Jahre gewartet!“ Es handelte sich um einen Neffen Franz Streits, den Sohn seiner Schwester Julie, der sofort die Zusammenhänge herstellte und meiner Schwester – seiner Cousine – erklärte, wie sich dieser Hinweis erklärte, seit 40 Jahren auf diesen Anruf zu warten. Von ihm erfuhr sie umgehend, dass aus der Ehe Franz Streits mit seiner Frau zwei Söhne hervorgegangen waren. Er vermittelte ihr die Telefonverbindungen, und die Geschichte nahm endlich ihren erhofften Verlauf. Das alleine ist ja schon eine gewagte Annahme, denn die Kontaktaufnahme glich ja einem ungedeckten Scheck – vor allem Ulla, meine Schwester konnte ja nicht wissen, wie ihre Brüder reagieren würden. Es ist anzunehmen, dass ihr Blutdruck mächtig durch die Decke schoss, als erstmals einer der Söhne ihres Vaters am anderen Ende der Telefonverbindung abhob. „Das Abwesende muss präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist.“ Diese Anregung Adornos hat sich in der Enthüllung des so lange Abwesenden tatsächlich für meine Schwester und ihre beiden neu hinzugewonnenen Brüder bestätigt. Das Auffinden des Verborgenen bedeutet für beide Seiten bis heute ein Gewinn. Wahr ist aber auch, dass dort, wo sich für meine Schwester eine lang gehegte Sehnsucht erfüllt hat, für ihren Sohn die Ambivalenz dieser Enthüllungen unübersehbar ihre Wirkung entfalten. Er kann zwar seinen beiden späten Onkeln - auch mit Wohlwollen - begegnen, eine Auseinandersetzung mit seinem Großvater hingegen lehnt er strikt ab. Wie sagt Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern...

Nun bin ich siebzig, meine Schwester wird 80 Jahre alt und ihr Sohn hat das sechste Lebensjahrzehnt vollendet. Solange ich zurückblicke auf diesen Teil meiner Familie, erinnere ich zuerst den tiefen Unfrieden, der sich von Anfang genährt hat aus der Tatsache, dass hier eklatant ungeeignete Menschen aufeinandertrafen. Bis in das Jahr 2014 dauerte der Krieg der beiden Eheleute, zwischen dessen Fronten der gemeinsame Sohn stand – er hat als Jurist im Übrigen auch die Scheidung seiner Eltern begleitet. Genau so gewaltig war der Zorn auf Vater und Mutter, dass es zu zeitweiligem Hausverbot für die beiden führte: Mehr als verständlich, dass man beginnt, sich dem Leiden zu verweigern und nicht so werden will wie seine Eltern; Leitsätze, die dem Leben eine gewisse Schwere und Not verleihen. Die Eltern hingegen, die zweifellos Krieg gegeneinander führten – mit übler Nachrede, mit gegenseitiger Abwertung und Missachtung, konnten den Zorn und schließlich die lebensbedrohliche Erkrankung ihres Sohnes nicht in einen Zusammenhang bringen mit ihrer unseligen Kriegsführung. Ihr Sohn erlitt 2008 einen völligen Zusammenbruch mit einem kombinierten Herz- und Hirninfarkt. Er verbrachte nahezu drei Monate in der Uni-Klinik Bonn, fast acht Wochen davon in einem künstlich herbeigeführten Koma.

In der Summe gibt es eine lange Kolonne von erkennbaren – auch selbst eingeräumten – Fehlern auch im Sinne von falschen Weichenstellungen im eigenen Lebensentwurf – bzw. –vollzug. Mein Neffe hat nach seiner Erkrankung Abstand nicht nur von seiner beruflichen Tätigkeit genommen, sondern er hat im Sinne einer Generalabrechnung auch mit seinem Berufsstand gebrochen. In dieser Abrechnung klangen Töne an, wie sie vielleicht am eindrücklichsten Michael Stolleis in einem Beitrag „Furchtbare Juristen“ (in: Deutsche Erinnerungsorte II, C.H. Beck, München 2003, S. 538) kompakt zusammenstellt:

„Juristen sind akademisch ausgebildete Spezialisten. Im 20. Jahrhundert bedeutet dies in Deutschland eine vier- bis fünfjährige Universitätsausbildung mit Staatsexamen, eine staatlich geleitete und finanzierte ‚Referendarausbildung‘, in der Praxis von etwa zweieinhalb bis drei Jahren, schließlich eine zweites, das ‚Große‘ Staatsexamen. Das Ergebnis ist der ‚Volljurist‘, der in Deutschland etwa dreißig Jahre alt ist und nun, nach einer weiteren Einarbeitungszeit von zwei bis drei Jahren, endlich zur Praxis verwendet werden kann. Kommt noch ein Doktorgrad hinzu, dann müssen noch einmal etwa zwei Jahre Lebenszeit hinzugerechnet werden.
Dieser lange Lauf durch die Hörsäle, Bibliotheken, Repetitorien und Prüfungsräume hinterlässt Spuren in der Seele. Im kreativsten Jahrzehnt des Lebens lernen die Adepten wenig über Freiheiten, aber alles über deren Schranken, ja über die Schranken der Schranken. Wichtig sind nicht die Inhalte der Freiheiten, sondern der Vorgang des methodisch angeleiteten ‚Abwägens‘ konkurrierender Freiheiten. ‚Jede Lösung ist vertretbar, Sie müssen es nur richtig begründen‘, hören die Studenten unentwegt. Also fragen sie: Was sagt die h.M. (herrschende Meinung)? Was sagen Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht? Wer ihnen folgt, ist als Anfänger gut beraten; denn es kann nicht ‚falsch‘ sein. Die ganze Apparatur der Juristenausbildung dient, kurz gesagt, nicht nur der Vermittlung von Kenntnissen, sondern ist zugleich auch eine Wegstrecke der Sozialisation. Am Ende sucht der juristisch ausgebildete Verstand schon instinktiv diejenige Lösung, mit der man sich im Rahmen des ‚Vertretbaren‘ hält, ‚Mindermeinungen‘ vermeidet, kurzum: am wenigsten aneckt.“

Mit Ende vierzig hat sich die Masse der Juristen etabliert, ihre Nische gefunden und führt zumeist ein angepasstes und auskömmliches Leben. Was sich bei meinem Neffen zuspitzte, vereinte alle Elemente einer ausgewachsenen Krise in der Lebensmitte und endete in einem Desaster. Meilenweit von irgendeiner Auskömmlichkeit entfernt, findet man sich als Versorgungsfall wieder, dem fortan nur ein unzureichender Anspruch aus dem Versorgungswerk der Rechtsanwaltskammer zustand. Intakte berufliche Identität ist ein wesentlicher Bestandteil personaler Identität.  Ihr Verlust hatte nicht nur materielle Konsequenzen, sondern erzeugte in der Folge eine vollständige Identitätskrise, die auch innerfamiliäre Spannungen und Konflikte nach sich ziehen. Schon nach wenigen Seiten bricht das Manuskript zu einer weit ausholenden Spurensuche – nach einer Einleitung: Bevor es losgeht – ab. Das Motiv für diesen Aufbruch begründet mein Neffe für mich auf nachvollziehbare Weise unter anderem damit, dass er – trotz aller Vorbehalte – „und nicht ohne ein wenig Vergnügen“ von den Menschen seiner Familie, seiner Herkunft und Heimat berichten wolle, „vor allem damit meine Kinder irgendwann nachlesen können, was mir wert erscheint, nicht vergessen zu werden“. Das Überborden einer Mutlosigkeit vermag ich bis in die letzte Nuance einer Melange hinein aus Scham, Zurückhaltung, Resignation (Selbst-)Überforderung nachvollziehen. Wer es wagt, innerfamiliäre Konflikte und offenkundiges Fehlverhalten zu thematisieren, riskiert den Affront, Ausgrenzung und in der Regel Unverständnis. Allein die stellvertretende massenmediale Inszenierung des Menschlich-Allzumenschlichen mag der psychischen Entlastung dienen. Alles ist gut, solange die eigenen Tabus und Schattenecken im Dunkel bleiben.

Insofern erklärt sich der Hinweis meines Neffen, verzichten zu wollen auf die Suche nach Erinnerungen an Menschen, „die mir niemals begegnet sind“, und über deren Leben man ja nur „vom Hörensagen“ berichten könne: „Mir fehlen  Überzeugung und Glaube daran, dass diesen Abstammungslinien eine wichtige Bedeutung für mich und meine Kinder zukommt. Meine Wurzeln, wenn man es so nennen mag, liegen mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, offen zutage. Und etwas Geheimnisvolles ist an dem, wovon ich nun erzählen möchte, auch nicht.“

Die Geheimnisse sind enthüllt. Mit Hildes Geschichte und den akribischen und in diesem Zuge auch dokumentierten Nachforschungen  zur Biografie Franz Streits liegen die Sachverhalte offen zutage. Michael hat noch 2010 in der Begründung zu: Bevor es losgeht bemerkt, dass er – so schwer es ihm auch falle – „die Veränderungen, die sich in allen Bereichen meines Lebens eingestellt haben, als Wirklichkeit anzunehmen, ohne ständig Klage darüber zu führen“, doch daran glauben wolle, „dass meine sprachliche Ausdrucksfähigkeit noch nicht an ihr Ende gekommen ist, sondern deren langsames Wiedergewinnen möglich bleibt. Solange werde ich eben, was mir erzählenswert erscheint, aufschreiben“.

Ich habe selbst lange darum gerungen, das Wort zu nehmen und eine eigene sprachliche Ausdrucksfähigkeit sowohl zuzulassen als auch zu kultivieren. Erst mit Ende vierzig habe ich systematisch damit begonnen, dem eigenen Ozean des Erinnerns und dem permanenten Anbranden von Gegenwartsmomenten eine Sprache zu geben; die dabei möglichen Absonderungen aufzuspüren und aufzubewahren – in Gedichten, in Geschichten, in mühsamen Selbst- und Fremderforschungen, schlicht in Tagebuchaufzeichnungen.

Nun bewahre ich also den Glauben in mir, mein Neffe möge endlich wieder zur Sprache finden. Und so kommt mir – überaus sentimental, wie ich mir vorkomme – sein eigenes Sentiment wie eine Mahnung vor, dich ich beherzige, und für die ich sein Herz wieder aufschließen möchte, weil ich weiß, dass er Recht hat. Er schreibt:

„Wer seinen Gedanken und Gefühlen mit dem Mund Ausdruck verleihen, sie be-sprechen kann, der besitzt einen wertvollen Schatz, dessen ganze Pracht erst nach seinem Verlust empfunden wird. Aber das ist ja oft so im Leben. Mein spürbarster Verlust ist das Nicht-mehr-Vorlesen-Können. Ich vermisse es sehr, vor allem, weil ich es früher gerne und häufig getan und wohl auch nicht schlecht gekonnt habe.“

Vielleicht möchte ich den Glauben deshalb nicht aufgeben, weil ich meinen Neffen zwar nie als Vorleser erlebt habe; aber ich habe ihn erlebt als wortmächtigen und kultivierten Beobachter des Zeitgeschehens. Der Schmerz will nicht weichen. Er speist sich aus der Annahme, dass jemandes Aufbruch versiegt – schon Bevor es losgeht –, weil ihm die Komplexität und die Widersprüchlichkeit all dessen, was Beobachtung uns zumutet, den Gestaltungswillen und den Mut zur Auseinandersetzung nimmt. Dass die Krise in der Lebensmitte sich verstetigt, mag darin einen authentischen Ausdruck finden. Mehr noch drängt sich dem fernen Beobachter ein Eindruck auf, der mit einem schleichenden und subtilen Prozess der Aushöhlung und Auszehrung der auf Liebe – nichts als der Liebe – gründenden sozialen Kernbeziehungen einhergeht. Weiter oben steht eine Bemerkung, die ich mir selbst – tatsächlich gespeist aus den vielen beobachteten Niedergängen einstmaliger Liebesbeziehungen – mit auf den Weg gegeben habe:

In einem ersten Gespräch über diese Aufzeichnungen mit einem langjährigen Freund, kamen wir auf die Schwierigkeiten zu sprechen, erstens die Frage redlich zu beantworten, wen all dies hier überhaupt interessieren könnte? Zweitens, wen es überhaupt etwas anginge? Und drittens, ob man nicht um des lieben Friedens willen sowieso den Blick viel besser nach vorne richten, und die Vergangenheit (endlich) auch Vergangenheit sein lassen sollte! Und mehr noch stellt sich die Frage, ob genau diese letzte Empfehlung nicht so etwas sei, wie die Überlebensgarantie für so viele, die beim Betrachten ihrer Vergangenheit ohnehin zu Totstellreflexen neigen (müssten)!

Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten: So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder aus den Augen verloren; Du bist ihnen fremd, und sie sind dir fremd. Irgendwann beginnen Deine Enkel zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? Und wer mag uns antworten? (Deshalb bin ich ja so gespannt, welche Lösung die Drehbuchautoren des Bergdoktors für den geheimnissvolle Fremden - Clive, gespielt von Dominic Raacke - nach der unverhofften Begegnung mit seiner Tochter Linn kreieren!!!)

 

Nähe – Abstand schafft Beziehung: Symmetrie und Asymmetrie in Beziehungen (17)

Lebt man weit über die Lebensmitte hinaus, dann weiß man, dass die Lebensweisheit: „Es ist selten zu früh, und niemals zu spät“ nicht wirklich überzeugt. Selbstverständlich kann man vieles im Leben versäumen, so dass man selber irgendwann an eine Grenze stößt, die man gemeinhin mit jenem point of no return bezeichnet, hinter dem das Niemandsland beginnt, hinter dem wir absinken in den unendlichen – jeder Chance eines Erinnerns – entzogenen Raum des ewigen Vergessens und des Vergessen-Seins. Vor diesem Abgrund schrecken viele Menschen zurück. Immer weniger Menschen finden Trost in den großen Erzählungen, die uns als Lebenden die Wurzeln unserer Identität suggerieren wollen. Vielfach ist die Rede vom Ende der großen Erzählungen. Aber was tritt dann an deren Stelle? Viele kleine Erzählungen? All diese Fragen entscheiden sich heute mehr denn je im Zuge der Regulation von Nähe und Abstand.

Der obige Hinweis auf heute alltägliche Konstellationen von Familiengeschichten hängt auch zusammen mit der Beobachtung, dass viele Menschen davor zurückschrecken, überhaupt einmal zurückzuschauen. Zu welchen Ergebnissen kommen wir, wenn wir über die wesentlichen Beziehungen, in denen wir leben und gelebt haben, nachdenken? Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? Für uns Ältere erweist sich der Blick zurück häufig als erschreckend und schmerzhaft. Schauen wir beispielsweise in Familienalben, begegnen wir Bildern, die noch Unikate waren; konfrontieren wir uns doch mit einer Zeit, da Instagramm noch eine vollkommen willkürliche und sinnfreie Buchstabenfolge bedeutete. Wir treten ein in eine Zeit, in der es noch nicht möglich war, in Bilderfluten untergehen und unkenntlich zu werden. Unter dem Gesichtspunkt von Wahlmöglichkeiten und Festlegungen eröffnen uns die alten Alben mit ihren eingeklebten vergilbten und verblassten schwarz-weiß-Fotos die verkrusteten, zementierten Beziehungsverhältnisse in unseren Herkunftsfamilien. Jedes erinnerungsträchtige Foto offenbart, wie es vermeintlich ein für allemal war in unserer Kindheit und in unseren Familien. Kaum jemand vermag hier Spielräume für Wahlmöglichkeiten entdecken, trotz der Verheißung, dass es nie zu spät sei für eine glückliche Kindheit!

Das ein oder andere Mal kommt es vor, dass gute Freunde mir Aufzeichnungen anvertrauen mit der Erwartung – gar dem Versprechen, sie diskret und vertraulich zu behandeln. Sie seien nicht für eine Öffentlichkeit gedacht; eine Öffentlichkeit, der sich viele Menschen andererseits aussetzen, indem sie posten und mit Blick auf das, was sie (auch) umtreibt, zu verbergen suchen, wer und was sie eigentlich sind. Freilich ist es auch mit der Eigentlichkeit nicht weit her. Gleichwohl sind aber bei vielen – zumindest meiner Generation – Reflexe noch aktiv, die ihnen suggerieren – trotz aller nach öffentlicher Wahrnehmung gierenden Selbstvergewisserung – das Eigentliche im Verborgenen zu belassen: Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll! (Peter Sloterdijk) Dieses Grundgesetz eines takt- und respektvollen Umgangs miteinander ist genauso ambivalent und fragil, wie die unausgesprochene Prämisse im Umgang miteinander, wir sollten tunlichst unsere Eigentlichkeit als unseren eigentlichen Identitätskern schützen und nicht ständig allerorten mit heruntergelassenen Hosen herumlaufen.

Wenn z.B. die Realsatire – wie sie Ingo Appelt Berti Hahn in seiner Gratulation zum 40jährigen Jubiläum des Café Hahn angedeihen lässt – zum unverblümten Exhibitionismus gerät, dann will man nichts mehr  verbergen. Selbst die Ungeniertheit, die aus einem ruinierten Ruf resultiert, ist dann keine sinnvolle Unterscheidung mehr. Man versteht, warum Face-Book und Instagramm tatsächlich den gläsernen Menschen in einer gläsernen Welt meinen. Die lapidarste Erklärung für einen Striptease der erwähnten Art ist rein pecuniärer Art – pecunia non olet! Ingo Appelt – dat Äppelche – macht dem Berti auch heute noch die Bude bis auf die letzte Kloschüssel voll, wenn nicht gerade corona der Corona im Wege steht. Insofern haben wir es bei Berti Hahn und Ingo Appelt mit einer sogenannten symmetrischen Beziehung auf Schwanz- bzw. auf Augenhöhe zu tun. Berti Hahn hat dies bestätigt, indem er die Jubiläums-Laudatio Ingo Appelts auf seiner Face-Book-Seite gepostet hat, wir mir erzählt worden ist.

Dirk Baecker (Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 627-633) hilft uns zum besseren Verständnis mit einer schlichten Unterscheidung von symmetrischen und asymmetrischen Beziehungen auf die Sprünge:

„Wer auch immer in symmetrischen Beziehungen Erfahrungen sammeln durfte, weiß, dass darauf Verlass ist, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem man aus dem Wissenwollen ins Handelnwollen umkippt, weil man merkt, dass man anfängt, zu viel zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will. Die Asymmetrie, das dürfen wir nicht vergessen, ist auch eine Markierung der Grenzen einer Beziehung, nämlich eine Definition dessen, was in ihr sachlich zu erwarten, sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist. Der Reflexionsraum der Symmetrie ist unerträglich offen im Verhältnis zu den Regeln der Asymmetrie, die mich darüber informieren, wer was darf,  worum es geht und wie lange es dauert.“ (Bei Berti und dem Äppelchen war der Kipppunkt offenkundig erreicht, und eine wohltuende Asymmetrie offenbart, wer was darf, worum es geht und wie lange es wohl dauert.)

 

Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? (18)

Mit den Unterscheidungen, die uns Dirk Beacker anbietet, lässt sich der soziale Raum noch einmal neu vermessen. Und viele der Nöte, der Konflikte – manchmal auch Ausweglosigkeiten –, die wir in uns verspüren und die wir bei anderen beobachten, werden verständlicher. Dabei hilft mir eine Metapher, wie sie Dirk Baecker in den Raum stellt, und wie sie hier mehrfach immer wieder auftauchen wird:

„Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

Mir ist das widerfahren. Ich werde weiter unten erzählen, wie ich beinahe verrückt geworden wäre. Zuvor möchte ich allerdings an Beispielen erläutern, warum uns die Unterscheidungen Dirk Baeckers tatsächlich helfen können, den Sinn im Unsinn oder den Unsinn im Sinn besser zu verstehen. Beginnen wir einmal mit der Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie. Zu Beginn ist das ganz simpel: Zwischen Säugling und Mutter, zwischen Kleinkind und Mutter – zwischen Heranwachsenden und Eltern gibt es keine Symmetrie. Im Normalzuschnitt familiärer Triangulation gibt es nichts unerträglich Offenes. Es herrschen – wenn man Glück hat, im Modus liebevoller Zuwendung – die Regeln der Asymmetrie, die bestimmen, wer was darf, worum es geht und wie lange es dauert. Auch in diesem Regelwerk gibt es selbstredend ein unendliches Maß an Variation. Als Großvater sollte ich mir allderings immer wieder vor Augen führen, dass es zu der geschilderten Asymmetrie, die bestimm, wer was darf, worum es geht und wie lange es dauert in der Erziehung wohl keine Alternative gibt!!!

Beginnen wir einmal mit der schlichten Erfahrungswelt eines Muttersöhnchens: Aus der Sicht eines Muttersöhnchens lässt sich summa summarum resümieren, das der Muttersohn den Schub zum Erwachsen-Sein erst mit dem Sterben der Mutter erfuhr (siehe das Schlusskapitel in Hildes Geschichte). Das dauerte in unserem Fall ein knappes halbes Jahr. Am 27. Juli 2003 – nach einem langen intensiven Abschied, den wir in allen Nuancen, wie einen Schierlingsbecher, bis auf den Boden ausgekostet bzw. ausgetrunken haben, entließ sie mich endgültig ins Leben. Sie gab mir ihre besten Seiten mit auf den Weg, und ich steckte den Schierlingsbecher weg. Alle Kraft und Energie – mit der sie weiß Gott im Übermaß gesegnet war – ging auf mich über. Für den Rest des Jahres (2003) war ich nicht von dieser Welt. Begonnen hatte all dies natürlich mit meiner ersehnten Geburt am 21. Februar 1952. Ich war der Augapfel meiner Eltern – bis Willi, mein Bruder, dazu kam. Von da an konnten die beiden auf beiden Augen sehen. Und wir sollten uns alle vor Augen halten, dass zum Beispiel diese Schilderung einer ungewöhnlichen Vaterfigur die eine Seite der (Familien-)Medaille ist. Sie erzeugt ihre Strahlkraft nicht ohne die Rückseite dieser Medaille, in die all die Differenzen eingekerbt sind, die unsere Familiengeschichte eben nicht zu einem Sufflée haben geraten lassen, sondern alles in allem zu einem schwerverdaulichen Eintopf.

Mein Vater – dies habe ich schon mehrfach betont – war mit drei Augen gesegnet. Er hatte den Blick für seine Adoptivtochter und hütete sie (und ihren Sohn), bis er seine Augen endgültig schloss. Das war leider schon im April 1988 der Fall. Dass wir alles durften und nichts mussten, trifft die Wahrheit nicht ganz. Aber für alles, was wir anpackten, gab es den notwendigen Rückhalt. Unser Vater war weder zimperlich bei den Konsequenzen, die aus einem Fehlverhalten drohten noch bei unverhofften Solidaritätsbekundungen. Vor Gericht hat er einmal den Amtsrichter ermuntert, seinem jüngsten Sohn eine ordentliche Lektion zu erteilen, weil er – gemeinsam mit anderen – eine stämmige, gesunde Birke aus dem Neuenahrer Kurpark zwecks Verwendung als Mai-Baum (Ritual am 1. Mai im Rheinland, um das Herz der Erwählten aufzuschließen bzw. zu beglücken) gewildert hatte. Mir gegenüber hingegen ließ er absolute Milde walten, als ich ihm nachts – wenige Stunden vor Antritt einer Klassenfahrt nach Berlin – schuldbewusst den in einem Anfall akuter Liebesblödigkeit geschrotteten VW meiner Cousine (die in England weilte) vor die Türe stellte. Er drückte mir hundert Mark in die Hand, wünschte mir augenzwinkernd viel Spaß in Berlin mit der Zusicherung, sich zu kümmern. Nachsicht und absoluter – ich möchte sagen bedingungsloser – Rückhalt zeichneten die Haltung beider Elternteile gleichermaßen aus.

Früh begleitete mich die Sorge um die Eltern. Schon in meinem achtzehnten Lebensjahr bangte ich um das Leben meiner Mutter. Nach der Entfernung der Gallenblase ergaben sich Komplikationen; eine Not-Operation wurde notwendig. Es entwickelte sich eine Krisis, die letztlich dazu führte, dass meine Mutter – seinerzeit noch die letzte Ölung (die Sterbesakramente) erhielt... Meine Mutter erholte sich, um aber dann wenige Jahre später eine – vermutlich – wechseljahrbedingte Epilepsie auszubilden. Es dauerte recht lange, bis die unangenehmen, belastenden Anfälle durch eine zielführende Medikatierung minimiert werden konnten. Dafür kränkelte zunehmend unser Vater – wie weiter oben schon angedeutet – auch ausgelöst und begünstigt durch seine Kriegsversehrtheit. Theo Witsch, der Begründer des buena vista social clubs innerhalb eines Fußballvereins, musste seine Tätigkeit als Croupier im Spielcasino Bad Neuenahr aufgeben, arbeitete einige Jahre als Bühnenmeister im Kurtheater, bevor er Frühinvalide wurde. Die letzten Jahre widmete er sich seiner Familie und – wie gesagt – seinem heiß geliebten Fußballverein; er war Kärrner und Seele, Fan und Unterstützer in Personalunion.

Wem dies alles zu idyllisch, zu rosa-rot, zu inkonsistenzbereinigt vorkommt, dem sei versichert, dass die von Dirk Baecker angebotene Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie vom ersten bis zum letzten Atemzug als Leitunterscheidung bestand hat. Ich möchte es nicht Regeln nennen, sondern Habitus bzw. bindungsspezifischer genetischer Code, die in einem radikal asymmetrischen Beziehungsfeld gleichermaßen keinen Zweifel daran ließen, wer was durfte und die vor allem präzise die Informationen enthielten, worum es (eigentlich immer) geht und ging. Dass sie darüber entschieden hätten, wie lange es dauert, ist nur insofern richtig, als es so lange dauerte, wie es dauerte; nämlich ein endliches ganzes Leben lang! Die von Karl Otto Hondrich im sozialen Feld der Familie betonten Kategorien der Bindung, der Geborgenheit, der Entschiedenheit und der Zugehörigkeit sind von meinen Eltern erfunden und gelebt worden.

Verlässt man das familiale Umfeld und beobachtet sich mit Blick auf die ersten Liebesbeziehungen, so wird schnell deutlich, dass – wie Dirk Baecker – betont, der Reflexionsraum der Symmetrie irgendwann fragwürdig, gar unerträglich wird, selbst wenn man felsenfest davon überzeugt ist, nichts anderes anzustreben, als die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz (Peter Fuchs); und zwar mit nur diesem, und nur diesem einen einzigen Menschen! Paradoxerweise ergibt sich aus der Ernüchterung für denjenigen, der aus diesem Sommernachtstraum irgendwann erwacht, eine radikale Umkehrung. Demjenigen, der an symmetrischer Kommunikation festhält, mit einer nun plötzlich aymmetrisch daherkommenden Haltung zu begegnen, gehört wohl zu den brutalsten Erfahrungen, die man im Liebesleben machen kann. Denn nun wird einseitig und neu definiert, wer was darf, worum es geht und wie lange es dauert. Ist es vorbei, oktroyiert der Erwachte nun für den anderen unverständlich und brutal, dass es vorbei ist. Und wenn es dann nicht nur Wochen und Monate dauert, sondern Jahrzehnte, bis sich die Enttäuschung und die Kränkung aufzulösen beginnen, taucht vielleicht am Horizont eine neue erlösende und auflösende Symmetrie auf. Mit Blick auf die Asymmetrie, die die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz in Frage stellt und relativiert, weist Dirk Baecker darauf hin, dass sie eben die Grenzen einer Beziehung markiert, nämlich die Definition dessen, was zu erwarten ist, was sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist.

 

Ich schreibe, also bin ich! (19)

Und nun stellt sich die Frage erneut: Welche Welt tritt da zutage zwischen Wahlmöglichkeiten, Festlegungen, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Symmetrie und Asymmetrie?

Die letzten 25 Jahre habe ich darüber geschrieben, dass ich nichts anderes konnte als Achterbahnfahren – eine sanfte Achterbahn im Großen und Ganzen, so dass die lange Fahrt mich zeitweise einlullt(e). Dass es eine sanfte Achterbahn war, ist selbstverständlich nichts als eine Selbstbeschwichtigung und hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Die Schwindelattacken setzen unvermittelt ein, wenn ich mich tatsächlich einlasse auf das, was man eine authentische Wahrnehmung des eigenen Driftens in der Welt nennen könnte. Ich vertrage Achterbahnfahrten nicht. Das ist der Grund, warum ich in den Momenten des Absturzes nie das Gefühl hatte, dieser Absturz nähme ein Ende; mir war sterbenselend zu Mute. Allerdings all dies nicht, ohne dass ich vorher in schwindelnde Höhen aufgestiegen wäre wie weiland Ikarus. Im Gegensatz zu ihm habe ich meinen finalen Absturz und alle kleineren Abstürze überlebt, denn: Ich schreibe, also bin ich! Woher ich das alles weiß. Seit 22 Jahren führe ich Tagebuch. Wenn ich eine Ahnung bekommen will davon, wie es war, dann schaue ich in meine Tagebücher. 42 Jahre (siehe: Am Anfang war die Tat) geraten – neben dem Vorher – in den Blick. Fast 368.000 Stunden haben sich addiert. An diesem unvorstellbaren Stundenhaufen lässt sich erahnen, wie Körper und Seele über diese Zeitspanne jene Gestalt annehmen; eine Gestalt vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

Ins Erzählen komme ich allein schon deshalb nur mühsam und mit ständigen Vorbehalten, weil Skrupel und Ängste überwiegen. Die Sloterdijksche Devise, dass diskret sei, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll, bedeutet in Selbstanwendung die fatale Konsequenz, sich immer wieder und immer neu zu verfehlen. Man merkt ja – wie Dirk Beacker meint –, „dass man anfängt, zu viel zu wissen und etwas zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will“. Wem will man schon zu nahe kommen? Das ganze Geheimnis eines angenehmen Lebens gründet auf der Kunst des Abstands. Dir Baecker schreibt:

"Es ist die Kunst des Abstands, von der hier die Rede ist. Es ist eine Kunst, die mit der Distanz, mit der Differenz, mit dem Unterschied beginnt und sich von dort aus die Verhältnisse anschaut, um sich dann in ihnen und mit ihnen zu entscheiden. Es ist eine Kunst, die in der Lage ist, jede Einheit in eine Beziehung zu übersetzen und aus der Beziehung heraus zu variieren. Wer am längsten stillhält, hat verloren. Wem jene Bewegungen einfallen, die auch den anderen zu einer Bewegung verleiten, hat gewonnen. Leichter gesagt als getan. Aber deswegen reden wir ja auch von einer Kunst. ‚Nahe genug‘ ist mir das, wozu ich einen Abstand suche, weil ich die Beziehung nicht aufkündigen möchte. Ich übersetze fest Kopplung in lose Kopplung, rechne nicht mit der Zukunft, sondern mit der Gegenwart, und weiß, dass die Wahrheit Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.“

Ja, die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen! Um diese Blockade zu überwinden hilft nur eines: Ich muss das Pferd – meine Geschichten – von hinten aufzäumen. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass ich mich sozusagen rückwärts hineinarbeite in eine verrückte Welt, die ich eher ungläubig betrachte ob der Tatsache, dass ich sie überlebt habe. Bereits die Mohnfrau stellt den Versuch dar, das schier Unglaubliche begreifbar zu machen. Ich möchte es erneut versuchen. Dirk Baecker hilft meine Vorgehensweise und meine Motive präzise zu entziffern. Es hilft zunächst einmal mit Blick auf die letzte große Krise zu verdeutlichen, dass mir eine unendlich lange – und zuletzt steile – Lernkurve die Chance eröffnet hat, Handeln zurück in Kommunikation zu übersetzen. Eine überaus delikate und bemerkenswerte Konstellation über Wochen und Monate – und in modifizierter Form über Jahre – hat nicht verhindert, dass wir – Claudia und ich – glücklich sind, in diesem Jahr vor unserer Rubinhochzeit zu stehen. Allein in dieser Tatsache manifestiert sich das vorstellbare Glück in seiner umfänglichsten Dimension: Wir begegnen uns heute – nach vierzig Jahren – mit Blick auf ein fürsorgliches Finale. Wir sind gesegnet mit unseren Kinder und Schwiegerkindern. Unsere Kinder haben uns – in einem unmittelbaren Umfeld, das Abstand und Nähe ermöglicht. Wir haben inzwischen zwei Enkelkinder, und es könnten mehr werden. Generativität erleben wir als großes Glück. So bedeutet das späte Glück – einen starken Anker in den erodierenden sozialen Gefügen; ein solides Fundament der Bindung, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Entschiedenheit in einer dynamischen Welt.

 

 Ein paartherapeutisches HusarenstückZwischen Durchreise und Landnahme (20a)

„Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft – Emotionale Entwicklungen in Paarbeziehungen, Stuttgart 2007, S. 214).“

Als meine Mutter am 27. Juli 2003 starb, bewegte sich mein Schwiegervater zunächst behutsam, dann mit zunehmender Dynamik in die Demenz. Von 2006 an wurde er zuletzt – immerhin drei Jahre andauernd – zum bettlägerigen Schwerstpflegefall. Im März 2010 wurde er von seinen Leiden erlöst. Meine persönliche Lebensführung und –planung war umfassend an diese Entwicklungen gekoppelt; Dirk Baeckers Leitkriterium „das ist nahe genug“ schrumpfte auf ein Minimum an Abstand, weil ich es so – genauso – wollte. Was ich meinem Schwiegervater – meinen Schwiegereltern – verdanke, ist in den vorgeschalteten Aufzeichnungen ansatzweise angedeutet worden. Eine materiell begründete Asymmetrie habe ich im Modus der Dankbarkeit in eine emotional-fürsorgliche Komplementärhaltung übersetzt, die es mir erlaubte, von dem, was sie mir zugedacht haben, etwas zurückzugeben. Der 19. April 2007, von dem im nächsten Abschnitt die Rede ist, bedeutete in mehrfacher Hinsicht in gewisser Weise so etwas wie einen Wendepunkt im System Rothmund – in meinem Tagebuch findet sich unter dem 19.4.07 folgender Eintrag:

„Die Urinflasche nimmt Leo (mein Schwiegervater) nicht an, und seine nächtlichen Eskapaden führen langsam aber sicher zur völligen Auszehrung und Überforderung meiner Schwiegermutter. In der Nacht von Sonntag auf Montag kam eine Eskalationsstufe hinzu, die größten Anlass zur Sorge gibt: Lisa, meine Schwiegermutter, fühlte sich von Leo bedroht. Zum ersten Mal in all den Monaten rief sie mitten in der Nacht – um 2.45 Uhr – an mit einem dringenden Hilferuf. Ich war zehn Minuten später auf dem Heyerberg – einen Schlüssel hatte ich vorsorglich schon seit Monaten. Als ich aufschloss und eintrat, sah ich Leo in der Schlafzimmertüre stehen; meine Schwiegermutter war nicht zu sehen. Offenkundig erkannte er mich sofort. Ich ging auf ihn zu und beruhigte ihn durch beharrliches Zureden. Wir gingen gemeinsam ins Esszimmer und setzten uns dort an den Tisch. Leo versuchte mir zu vermitteln, dass er sich gegen böse Menschen zur Wehr setzen müsse. Erst zehn Minuten später kam Lisa – noch immer blass und zittrig – hinzu. Sie hatte ihren Mann ausgetrickst, ihn ins Wohnzimmer gelockt und dort das Licht ausgelöscht. Geistesgegenwärtig hatte sie das Telefon gegriffen und hatte sich dann über die Küche und die Diele in das rettende, abschließbare Gäste-WC geflüchtet. Anscheinend war Leo aus einem Traum erwacht, aber dabei nicht wirklich wach geworden. Er begann Lisa zu beschimpfen und handgreiflich zu werden: ‚Mach, dass du rauskommst, du dreckiges Luder!‘ Jedenfalls habe ich dann die restliche Nacht auf dem Heyerberg verbracht, meine Schwiegermutter zum Schlafen ins Bett geschickt und mit Leo die Zeit vertrieben. Zum Schluss lagen wir beide in den Liegesesseln im Wohnzimmer und haben die Dämmerung und den Sonnenaufgang über der Karthause erlebt – zeitweise selbst im Dämmerzustand.“

Im Frühjahr 2007 – an diesem 19.  April 2007 – erreichte mich eine e-mail, mit der ein alter Freund aus längst vergangenen Zeiten den Kontakt suchte. Eigentlich hätte die mail an Claudia gerichtet sein müssen, da es sich um ihren ersten langjährigen Freund – ich nenne ihn Freund – handelte. Der Freund – gut zwei Jahre jünger als ich – bewegte sich seinerzeit auf dem Höhepunkt jener Krisendynamik, die als Krise in der Lebensmitte in der Regel nicht eine Individualkrise bleibt, sondern auch in der Paarbeziehung und in der Familie für Turbulenzen sorgt - wie immer sich auch im Einzelnen die Wechselwirkungen entfalten. Wir hatten uns als Familien gegenseitig jeweils einmal besucht in den letzten 25 Jahren. Dass zwei Menschen eklatant ungeeignet füreinander sein können, stand bei den beiden immer außer Zweifel, zumal der Freund diese Lesart selbst bevorzugte und die Heirat erklärte aus einer frühen ungeplanten Elternschaft. Die kleine Familie lebte zunächst am Studienort des Freundes. Die Hochzeit selbst wurde seinerzeit bereits von den Eltern des Freundes boykottiert, weil sie aus ihrer Sicht nicht standesgemäß erschien. Der ältere von zwei Söhnen hatte eigentlich das Zeug dazu, elterliche Erwartungen zu erfüllen. Er schloss sein Studium mit einer Promotion ab und arbeitete zur Zeit unserer Kontaktaufnahme bei einem Global-Player im Management. In einem aufstrebenden Rheinstädtchen hatte man eine alte Villa gekauft und so renoviert, dass sich die Familie – mit inzwischen drei Kindern – ein standesgemäßes Refugium geschaffen hatte. Der Freund hatte auf dem ersten Höhepunkt der manifesten Krise keinen anderen Weg gesehen, als sich eine eigene, kleine Wohnung zu nehmen, um mit Abstand herauszufinden, wohin die Reise gehen könnte. Seine Wurzeln lagen am Rhein, wo seine Eltern und sein Bruder mit Familie aktuell auch noch lebten. Die Eltern hatten es durch ihre Geschäfte zu Vermögen gebracht, begannen aber nun – ähnlich wie Claudias Vater – zu kränkeln und waren mit der Organisation des Alltags zunehmend überfordert. Hinzu kam die lebensbedrohliche Krebserkrankung des jüngeren Bruders, dessen berufliche und familiäre Probleme die elterliche Aufmerksamkeit und Fürsorge nahezu vollständig beanspruchten.

So stand der Freund eines Tages im Frühjahr 2007 vor unserer Haustüre. Es beginnt nun eine wunderschöne, über die Maßen romantikträchtige Geschichte, deren Verlauf – eingeschlossen das Handeln der Hauptakteure – nur verständlich wird, indem ich mir gestatte gewissermaßen rückwärts zu erzählen und das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn viele haben mich für verrückt erklärt – oder doch zumindest meine Rolle in diesem Stück nicht verstehen können, weil diese Geschichte nur mit meinem Zutun und gewissermaßen mit meiner Duldung sich so und nicht anders vollziehen konnte. Es ist gewiss ein glücklicher Zufall, dass 2007 Detlef Klöckners „Phasen der Leidenschaft“ (Stuttgart 2007) erschien. Seine Hinweise wirken wie eine Blaupause der Geschehnisse. Er schreibt:

„Die Einhaltung der Treueregel ist oft genug ein Pyrrhussieg der Liebe über die Leidenschaft […] Verlangt ist ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebt und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziert, das sich als Paar fördert, ohne sich persönlich zu vernachlässigen. Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (S. 216).“

Will man von Reife in Paarbeziehungen (im Sinne Detlef Klöcknters) sprechen, dann beschreiben die hier aufgezeigten Dynamiken und die aus ihnen resultierenden Lektionen gewissermaßen ein zivilisatorisches Minimum. Nur auf diesem Hintergrund ergibt sich auch die Legitimation all dies hier in wertschätzender Weise aufzuschreiben! 

Bei unserer ersten Begegnung hatte von uns dreien keiner eine Ahnung, was das nächste Dreivierteljahr uns bescheren würde. Dass wir alle reich beschenkt worden sind, kann sozusagen als Prämisse vorweggenommen werden. Auch fünfzehn Jahre später begegnen wir uns freundschaftlich, weil wir alle miteinander unsere Lektionen gelernt haben. Ich teile die Auffassung Detlef Klöckners im Hinblick auf den Vergebungswillen vollständig. Dass wir unter dem Strich und auf lange Sicht miteinander eine win-win-win-Bilanz erreicht haben, mag eine gewagte Behauptung sein – und in einzelnen Nuancen von den Beteiligten auch unterschiedlich bewertet werden. Zu verstehen ist meine Annahme nur unter zwei Maßgaben: Erstens beruhte mein Vergebungswille auf einer Vergangenheit, die mich heilsökonomisch – so würde Peter Sloterdijk es ausdrücken – ins Defizit gebracht hatte und zwar in einem so gewaltigen Umfang und aussichtsloser Überziehung aller Konten, dass ich selbst ohne eine Schuldenerlass-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus meiner Schuldenfalle heraus hätte gelangen können. Zugegeben, dies ist meine ganz und gar subjektive Sichtweise – nicht jeder würde sie uneingeschränkt teilen –, aber meinem Lebens- und Schuldgefühl entsprach sie zur Gänze. Dies ist im Übrigen der Grund, warum ich so sehr darauf aus bin, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die Lernkurven, die wir genommen haben, insgesamt im Saldo einen außerordentlichen Reifeschub ausgelöst haben. Gewiss sind die Kurvenverläufe unterschiedlich steil. Ich hatte schlicht einen unlauteren Vorsprung, so dass ich schon intensiv im Lerngeschehen war, als die beiden anderen noch träumten.

Es ging alles sehr schnell – vielleicht zu schnell, so dass wir denkenden, fühlenden, kommunizierenden Menschlein gar nicht hinterherkamen: Denkwürdig das Pfingstwochenende Ende Mai 2007. Ich notierte in meinem Tagebuch:

„Ein intensives (verlängertes) Pfingstwochenende – zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen besucht uns der Freund; Samstag, Sonntag, Montag. Am Samstagabend gemeinsames Essen mit R., sonntags bei angenehmem Wetter (obligatorische) Wanderung nach Winningen mit traditioneller Rast an unserem Lieblingsplatz und Einkehr in der „Hoffnung“; montags bei Regenwetter immerhin Hundespaziergang bis zum Ausblick „Überm Rath“ hoch über der Mosel. Der Ertrag? Enorm und exorbitant!!! Warum? Es sind Orgien der Selbstvergewisserung in schwierigem Gelände. Der Freund befindet sich auf dem Weg aus der Familie – am 27.6. wird er eine eigene Wohnung beziehen. Er sucht die räumliche Distanz und will versuchen in Verantwortung für die Familie Haus und Lebensstandard zu erhalten bzw. zu garantieren. Er reduziert sich auf gut 50qm. Das hat R. vor Jahren bereits realisiert. Er ist ein excellenter Gesprächspartner. Da stimmte die Chemie buchstäblich ohne Fremdeln. Er ist darüber hinaus geübt in der Praxis von Dreiecksbeziehungen. Und wir? Nun, bezogen auf das vergangene Wochenende ist Ergebnis und Befund nahezu eindeutig: Mosaikstein 1 – die Konstellation beflügelt uns! Mosaikstein 2 – In der Nacht von Sonntag auf Montag, nach einem schönen Abend im Landgasthaus Höreth in Kobern gehe ich müde und zufrieden gegen 0.30 Uhr ins Bett. Claudia und der Freund verkosten bis 4.00 Uhr in der Frühe Rieslinge. Sonntags in der Frühe, während ich zum Fußball gehe, absolvieren Claudia und der Freund ihre Einheiten im Kieserstudio. Das finde ich angenehm. Ich finde es entlastend – frage mich immer, wie exklusiv sind da meine Vorstellungen, insbesondere auch bezogen auf die von mir selbst beanspruchten Freiräume? Mosaikstein 3 – Angenehm, von viel Zustimmung getragen, die ‚Männergespräche‘ mit dem Freund; weitgehende Übereinstimmung in Fragen, unter welchen Bedingungen denn Beziehungen überhaupt ‚funktionieren‘ können. Mosaikstein 4 – Recht angenehm, jetzt schon ritualisiert die Vierer-Konstellation unter Einschluss von R.: erlaubt das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen und Vertrautheit bei gleichzeitiger Desillusionierung.“

Mitte Juni bricht der Freund einen geschäftlichen Aufenthalt in Dubai vorzeitig ab, weil sein Bruder nach einer OP das Krankenhaus nicht mehr verlässt und innerhalb weniger Tage verstirbt. Die Eltern sind überfordert. Der Freund kümmert sich und bittet uns um Asyl, weil er sich unter den gegebenen Umständen im Elternhaus unwohl fühlt. Die Mail-Kontakte zeugen schon nach wenigen Wochen von einer außerordentlichen Vertrautheit. Es ist ein Schweinsgalopp, der da einsetzt. Der Freund bedankt sich überschwänglich für die gemeinsamen Unternehmungen und ist vor allem gewillt, die Energie und die Erkenntnisse aus unseren nächtelangen Gesprächen in die Reparatur des familiären Desasters einzubringen. Legendär eine der ersten Mails mit dem Auftakt: „Ich bin gegen 16.00 Uhr mit wenig Stau um Köln – die geile Mucke von Van Morrison hat mich da entschädigt – und kleinem Umweg – musste mich zunächst beim Kieser entspannen, bevor ich in die ‚Höhle der Löwin‘ bin.“ Der Tenor ist positiv und zukunftsoffen.

Schon im Juni erreicht mich eine erste mail, mit der die Frau des Freundes das Feld sondiert und in Erwägung zieht, dass es vielleicht wirklich das beste sei, wenn man sich räumlich trenne, um mal Abstand und Ruhe zu bekommen. Aber es wird auch deutlich, warum es zwischen unseren Familien nicht funktionieren konnte. Seine Frau schrieb Ende Juni:

„Schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Was mich nur an der ganzen Sache ziemlich schmerzt ist, dass er in Claudia eine besonders gute Freundin gefunden hat. Er hat mir jedes Mal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich die ganze Zeit angelogen, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe… Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das tut man nicht, aber ich war so in Brass, da ist es eben passiert.“

Wenn ich die Schlüsselpassage meiner Antwort lese, ist mir sofort klar, dass dies für mein Gegenüber den Eindruck erweckt haben muss, ich sei komplett übergeschnappt. Ich habe aus Susanne Gaschkes ZEIT-Artikel zur Begrüßung eines neuen Jahrtausends der Paarkultur zitiert unter anderem, dass es verboten wäre, dass Partner sich gegenseitig ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten, und ebenso verboten sei natürlich das Kreuzverhör – einmal ganz zu schweigen davon, dass es ein absolutes No-go sei, das Tagebuch des Partners zu lesen. Und zum Schluss der Totschlaghammer:

„Ich weiß, das ist starker Tobak. Der zwingt uns, dass wir uns unserer Eifersucht und unserem Besitzdenken stellen. Mit einer ausgeprägten Haltung der Kontrolle und des Misstrauens gibt es keinen Weg zurück. Wir sind zwar verheiratet, aber wir sind nicht das Eigentum unseres Partners.“ Das simple Geheimnis unseres Neubeginns liege in einer völlig neuen Bedeutung der Verantwortung, die wir jeweils für uns selbst tragen. Sie solle weder Mut noch Geduld verlieren! Ich wünschte ihnen beiden, dass sie im Gespräch miteinander blieben.

So gänzlich ist mir nicht klar, ob hier ein absolut cooler – und vielleicht auch unterkühlter – Stratege schon akribisch Regie führte, oder ob nicht doch irgendeine Art von Hybris dafür sorgte, dass hier zwar jemand intuitiv, aber doch auch ziemlich unberechenbar an Fäden zog, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie die Akteure im einzelnen (re-)agieren würden. Schon am 15. Juli unterbreitete der Freund Claudia das Angebot ein kombiniertes Köln-Düsseldorfer Kulturpaket zu buchen. Wenn sie wolle, könne sie bei ihm („ich nehm die Matratze im Wohnzimmer") oder auch sonstwo übernachten: „Ist das ein Angebot?“ Sie solle doch einmal mit mir darüber sprechen. Kurzum: Claudia nahm das Angebot an. Am Horizont winkte in der Tat die von Detlef Klöckner avisierte „lustbetonte und verantwortungsfreie Zeit – frei von aktuellen Belastungen“. Schon am 20. Juli signalisierte der Freund Schlagseite. „Nach zwei für mich wertvollen Tagen mit Claudia ist sie inzwischen wieder wohlbehalten nach Koblenz zurückgekehrt. Darüber bin ich froh.“

Ich war auch froh und wurde Zeuge einer zarten, aber sehr konsequenten Annäherung. Ich erfuhr das außerordentliche Privileg, meine Frau durch die Augen unseres Freundes sehen zu dürfen:

„Du hast eine Frau, die mich fasziniert – wohlmöglich heute mehr als früher. Mir scheint, sie ist wie ein guter Wein, wird mit zunehmender Reife immer noch attraktiver. Aber was erzähle ich Dir? Du weißt das alles selbst, hast mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, was Claudia Dir bedeutet. Ich mache das an dieser Stelle genauso und kann nur sagen, ich empfinde mehr als Freundschaft, wenn ich mir ihr korrespondiere, telefoniere oder wenn wir zusammen sind.“

Zieht man an dieser Stelle bereits die Reißleine? Nichts lag mir ferner! Nun dachte ich zwar nicht primär an das weiter oben erwähnte heilsökonomische Defizit. Gleichwohl war mit latent permanent gegenwärtig, hier lauere eine Chance aus meiner Schuldenfalle herauszugelangen. Mit Interesse und Faszination las ich das vorläufige Resümee des Freundes:

„Ihr Interesse an meiner Person empfinde ich als sehr angenehm und aufbauend. Nach Paracelsus macht die Dosis die Wirkung. Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht schon anfange unter den Folgen einer Überdosis zu leiden, denn nach zwei Tagen Claudia geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Das ist der Grund, wenn ich Dir jetzt sage, ich werde am Wochenende nicht nach Güls kommen, die Quadriga muss ohne mich starten. Ich will meine Entwicklung weiter so positiv fortsetzen und habe das Gefühl, ich muss dazu wieder mehr Wasser unter den Kiel bekommen, brauche Abstand zu Claudia. Ich weiß, was jetzt kommt, Abstand erzeugt Nähe… wirst Du denken. Ich habe aber kein Rezept, als die Droge abzusetzen. Mit allen Nebenwirkungen […] Noch einmal, ich würde liebend gerne kommen, mag Euch alle – Claudia im Moment etwas zu sehr. Jetzt muss ich den Kopf wieder frei bekommen. Da kann es nur gut sein, wenn wir uns am Wochenende nicht sehen.“

Die coole Socke ist hin und weg und zieht selbstverständlich nicht die Reißleine – seine Reißleine. Er schreibt dem Freund, wie gut es ihm geht, seit er sich von der buddhistischen Haltung eines Wu-Wei – eines Handelns durch nicht Handeln inspirieren lasse. Ich signalisierte ihm, dass mir die Geschenke des Lebens – seit ich diese Haltung in mir kultiviere – nur so zuflössen. Reicher sei mein Leben nie gewesen als in den letzten Jahren, woran auch er einen Anteil habe. Ich betonte meine Hoffnung, dass die „offenkundigen bzw. die bekannten Veränderungen dies nicht wirklich in Frage stellen“ sollten. Das war wohl irgendwie ein bisschen eindeutig, andererseits aber nebulös genug, dass der Freund nun vollends auf eine gediegene Sandbank auflief und den letzten Tropfen Wasser unter dem Kiel verlor.

„Der Freund kommt heute (doch). Doch? Ja! Claudia ist eine Naive mit einem kleinen Anteil ‚femme fatale‘. Sie fährt zwei Tage nach Düsseldorf und verbringt zwei Tage bzw. zwei Nächte mit dem Freund und verdreht ihm den Kopf. Es gibt ein Spiel, das nur zu zweit geht. Claudia hat aber mit alldem ‚nichts‘ zu tun. Das heißt schlicht, sie genießt die ihr zukommende Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ‚Nebeneffekte‘ sind ihr unangenehm. Sie möchte, dass es ‚so schön‘ bleibt, wie es war. Der Freund kann/muss noch viel lernen. Warum die Offenbarung. Verfolgt er mehr, sollte er es diskret tun. Will er es ‚beherrschen‘, rationalisieren, sollte er eh schweigen. Zumindest wird es spannend.“

Am 21.7.07 habe ich diese Eintragung in mein Tagebuch vorgenommen. Wer im Erotop wandert und bereit ist, sich die Segel von den erotischen Übertragungsenergien blähen zu lassen, muss zuweilen auch mit stürmischer See rechnen. Adam Phillips kommentiert lapidar: Monogamie, aber drei sind ein Paar (siehe: FJWR: Kopfschmerzen und Herzflimmern, Koblenz 2005). Nach Peter Sloterdijk gehört zur Anthroposphäre prägend das Erototop. Es organisiert die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien und setzt sie als Eifersuchtsfeld unter Stress. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Sloterdijk meint, das erotische Feld werde unter Spannung gesetzt, indem die Gruppenmitglieder durch eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit ein Eifersuchtsfluidum entstehen ließen, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation gehalten werde:

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt (umso mehr), sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen.“ Zur Gruppenweisheit – so Sloterdijk – gehöre ein Eifersuchtsmanagement, das die Selbstirritationen in einem lebbaren Tonus halte.

Ich hatte sozusagen in dieser Disziplin 2005 mit Kopfschmerzen und Herzflimmern habilitiert. Die von mir zusammengetragenen Theoriebausteine traten nunmehr ihre ultimative Bewährungsprobe an. Mir war klar, dass ich mich in dem von Sloterdijk reklamierten Eifersuchtsmanagement zu bewähren hatte. Bis zur Verteidigung meiner Theorie sollte ich noch ziemlich genau ein halbes Jahr Zeit haben; Zeit, in der ich aus der (vermeintlich) komfortablen Position eines Beobachters zweiter Ordnung den Sturmlauf eines liebestrunkenen und liebesblöden Hasardeurs vor Augen geführt bekam; im Übrigen eine Rolle, die mir bestens vertraut war (siehe erstes Kapitel dieser Aufzeichznungen). Nur dass das Objekt der Begierde meine Frau war. Ich erinnerte mich der Analysen Sloterdijks. Seine Annahme, dass je ruhiger der Besitz gepflegt werde, desto eher die Eskalation verhindert werde, war zu überprüfen. Denn im Verbot mache sich bereits die Anwesenheit des Dritten bemerkbar,

„der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist […] Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung der Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen.“

Soweit der gute Peter Sloterdijk. Schon am 31. Juli (2007) kann ich in meinem Tagebuch nachvollziehen, wohin die Reise gehen sollte: Claudia und der Freund haben sich schon vor vielen Wochen in die Hand versprochen, gemeinsam Ski zu laufen. Und ich mag kaum glauben, dass ich in Sloterdijkscher Bierruhe notiert habe:

„Claudia begibt sich nach der Liebeserklärung des Freundes (die natürlich auch seiner Frau gegenüber alte Vorurteile und Einschätzungen bestätigt) in eine Situation, in der sie genau weiß, dass sie mehr ist als nur eine gute Freundin. Und eine solche Ausgangslage in einer Umgebung, die Claudia (die leidenschaftlichste Ski-Läuferin, die ich kenne) vermutlich erst so ganz und gar zu sich kommen lässt (in einer nicht vermeidbaren Zweisamkeit) - die halte ich für brisant und prickelnd. Sie unterscheidet sich auch von der Düsseldorfer Exkursion, insofern sie – Claudia – jetzt weiß, was sie vorher nur vermuten konnte! Das heißt, auch Claudia wird sich weiteren Entwicklungsschritten und Anforderungen stellen müssen, ob sie will oder nicht (da sollte man vermutlich schon eher wollen).“

Nun ja, sieben Wochen später hatten wir uns in einem stabilen Dreieck eingependelt; daneben war R. oft mit von der Partie. Zum 51sten Geburtstag von Claudia gab es Rosen über Rosen – die meisten und die schönsten von unserem Freund. Auch die alten Griechen wussten schon, worauf es ankam; Epicharmos (550 v.Chr. – 460 v.Chr.) wird der Aphorismus zugeschrieben: „Ein weiser Mann scheut das Bereuen, er überlegt seine Handlung vorher.“ Auch die alte Sloterdijksche Definition von Diskretion lässt sich hier bemühen, wonach diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. Die gemeinsamen Ski-Exkursionen standen schon in Aussicht, als ich für mich vermerkte – am 20.09.2007:

„Das Wochenende naht. Erstmals seit langer, langer Zeit begibt Claudia sich auf eine Fortbildung – von Freitag bis Sonntag; erstmals seit längerer Zeit ist dies ganz sicher auch ein Wochenende ohne den Freund. Auch er hat seinen Anteil daran, dass Claudia nun konsequenter erste eigene Schritte macht. Immerhin verbringt sie drei Tage an der Nahe mit Menschen, die sie allesamt nicht kennt. Ich freue mich darüber.“

Erst vier Jahre später - ich bearbeite die Steuererklärungen (auch für 2007) stelle ich fest, dass der gute Freund mit Claudia gemeinsam teilgenommen hat an diesem Zeichenkurs. Er hat sich im Übrigen auch schriftlich bei Claudia für diesen Zeichenkurs bedankt. Claudia hatte eine ursprünglich für Laura reservierte Buchung (nach deren Abspringen) für den guten Freund umgewidmet und auch buchungstechnisch beide Rechnungen beglichen. Es gehört mit zu meinem ungestillten Bedürfnis nach Schuldenerlass diese nun auch diskreten Strategien nüchtern einzuordnen – gewissermaßen als Auftakt zur Wiedergeburt des guten Freundes dort, wo vor 35 Jahren alles begonnen hatte. Die erste Woche der Herbstferien im Oktober war der Auftakt zu einer Reihe von Schi-Exkursionen, in deren Verlauf sich vielleicht auch erstmals die Frage stellte: Wer ist das Paar – wer und was passt hier zusammen. Die zweite Exkursion über den Nikolaustag hinweg nahm Claudia als Geschenk an und schrieb der Restfamilie:

„Ihr Lieben, finde es wirklich gut, dass Ihr mich bei meinen Ski-Touren unterstützt. Ich weiß genau, dass ohne Euch, ich diese Fahrten nicht machen könnte – allein schon wegen des Heyerbergs; habe außerdem den besten und tolerantesten Mann geheiratet, den man sich nur wünschen kann. Hoffe, Ihr habt einen schönen Nikolausabend, entspannte Tage ohne Mama/Moselperle. Hab Euch sehr lieb!!! Lasst die Bude stehen und sorgt für Biene!

Wahre Toleranz hat gewiss etwas von Selbstlosigkeit/Altruismus; man schreibt diese Haltung eher Engeln und anderen Außerirdischen zu. Es zeigt sich an meinem Tagebucheintrag vom 10.12.2007, dass ich zwar ein wenig weltentrückt erscheine, dabei aber ganz weit weg von der Haltung eines selbstlosen Menschenfreundes:

„Du kannst den Zauber nur selber nehmen; den Zauber und die Gelassenheit einer fragilen Situation, die nur Leichtes, Beglückendes und Positives für alle Beteiligten enthält. Du musst nur beginnen darüber zu reden und Eindrücke erwecken, die unangemessen sind. Das ist ein ausgeklügeltes, fragiles Gebilde, in dem der Freund und ich genau wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Nichts von alledem bedroht irgendwen, nichts von dem nimmt irgendwem irgendetwas – alle gewinnen […] Wäre es anders, würde all das, was uns gegenwärtig beschwingt und beglückt, vielleicht unwiederbringlich zerstört, zumindest irritiert. Ich weiß das, und ich lebe danach. Zum ersten Mal in all den Jahren herrscht diese unbedingte Entschiedenheit vor, von der Karl Otto Hondrich spricht, kein Taktieren, keine Unklarheiten, keine Rückfälle in alte Welten mehr. Von Anfang an habe ich die einmalige Chance begriffen und sie auch ergriffen, die in des Freundes Avancen und in seiner Offenbarung begründet liegen – ohne Angst; die habe ich auch nicht mehr vor mir selbst. Diese Haltung gibt mir Kraft und Sicherheit. Sie erlaubt mir ganz und gar zuerst bei mir selbst zu bleiben, ansonsten gäbe es den Freund in meinem Leben schon lange nicht mehr, womöglich keinen Heyerberg und auch keine Claudia mehr. Das alles ist so fundamental anders als noch vor zehn Jahren.“

Zukunft braucht Herkunft sagt Odo Marquard. Für die Zukunft erhoffe ich ein Fürsorgliches Finale! Wir schreiben inzwischen immerhin das Jahr 2021! Dass diese Hoffnung überhaupt im Raum steht, verdankt sich entscheidend der Tatsache im beginnenden Jahr 2008 nicht die Nerven verloren zu haben. Selbst diejenigen, die im Rückblick pauschal davon ausgehen, irgendwie im Leben klargekommen zu sein, werden unruhig, wenn sie sich nicht nur pauschal, sondern noch einmal en detail einlassen sollen auf das, was seinerzeit ihre Lebenswirklichkeit ausgemacht hat. Nun ist das zweifellos mit der Wirklichkeit so eine Sache. Ich will sie nicht überstrapazieren, sondern werde nun nach einem langen Auftakt den Zusammenhang zwischen Durchreise und Landnahme sehr kompakt wiedergeben:

Claudia und der Freund beschlossen – innerhalb eines Vierteljahres – über die Karnevalstage die dritte Ski-Exkursion – dieses Mal ins Montafon, das uns aus langjährigen eigenen Ski-Unternehmungen vertraut war. Mit zunehmendem Alter – und je nach Charaktertyp, Prägungen und Grundeinstellungen – schätzen Menschen den Zustand der Äquilibration. Damit beschreibt Jean Piaget einen Zustand, der uns nahelegt – geknüpft an ein authentisches Erleben – alles sei im Lot, in einem stabilen Gleichgewicht. In der Regel beruht diese Wahrnehmung auf einer (Auto-)Suggestion und verdeckt die Tatsache, dass wir ständig zwischen Assimilation, die uns leicht(er) leben lässt und Akkomodation hin- und herpendeln. Ständig sind wir gefordert zu prüfen, ob Geschehnisse, Anforderungen, Zumutungen eher mühelos in bestehende Problemlösungs- und Bewältigungsmuster zu integrieren sind, oder ob sie uns zu einer Erweiterung der gewohnten Muster veranlassen. Manchmal reicht der Hinweis: „Bring das in Ordnung, und wir reden nie wieder darüber!“ Manchmal reicht dieser Appell jedoch nicht hin. Mir lag ein solcher Kurzschluss ohnehin fern. Immer noch überwogen die Motive zu einem gediegenen Kontenausgleich.

Ein merkwürdiger Zufall fügt es, dass kein Geringerer als Bernhard Schlink in seinen 2020 veröffentlichen Abschiedsfarben in der von ihm konstruierten Dreiecksgeschichte den männlichen Hauptprotagonisten, Bastian, so agieren lässt, dass es zu einem Wochenendtripp  ins Montafon kommt. Von Seite 139 an beschreibt er die Fahrt – hoch in Gargellener Tal: „Dann kamen die Kurven, in denen sich die Straße zum Tal hochwand, dann das Tal, schneeweiß, sonnenbeschienen. Schon von weitem sah er die Pisten und die Lifte und die Skifahrer und Skifahrerinnen, zum Glück nicht viele […] Sie fuhren Ski, bis die Lifte abgestellt wurden. Sie lieferten sich kleine Rennen, überraschten einander mit plötzlichem Abschweifen von der Piste, fuhren vor- und hinter- und nebeneinander, als sei’s ein Tanz, saßen schwatzend und lachend im Lift. Als sie sich nach Sauna und Dusche zum Abendessen trafen, waren sie von schwereloser, beschwingter Müdigkeit…“

Claudia liebt genau diese beschwingende Atmosphäre, die tiefverschneiten Alpentäler – tagsüber bei strahlendem Sonnenschein und gegen Abend, mit einsetzender Dämmerung begleitet von leichtem Schneefall, der anderntags die Pisten bestens präpariert und die Welt einmal mehr in zauberhaftem Glanz erstrahlen lässt. Es fällt mir sogar leicht, zu begreifen, dass kaum eine eindrücklichere Wahrnehmung, kaum ein authentischeres Erleben vorstellbar ist, dass uns gleichzeitig unserer Endlichkeit vergewissert; ein memento mori der zuckersüßen wie der bitteren Art. Im Rückblick wissen wir – Beteiligten – alle miteinander, dass dieser Urlaub für den Freund den point of no return ausgelöst hat. Von nun an galt die Devise: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Alle Schranken und jede durch Loyalitätsimpulse begleitete Selbstdisziplinierung wurden orkanartig hinweggeweht. Auch wenn der reale, meteorologisch dokumentierte Orkan Emma erst am Tag des Showdowns – an einem Tag den es eigentlich nicht gibt, am 29. Februar – die Bühne weltuntergangsverheißend betrat, bewegten wir uns nach den Gargellener Tagen in stürmischer See. Der Freund bekundete seine feste Absicht künftig in Bigamie zu leben und machte meiner Frau einen Heiratsantrag und ließ keinen Zweifel mehr daran, dass Claudia die Frau seines Lebens sei.               

Ein kleiner Rückblick in das Jahr 1978:

Wie schreibt Detlef Köckner so verheißungsvoll: „Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen.“ Der Freund knüpfte an alte Zeiten an. Er war Claudias erster Freund. Die familiäre Enge und die Bedrängnisse beider schweißten sie zu einer Liebes- und Leidensgemeinschaft zusammen. In Briefen tauschten sie sich über ihre Nöte aus und fanden Trost in Gemeinsamkeit – in gemeinsamen Unternehmungen auf Augenhöhe; beide sind excellente Ski-Läufer. Das Fluidum dieser frühen Gemeinsamkeit erschloss sich in der gemeinsamen Lektüre dieser Briefe, die der Freund sorgfältig gehütet hatte, wie auf wundersame Weise, Vergangenheit und Gegenwart zerflossen in sich wechselseitig durchdringenden Interferenzen.

Aber kehren wir noch einmal kurz zurück in den Dezember 1978 – als mir Claudia bereits die Sinne vernebelte und mich wenige Wochen später zu semi-kriminellen Handlungen motivieren sollte. Kurz vor Weihnachten kam es zu einer amüsanten Begegnung in der seinerzeit einzigen Studentenkneipe, die Koblenz aufzuweisen hatte. Gemeinsam mit einem Wohngemeinschaftskumpel, meinem Bruder und dem verrückten Jopa (das ist der Meisterfotograf, der unsere Kindheit in ikonografisch so beeindruckender Weise verewigt hat – jenes Foto, das mich als einzigen Überlebenden der K9-Gang zeigt) waren wir zu einer Kneipentour aufgebrochen, ohne Frauen, die schmollend zu Hause saßen. Im Armen Josef kam es dann zu einer Zufallsbegegnung mit einer anderen – allerdings gemischten – Viererbande. Claudia war mit dem weiter oben bereits erwähnten R. – Claudias dritter, ohrfeigenerprobter Lebensgefährte –, einer Freundin und eben jenem besagten Freund, der in diesem Kapitel die Hauptrolle spielt, gleichermaßen auf einer Kneipentour. Es kam an diesem Abend im Armen Josef nur zu einem kurzen smalltalk. Jahre später erinnerten wir uns gemeinsam der durchaus delikaten Hintergründe, so dass ich heute die Kontinuitätsgedanken – man könnte auch von Vorhersehung sprechen – des guten Freundes durchaus nachvollziehen kann. So ziemlich genau dreißig Jahre später sollte die Vorsehung endlich zu ihrem Recht kommen. Es galt eben nur noch Claudia davon zu überzeugen.

Ich habe am 26.2.2008 um 4.10 Uhr folgende Eintragung im meinem Tagebuch vorgenommen – keine Bange: Alle Wiedergaben sind hygienezertifiziert und jungendfrei; dabei wird es auch im Fortgang meiner Erzählungen bleiben, deren einziges Motiv darin besteht, dem Unglauben und der Dankbarkeit eine Sprache zu geben, dass Claudia und ich uns heute tatsächlich auf ein gemeinsames fürsorgliches Finale einrichten! Vierzehn Jahre später feilen wir an der Gestaltung dieses fürsorglichen Finales - demnächst mit einem kleinen Tripp an den Bodensee.

„Fünf Tage nach meinem Geburtstag scheint sich etwas anzudeuten, wie eine Zeitenwende – ein Datum, das Vorher und Nachher deutlich voneinander scheidet. Über das schimmernde Glück, über das unbeschwerte einer silber geadelten Ehe scheint sich nun doch der Schatten einer beschwerten und von den Dynamiken des Eros beflügelten Zukunft zu senken. Des Freundes Mail vom Juli 2007, mit der er mir gegenüber seine Liebe – damals vielleicht noch seine Verliebtheit -  offenbart, hat Ende Februar eine Dimension erreicht, die uns alle einer nunmehr doch nicht mehr so ohne weiteres steuer- und kontrollierbaren Dynamik aussetzt: Der Freund ist am Samstag auf meine Einladung hin unser Gast gewesen. Nach einem schönen Samstag in seiner inzwischen ritualisierten Form (Wanderung nach Winningen – Abendessen in der Hoffnung – anschließend Wolf Maahn im Café Hahn) haben Claudia und der Freund ihr eigenes Ritual (Trinken bis in die frühen Morgenstunden) gepflegt. Wie will man mit der Frau seines Lebens leben?“

Es deutete sich ein Dilemma an, das wir wohl alle miteinander unterschätzten; selbst ich geriet jetzt in eine Situation, die durch ein Handeln im Sinne eines Nicht-Handelns, wohl kaum noch zu händeln war. Hier spielte nun Vieles ineinander, was einer schnellen Lösung des Dilemmas Vorschub leistete und einen weiteren Handlungsstau nicht zuließ. Eigentlich war das Ende einer Haltung markiert, die – wie man so treffend bemerkt – als Gestalt gewordene Inkonsequenz irgendwann nicht mehr trägt: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ führt schließlich zu einem Realitätsverlust, man könnte auch sagen zu einem Hitzestau, der nach Lüftung giert. Dass die Triebabfuhr nun mit Emma zu einem aufgewachsenen Orkan geraten musste, war letztlich auch nicht mein Wunschtraum. Im gediegenen Rückblick nach immerhin inzwischen mehr als 14 Jahren liest sich der letzte Akt dann auch wie das Drehbuch zu unserer Lieblingsserie – Claudia und ich lassen keine Folge des Bergdoktors aus (und wenn wir tatsächlich einen aktuellen Sendeplatz verpasst haben, muss das über die Mediathek nachgeholt werden).

Wir handelten das Drehbuch gemeinsam aus – unter Beteiligung aller drei Protagonisten (sollte mich der Mut nicht gänzlich verlassen, werde ich der Geschichte irgendwann auch einmal den ihr gebührenden literarischen Rang verleihen). Hier sei nur so viel angedeutet, dass ich so tapfer war, Claudia zu begleiten an den Koblenzer Hauptbahnhof. Dort ist sie in den Zug nach Düsseldorf gestiegen und am 29. Februar – das ist der Tag, den es nicht gibt – mit dem Freund wieder nach Koblenz zurückgekehrt. Emma erreichte in der Nacht vom 28. auf den 29. Februar Spitzengeschwindigkeiten bis zu 150km/h. Ich verbrachte diese Nacht alleine – wachend und schreibend; anders hätte ich nicht standgehalten:

 

Ich danke Euch für diese Nacht

Es ist ein Sturm in dieser Nacht.
Er tobt wie ein Orkan in meinem Herzen,
Hat mich um meine Seelenruh gebracht,
Gebar die Mutter aller Schmerzen.

Das Wüten der ganzen Welt in meiner Seele,
Doch mein Verstand bleibt kühl und klar:

Von nun an können alle sehen
Und müssen sich und andre überstehen.
Ein Sturm zieht über's Land,
Regiert gebieterisch mit harter Hand.

Und was uns ankommt hart und süß zugleich,
Das macht uns arm und reich zugleich.
Dionysos regiert in dieser Welt,
In der kein Stein den andern hält.

Er lässt die alte Welt vergehen,
Und eine neue wird entstehen!

Dionysos, der Gott des Leidens und des Sterbens
Treibt die Veränderung und drängt das Leben.
Der Eros ist die Sprache allen Werbens
Und lässt die Seelen ungleich beben.

So lad ich uns nun alle ein
Den Weg zu gehen - gemeinsam und allein!

Wie sehr liebst Du - mein lieber Freund - dies einzigartig Weib,
Nimmst einen Ehegatten gar in Kauf?
Ich liebe diese Frau, bei der ich bleib
Seit vielen Tagen schon, in denen Du bestimmst der Welten Lauf,

Ich liebe sie und kann's ertragen
Und will den Weg in die ménage à trois gar wagen;
Wohlwissend das an den Tag da drängt,
Was alte Ehen treibt und engt!

Doch bleibt Dein Weg ein Weg zu Dir;
Er führt Dich hin zu ihr und ihr!
Und Freundschaft mag uns zeigen,
Wohin sich unsre Herzen neigen.

 

 Ein paartherapeutisches Husarenstück - Ein Nullsummenspiel (20b) 

Zu diesem Gedicht entstand ein Text, mit dem ich unserer gemeinsamen Geschichte eine Wende geben wollte. Der 28./29.2.2008 markiert einen Wendepunkt, an dem sich mit aller Deutlichkeit ein Vorher und ein Nachher scheiden lassen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das Motiv für das gegenwärtige Unterfangen, die Ereignisse aus den Jahren 2007/08 und auch darüber hinausgehend vor allem bis 2012 bzw. 2014 noch einmal durch eine analytische Brille betrachten zu wollen – sine ira et studio – sich primär aus dem Umstand nährt, dass uns keine wirklich erfolgreiche Anknüpfung gelungen ist. Mein Vorsprung in der Einschätzung solcher Dynamiken resultierte ja aus meiner eigenen desaströsen Dreiecksgeschichte aus dem Jahr 1997. Vermutlich ist selten eine Lehre aus dionysisch-erotischen Verirrungen so gründlich und so allumfassend gezogen worden. Meine beiden Mitprotagonisten von vor 14 Jahren haben da leider auf halbem Wege abgebrochen.

Nüchtern zu bilanzieren bleibt – nach einem kurzen Aufschwung – schlicht eine vollkommen zerstörte Beziehung der in der Tat eklatant füreinander ungeeigneten Eheleute (im folgenden Brief – Hera und Zeus), deren Auflösung sich über viele Jahre hinzog. Die Kontrahenten rede(te)n nur noch über Anwälte miteinander. Die beiden seinerzeit innig Verbundenen pflegen – vordergründig betrachtet – nur noch eine distanzierte und abgekühlte Begegnungskultur; es herrscht eine Ernüchterung aller Orten vor. Das hätte man früher haben können. In meinem Brief konnte ich endlich auch meinen Erkenntnissen und den daraus folgenden Argumenten Raum geben – aber aus guten Gründen erst nach der eingetretenen Wende:

                „Liebe Claudia, lieber Freund,

ich konnte es Euch nicht sagen. Verliebte leben auf der Venus – ich lebe auf dem Mars. Eigentlich finden wir da keine gemeinsame Sprache. Dies wir so ungemein deutlich, wenn man betrachtet, worum es eigentlich geht. Zu den vielen aufschlussreichen Studien zu Dreiecksbeziehungen gehört an vorderster Stelle Hans Jellouscheks Standardwerk: Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung. Ich versuche jetzt einmal die letzten Zeilen meines Gedichts zu erläutern und unserem damit verbundenen Dilemma etwas näher zu kommen:

Doch bleibt Dein Weg zu Dir –
er führt Dich hin zu ihr und ihr!

Und dies auf jeweils eigene Weise, denn: Unsere ménage à trois in allen Ehren. Aber in dem primären Dreieck bin ich nicht gemeint, ich habe damit nichts zu tun!!! Und ich will damit auch nichts zu tun haben. Und das konnte ich im Vorfeld des 29. Februar nicht sagen. Aber jetzt ist es an der Zeit tacheles zu reden:

Was Ihr beiden miteinander entwickelt, das ist Eure Sache: Im primären Dreieck gibt es keinen Dritten im Bunde, sondern nur eine Dritte, und das ist Deine Frau. Das ist deshalb so eindeutig, weil das von Jellouschek analysierte Dreieck ein Dreieck ist, in dem Claudia Semeles Rolle hat. Sie ist die heimliche Geliebte (ich möchte hier nicht auf die mails Deiner Frau vom Juli vergangenen Jahres eingehen). Deiner Frau kommt die Rolle der Hera, die der betrogenen Ehefrau zu, und Du, lieber Freund hast die Zeus-Rolle. Ihr beiden kennt dieses Buch. Die Eindeutigkeit dieses Dreiecks ergibt sich schlicht aus der Tatsache, dass Du – aus welchen Gründen auch immer – Claudia als heimliche Geliebte in Deiner Wohnung empfängst („wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“). Du hast keinen Ansatz gemacht, Deine Verhältnisse zu klären. Wenn Ihr in absehbarer Zeit erwachen werdet, werden diese Zusammenhänge auch Euch glasklar erscheinen. Die Haltung der drei Affen – nicht reden, nicht sehen, nicht hören – wird hier nicht wirklich weiterhelfen!

Das ist der auch der Grund, warum ich von Eurer Sache spreche. Das zweite Dreieck ist ein sekundäres, gleichwohl ein brisantes. Es ist umso brisanter, weil das primäre Dreieck überhaupt nicht geklärt ist. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich für mich jetzt auch nachvollziehen, warum Du – mein Freund – ein wirkliches Problem hast, dieses ‚nicht gesellschaftsfähige Dreieck‘ zu Hause auch wirklich transparent zu machen. Du hast noch einen privaten Rückzugsraum und wirst ihn bis auf weiteres haben. Gleichwohl ist da Deine eigene Familie, und natürlich die Beziehung zu Deiner Frau, die völlig ungeklärt ist, die nach wie vor mit dem Prinzip der ‚Heimlichen Geliebten‘ konfrontiert wird. Hinweise auf das, was daran ungeklärt ist, finden sich haufenweise bei Jelllouschek. Und daran möchte ich persönlich nicht beteiligt sein. Claudia ist daran unabdingbar und ohne jedes Wenn und Aber beteiligt, weil sie verstrickt ist in dieses primäre Dreieck.

Und jetzt kommen die Delikatessen – und über die sollten sich alle Beteiligten im Klaren sein:

  1. ‚Wenn wir uns außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros. (Julia Onken, Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag, München 1991).‘
  2. ‚Das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeugt Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt heute nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander kommen – wie Romeo und Julia –, sie liegt vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen (zuweilen) Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen kann (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt 1991).‘

Ich beanspruche für mich, da einen Erfahrungsvorsprung zu haben. Ich muss ihn ja haben mit meiner desaströsen Vergangenheit. Und so habe ich kommen sehen, was da kam seit dem Juni/Juli 2007.

Was mein Dilemma vollständig und ausweglos gemacht hat, hängt damit zusammen, dass ich keinerlei Chance sah – vor der Zeit – auf etwas hinzuweisen, was Hans Jellouschek zur Conclusio seiner Gesamtargumentation macht. In Liebesbeziehungen mit sexueller Ausprägung regiert Dionysos – er verkörpert im Gegensatz zu Apoll, der für das Vernunftprinzip steht, die Leidenschaft und den Eros. Und es war und ist selbstverständlich nicht meine Aufgabe, Euch in dieser Hinsicht zu belehren. Aber es wird Euren gemeinsamen und individuellen Lernprozess fortan begleiten:

„Dionysos ist weder ein Gott der freundlichen Harmonie, der niemandem weh tut, noch ist er ein Gott der schnellen Lösungen, die die alten Ordnungen wieder herstellen. Dionysos ist ein Gott des Leidens und des Sterbens, ein Gott, der immer wieder zugrunde geht. Sich auf ihn einzulassen heißt, mit dem Tod Bekanntschaft zu machen. Semele lernt diesen Tod kennen… Sie lässt die heimliche Geliebte sterben: mit ihrem Wunsch den Zeus in seiner wahren Gestalt zu sehen. Damit gibt sie das heimliche Dunkel auf, lässt den frühlingshaften Anfang los. Sie nimmt Abschied von der strahlenden Kind-Frau (oder von dem Elchkälblein, das gar nichts gemacht hat), in die manche Geliebte ihrerseits so verliebt sind, dass sie sie nicht loslassen können, weil ihre ein besonderer Charme, ein besonderer Zauber, eben der Zauber des Anfangs, zu eigen ist. Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt zugleich damit ihren Vater los und sich als sein Kind.“

Aus all dem folgt, warum unser Dreieck auf Veränderung drängt:

  1. Wir sind – wie zu sehen – nicht das primäre Dreieck, sondern das sekundär-nachgeordnete. Alle therapeutischen Erfahrungen legen nahe, dass nichts gelingen kann, wenn da nicht aufgeräumt wird. Claudia hat dabei die fast singuläre Rolle heimliche (Deiner Frau gegenüber) und unheimliche Geliebte (mir gegenüber) zu sein. Dies ist eine ganz besondere Hypothek, von der ich seit langem weiß; ein Wissen, das Ihr Euch aneignen müsst.
  2. Jellouschek ist mit vielen anderen der Überzeugung, dass Dionysos ebenfalls seine Potentiale nicht entfalten kann, wenn Zeus mit Semele und Hera ein ‚göttliches Dreigestirn‘ bilden, also das Dreieck als offizielle Beziehungsform etablieren würde: ‚Dies ist eine in der Anfangssituation der Verliebtheit oft auftauchende Phantasie: ein friedliches Zusammenleben zu dritt… Ich will nicht bestreiten, dass wir, was Vielfalt der Beziehungsformen angeht, einen sehr eingeengten Horizont haben. Allerdings bin ich sicher, dass ein bruchloser Übergang  von der Zweierbeziehung in einen Dreiecksbeziehung und Vorstellungen von einem friedlichen In-, Mit- und Nebeneinander zum Scheitern verurteilt sind. So, wie ich dieser Vorstellung begegne, ist sie meist eine sehr regressiv-kindliche Phantasie. Es ist der Versuch Dionysos zu verniedlichen. Was durch ihn bei allen dreien (vieren) aufgebrochen ist, ist so tief  und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann. Da, wo es versucht wird, geht es bald mindestens auf Kosten eines der drei, und Eifersüchteleien, offen oder verdeckte Feindseligkeiten machen dem Experiment schnell ein Ende.‘

Und dabei wird hier sogar noch völlig abgesehen von der fortgesetzten Kränkungsgeschichte deiner Frau gegenüber, die endlich ein Recht auf Offenheit hat.

Ich hoffe meine moderate Marsperspektive erreicht die Venus-Reisenden irgendwann. Was irreversibel angestoßen worden ist, das hat mit Jellouschek alle krisenhaften Attribute und alle systemisch sattsam bekannten Hintergründe – vom schlichten Wunsch, einmal wieder gut zu ficken bis hin zu Tod und Trauer, ungelösten Bindungen und unaufgeräumten inneren Behausungen. Ich habe vor zehn Jahren angefangen meine Bude zu entrümpeln, zu lüften, basierend auf dem Sturm, der mein/unser Leben 1996/97 durcheinander gewirbelt hat. Emma hat nunmehr das ihrige getan, um auf Augenhöhe aufräumen zu können.

Euer Jupp

 

Dass uns nach dem Hinwegfegen letzter Loyalitätsreste zunächst das Abrutschen in einen Kriegsmodus drohte, zeigte sich an dem hieran anknüpfenden Briefwechsel. Ungewöhnlich genug hatten wir zu dritt versucht, irgendeine Perspektive zu erkennen, um einen Ausweg aus dem eigetretenen Desaster zu finden. Nach meinem Brief an die beiden Venusmenschen schrieb mir der Freund am 2. März 2008:

               

„Lieber Jupp,

ich hab mir gerade noch einmal das durchgelesen, was du in ‚stürmischer Nacht‘ verzapft hast. Mir ist die Differenzierung primäres/sekundäres Dreieck erst durch diesen bemerkenswerten Brief zugänglich geworden, und ich kann nun sehr wohl nachvollziehen, dass du diese Trennung betonst, dich aus dem primären Dreieck heraushalten willst. Es ist in der Tat

  1. an mir und Claudia gelegen, unsere Beziehung vor dem Hintergrund meiner noch bestehenden Ehe mit meiner Frau zu definieren und
  2. liegt es an mir, den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und meiner Familie das Ergebnis aus 1. Endlich mitzuteilen.

Damit hast du in der Tat nichts zu tun und dennoch ist es dir ein Anliegen ‚Tacheles‘ zu reden, wie du schreibst, als ‚betroffener Zuschauer‘. Das hast du getan mit deinem Brief und in unserem heutigen Gespräch, für das ich mich bedanke. ‚Infantile Regression‘ lautete der terminus technicus für das Spiel, das C. und ich im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt haben. Da sind wir (C. und ich) uns viel zu ähnlich, als dass ich das nun abstreiten könnte oder wollte.

Der heutige Tag, die stürmische Nacht davor, werden tiefgreifende Folgen haben für uns Drei. Das sehe ich, wie du. Nichts bleibt ohne Folgen. Aber ich habe seit der Trennung von meiner Frau keine Angst mehr vor Veränderung, kann diese mehr denn je als Chance begreifen. Was auch immer sich nun als Chance (für jeden von uns Dreien) herausstellen wird – der Käs ist noch nicht gegessen. Die ménage à trois eine Option, die uns ‚in allen Ehren‘ in der eigentlichen Sache nicht wirklich weiter bringt.

Ich habe vor einigen Wochen erst angefangen, ‚Die Rolle der Geliebten…‘ von HJ zu lesen, habe leider nicht die Zeit gefunden, konsequent dran zu bleiben. Das werde ich jetzt nachholen.

Ich danke dir, Jupp,  und natürlich Claudia, für all das, was ihr mir in den letzten Monaten gegeben habt. Das war nicht wenig. Ich frage mich nun, was kann davon bleiben und was ist der Preis??? Kann unsere (J + C + F) Freundschaft weiter bestehen? Das werden die nächsten Wochen zeigen, und ich wünsche mir die Muße, auf die Antworten auf meine Fragen abzuwarten.

Ich fand, es war ein bemerkenswerter Tag heute und sage nun ‚gute Nacht‘.

Ganz liebe Grüße

Der Freund

 

Viele offene Fragen standen im Raum. Und dennoch blieb mir in meiner Antwort nichts anderes übrig, als die Perspektive des Freundes zu registrieren. Wenn man nur wenige Zentimeter vor dem eigenen Spiegelbild steht, lassen sich keine Konturen erkennen; eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden:

               

„Lieber Freund,

ich habe deinen Brief mit Interesse zur Kenntnis genommen und das meiste – wie ich hoffe – auch verstanden. Was ich nicht zu deuten weiß, vielleicht ist es einfach ein Versehen, möglicherweise auch das Gegenteil, ist der einleitende Satz: ‚… was du in stürmischer Nacht verzapft hast‘. ‚Verzapfen‘ wird, egal wo du nachschaust, immer nur pejorativ/negativ konnotiert: Unsinn, wirres Zeug, Mist verzapfen, Unfug erzählen!

So ganz passt das, was sich anschließt, nicht dazu. ‚Ich danke euch für diese Nacht‘, die Nacht, die ich unter etwas anderen Prämissen durchlebt habe, als sie sich dann am Samstag darstellten, ist ein Eingeständnis meiner Betroffenheit. Und ich wiederhole noch einmal: Keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, keine Stunde, keine Minute länger hätte dieser Schwebezustand, der seine ‚kritische Masse‘ erreicht hatte, andauern können. Dass mir diese Situation die Gelegenheit verschafft hat, genauer hinzuschauen und etwas zu erkennen, was bis zu diesem Zeitpunkt niemand sehen konnte/wollte, ist rein logisch und argumentativ der eigentliche Gewinn. Das primäre vom sekundären Dreieck zu unterscheiden, hat den Durchbruch und die rasante dynamische Veränderung ermöglicht, die seit Freitag, dem 29.2.2008 eingetreten ist. Was es mir möglich macht, dir heute zu antworten und die Form, die ich dabei wähle, hängen damit zusammen, dass du dich in einer vergleichbaren Situation befindest, wie ich 1997. Und dabei bin ich der festen Überzeugung, dass die Rangfolge, der du folgst, anders aussehen wird:

Ich habe am Samstag u.a. gesagt, dass du jetzt im Kontext des primären und des sekundären Dreiecks zum ersten Mal wieder deine Frau sehen kannst. Du kannst überhaupt jetzt erst sehen, dass du auf einem Weg warst – bevor du auch nur ansatzweise die Beziehung zu deiner Frau geklärt hattest –, dir eine andere Frau an die Seite zu stellen, die heimliche Geliebte. Alle, aber auch alle nur erdenklichen Attribute einer klassischen heimlichen Liebe sind erfüllt. Du hast dich in eine Beziehung(sphanatasie) hineingesteigert, die du bis zum vergangenen Wochenende vor deiner Frau verborgen hast.

Deine Frau hat mir am 28. Juni 2007 geschrieben: ‚…schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Er hat mir jedesmal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich also die ganze Zeit angelogen. Das ist, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob der Brief richtig ist an dich, aber da ich weiß, dass du schon was ahnst, ist es vielleicht ganz gut. Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war so in brass, da ist es eben passiert. Was mich schrecklich verletzt, ist eigentlich, dass ich belogen wurde und dass er mich direkt eintauscht gegen eine neue…‘

Die in deiner mail mir gegenüber aufgemachte Prioritätenfolge sehe ich nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht an dir und Claudia, erstens eure Beziehung ‚vor dem Hintergrund deiner noch bestehenden Ehe mit Bärbel zu klären‘ und dann zweitens den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und deiner Familie das Ergebnis aus Punkt eins endlich mitzuteilen.

Wenn du jemals wieder einen Arsch in die Hose bekommen willst, dann kann es nur um die umgekehrte Reihenfolge gehen. Es tut mir sehr leid, dass du das zumindest in deiner mail, die du mir zugegebenermaßen sehr früh, nämlich schon am 2. März um 00.20 Uhr gesendet hast, noch nicht sehen konntest. Für dich kann’s ums Verrecken nur darum gehen erstens endlich mit deiner Frau zu klären, was dich im letzten ¾ Jahr umgetrieben hat, damit ihr endlich die Chance bekommt, das zu betrachten, was euer gemeinsames Leben von fast 30 Jahren ausmacht; auch die Momente und Ressourcen, die einem noch einmal deutlich machen, wen man geliebt hat und liebt, wirklich liebt – ohne die tausend Sonnen eines wunderbaren Frühlings. Vielleicht ist es ja doch der Mensch, der einem drei Kinder geboren hat, und von dem man weiß, dass es einen schier umgebracht hätte, wenn er dabei zum Beispiel auf der Strecke geblieben wäre. Es ist sicherlich an der Zeit, mit all den Demütigungen aufzuräumen, die eine fortgesetzte Missachtung des Menschen zur Grundlage hatte, den man geheiratet hat, mit dem man drei Kinder in diese Welt gebracht hat, von denen das jüngste mal eben vierzehn ist,  und von denen der Sohn eine Bedürftigkeit an den Tag legt, die einen unter Umständen an die eigene Bedürftigkeit aus Kindertagen erinnert, und von denen das älteste gerade gut genug ist, es zu belügen, um die heimliche Liebe nicht zu gefährden und preiszugeben.

Nein, mein Freund, Tacheles wird aus alledem, wenn du spürst, dass die von dir vorgegebene Reihenfolge geradezu absurd wirkt. Du wirst sehen und erfahren müssen, was Vorrang beansprucht. Das Ergebnis aus deinem ersten Punkt  ist doch längst eindeutig: Der Frühling ist vorbei. Vielleicht wirst Du Claudia irgendwann dafür dankbar sein, dass ihr diesen Frühling haben durftet, so wie sie dir dafür dankbar ist! Aber Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt ihren Vater endlich los und sich als sein Kind. Claudia hat die große Chance, diesen Entwicklungsschritt für sich zu nutzen. Für deine weitere Entwicklung gibt es Semele nicht mehr! Du wirst künftig Claudia als eine erwachsene Frau sehen. Und dieses Wissen und diese Intuition hat ganz offensichtlich ihr Handeln am Freitag geleitet.

Und bitte: Der Begriff der ‚regressiv-kindlichen Phantasie‘ ist Jellouscheks Bezeichnung eines Verhaltens, das etwas retten will, was nicht zu retten ist. Und insofern ist es eben nicht der terminus technicus für ‚das Spiel, das C. und du im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt habt‘. Nein, die ‚regressiv-kindliche Phantasie‘ bezieht sich einzig auf den Versuch etwas von dem zu retten, was diesen Frühling ausgemacht hat. Und es ist mit Jellouschek der Versuch, ‚Dionysos zu verniedlichen‘. Und er gibt uns eine richtungsweisende Perspektive an die Hand: ‚Was durch ihn (Dionysos) bei allen dreien (und ich sag bei uns allen vieren) aufgebrochen ist bzw. aufbricht, ist so tief und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann.‘

Also nochmals, es tut mir leid, deine Reihenfolge ist absurd. Insofern ist der Käse, der zu essen ist, mehr als reif: Das ganze Krisenszenario, das mit Kränkung, Verlust, Tod und Trauer, alten Eltern und um ihre Perspektiven ringenden Kinder aufgebrochen ist, das ist überhaupt nicht eines, bei dem es darum geht – wie du sagst –, die Beziehung zwischen Claudia und dir vor dem Hintergrund der noch bestehenden Ehe mit deiner Frau zu definieren und ihr das dann endlich mitzuteilen. Das ist absurd – das ist Absurdistan in galaktischer Dimension. Wenn überhaupt, kann es nur um das Umgekehrte gehen. Aber du hast Claudia diesbezüglich gar nichts mitzuteilen. Du kannst nur endlich die Beziehung zu DEINER Frau klären. Ansonsten ist es so, dass ihr – Claudia und du – jetzt damit konfrontiert werdet, euch zu überstehen. Und ich hoffe für euch, dass dies in einer wertschätzenden Weise möglich sein wird. Aber der Frühling ist vorbei. Und nur derjenige wird jemals wieder einen Arsch in seiner Hose haben, der die damit angestoßenen Entwicklungschancen zu nutzen weiß. Der Baustellen sind genug!

Nachdem ich mir die Mails deiner Frau noch einmal durchgelesen habe, verspüre ich das unbändige Bedürfnis, ihr die Mailwechsel und Briefe der letzten Tage zukommen zu lassen. Sie hat es an erster Stelle verdient, eine Perspektive und Klarheiten zu bekommen. Sie ist das eigentliche Opfer des letzten ¾-Jahres. Aber ich werde das nicht tun. Das ist deine Sache, wenn du begriffen hast, wie die Prioritäten liegen.

Dein Freund Jupp

 

Bei diesem Chaos drängt sich Dirk Baeckers Lebensgleichnis geradezu auf:

 „Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

In den Tagen um den 29. Februar 2008 herum noch von Spaß zu reden, käme einem recht zynischen Blickwinkel gleich. Hier waren sich einige Menschen viel zu nahe gekommen, einige Tote lagen auf dem Spielfeld, der Ball war schon lange nicht mehr zu kontrollieren und ständig wechselnde Torpositionen trugen nicht eben zu einer halbwegs verlässlichen Orientierung bei, ein vertrauenswürdiger Schiedsrichter nicht in Sichtweite – eine Situation zum Verrücktwerden.

Um zu entscheiden, was sich nun in den nächsten gut vier Jahren zutrug, kann man pendeln zwischen Schmierenkomödie und Tragikomödie. Gänzlich auf der Strecke blieb die Frau des Freundes. Der hatte ich noch im März 2008 geschrieben:

         „Meine Liebe,

das ist eine zweite, späte Antwort auf deine mail vom 28. Juni2007. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Das, was ich dir am 29. Juni 2007 geschrieben habe, entspricht nach wie vor meiner Überzeugung. Aber es war zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht die angemessene Antwort auf deine mail. Sie beruhte vor allem, was deinen Mann anbetrifft, auf einer irrigen Voraussetzung. Ich habe damals geschrieben, der Unterschied zwischen ihm und mir sei, dass ihn keine andere Frau blockiere. Wie dumm!!! – auch mich hat 1997 keine andere Frau blockiert, sondern ich bin in eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Frau gegangen und wollte mir dazu eine andere Frau an die Seite stellen. Wie dumm, könnte man jetzt sagen. Aber es war – bezogen auf die lange Sicht und jetzt aus dem Rückblick von elf Jahren – überaus klug. Es hat mich in eine Krise hineingeführt, die alle unbewältigten Konflikte, alle Baustellen, die ich nicht zu Ende geführt hatte, zum Vorschein brachte. Und die Frau, die mich wirklich ‚blockiert‘ hat und die alle Freiheit meines Handelns so über die Maßen eingeschränkt hat, war Claudia.  Das Weggehen war der Beginn eines langen Weges zurück zu ihr.

Deinem Mann ist es haargenau so ergangen. Nicht Claudia hat ihn blockiert oder blockiert ihn. Nein, sein Versuch, sie sich an die Seite zu stellen, entspricht genau dem, was ich 1997 gemacht habe. Es sind auch bei ihm die alten, die uralten Baustellen, und es ist vermutlich eure ungeklärte Beziehung, die ihn wirklich blockiert für alles entschiedene und freie Aufbrechen in eine neue Welt. Ich glaube, das kann er jetzt zum ersten Mal wirklich sehen, genau wie ich damals. Claudias ‚Job‘ ist erledigt. Die beiden können dankbar sein für das ¾ Jahr, das sie miteinander hatten. Das, was sie hatten, ist definitiv vorbei und jetzt beginnt etwas Neues.

Ich möchte dir von meiner Geschichte nur so viel erzählen, dass es sich so unendlich gelohnt hat, die seinerzeitige tiefe Krise zu einer wirklich neuen Orientierung zu nutzen. Das war ein langer Weg, der Claudia und mich wieder zusammengeführt hat. Ohne das, was in den letzten zehn Jahren gewachsen ist, hätte ich das letzte ¾ Jahr nicht überstanden. Die Welt ist für mich jetzt wieder klar. Sie ist so klar, wie sie nie war.

Eure Zeitrechnung in dem Sinne, dass ihr jetzt tatsächlich gleichermaßen zurück, aber vielleicht doch auch nach vorne schauen könnt, die beginnt erst jetzt; jetzt, nachdem dein Mann definitiv erfahren hat, dass es keinen Weg mit Claudia oder irgendeiner anderen Frau geben kann, wenn er nicht mir dir tatsächlich das anschaut, was euer gemeinsame Geschichte über so viele Jahre/Jahrzehnte ist. Dazu braucht er Zeit. Er muss und wird seinen unendlichen Schmerz verkraften und verarbeiten. Das ist nicht allein und vielleicht am wenigsten der Schmerz um die ‚verlorene‘ Claudia, sondern so, wie ich ihn erlebt habe, der Schmerz über so viel Versäumtes, Verpasstes, der Schmerz über so viele Verletzungen, die für ihn schon in der Kindheit beginnen (ich kenne kein vergleichbares Elternhaus, wie das deines Mannes, in dem die Kinder in ihrer Bedürftigkeit so allein gelassen worden sind). Und euer Sohn droht(e), was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, vielleicht in eine ähnliche Situation zu geraten. Aber dein Mann ist so anders. Er ist ein toller Mann – und ich kann Claudia verstehen. Und ich kann dich verstehen: Ich hoffe sehr für euch, dass du deinen Mann wieder sehen kannst und dass du all die tollen Seiten an ihm entdecken kannst. Und ich hoffe inständig, dass dein Mann dich wieder sehen kann und all die tollen Seiten an dir wieder und neu entdecken kann.

Ich wünsch euch einen langen Atem – ich selbst weiß nur, dass es sich lohnt und ich grüße dich sehr herzlich Jupp

 

Die Frau unseres Freundes hatte keinen Einblick in mein schuldenbedingtes heilsökonomisches Defizit. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ich in unserem gemeinsamen Seelengrundbuch eine beträchtliche Grundschuld hatte eintragen lassen, deren Löschungsbewilligung nicht in Aussicht stand. Nur die Erfahrung, wie man selbst zu einem ansehnlichen Schuldenkonto gelangt – mit anschließender Privatinsolvenz, konnte hier die Voraussetzungen für einen annähernden Schuldenerlass begünstigen. Und nur so ist ihre – die Antwort der Frau unseres Freundes zu verstehen, die vor allem ein gewisses Unverständnis für meine Haltung signalisierte. Dass auch das Ehekonto unserer Freunde offene Rechnungen beinhaltete, war mir genauso wenig klar:

 

„Lieber Jupp,

es ist in meinem Inneren ein heilloses Durcheinander. Meine erste Frage an dich ist, wie konntest du damit ein Dreivierteljahr leben? Zu wissen, die Frau, die ich liebe, nähert sich einem Freund an in meinem eigenen Haus? Bist du ein Heiliger? Oder wie kann man damit leben? Ich war am Anfang wahnsinnig eifersüchtig. Das alles ist nun leider passiert. Warum haben beide das alles heimlich gemacht? Es wusste doch jeder! Warum hat mich mein Mann teilweise beschimpft, ich wäre all dem intellektuell nicht gewachsen, und ich müsste endlich was aus meinem Leben machen. Heute weiß ich natürlich, warum er das gemacht hat. Ich war total verletzt, und da hatte er mit deiner Frau im Rücken leichtes Spiel. Er war stark, so wie ich damals mit Michael. Du weißt sicher davon.

Es ist schlimm zu sehen, dass es meinem Mann dreckig geht. Aber er hat das auch als schlimm empfunden, als es mir so ging, als er im vergangenen Jahr auszog. Ich bin doch ziemlich blöd, dass es mir nahe geht, dass er leidet. Eigentlich müsste ich doch Schadenfreude haben. Aber die habe ich weiß Gott nicht. Ich müsste mich eigentlich freuen, dass er mir wieder ein bisschen näher kommt, aber ich habe sooooooo furchtbare Angst. Und ich weiß nicht, ob ich das schaffe, dass wir wieder ein Paar werden, das sich liebt. Ich weiß auch, das liegt nicht nur an mir. Ich stehe vor einem riesigen Berg.

In deinem Brief schreibst du, ich bin froh, dass die beiden sich hatten. Es hört sich für mich so an, als ob du Claudia für solche Zwecke schon einmal verleihst. Ich weiß, das ist Quatsch, aber es hört sich so an.

So, eine Nacht ist jetzt zwischen den Briefen. Mein Mann ist wieder aus Frankfurt zurück, und wir haben uns für Samstag mit den Kindern zum Essen verabredet. Ich glaube, ich werde ihm den Vorschlag machen, noch einmal mit den Leseabenden weiter zu machen. Ich weiß, er hat genau so viel Angst davor, was jetzt kommt. Kann man jemanden eigentlich noch spüren nach so vielen Verletzungen, ist da tatsächlich noch etwas? Wie ist so etwas möglich? Wie gehst du jetzt mit der Situation um? Ich weiß, du kannst mir all diese Fragen nicht beantworten, aber es tut gut, jemandem zu schreiben, der in der gleichen Situation war.

Ich muss noch hinzufügen, ich habe auch Bekanntschaften mit Männern geschlossen. Es waren auch wirklich nette dabei. Aber irgendetwas war immer in mir, das mir sagte: Das ist ja alles ganz nett, aber eben nur ganz nett! Ich glaube, man braucht das auch, um sein Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren; war ja bei ihm auch so. All das hat vielleicht auch mit der langen Zeit zu tun, mit den Höhen und Tiefen, die ich mit ihm erlebt habe. Auf jeden Fall will ich den Kampf um unsere Ehe wieder aufnehmen. Jetzt, wo ich weiß, dass er auch mit mir kämpfen will.

So, lieber Jupp, das waren nur Ausschnitte aus meinem Kopf. Ich habe erst überlegt, ob ich dir schreibe. Aber ich glaube, es war richtig. Es gibt noch so viel Ungeklärtes, aber ich, oder besser wir, haben ja noch viel Zeit alles aufzuarbeiten. Ich bin ganz zuversichtlich-

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende“

 

Mir rutscht noch heute das Herz in die Schuhe, wenn ich auch über meine Rolle in der nun folgenden – ja ich weiß nicht: Schmieren- oder Tragikomödie – nachsinne. Außer Frage steht, dass wir alles in allem bis zum Jahr 2012 tatsächlich in den vielen gemeinsamen Unternehmungen, Urlauben, Zusammenkünften – überhaupt in einem sehr gediegenen Netzwerk von Bekanntschaften und Freundschaften – eine Menge Spaß hatten; vermutlich wird keiner der Beteiligten die Zeit wirklich missen wollen! Und dennoch: Mit Abstand betrachtet ist es doch zum einen eine ausgewachsene Schweinerei, die hier jemand inszenierte, bis er endlich 2012 die Reißleine zog – seine ganz persönliche Reißleine! Diese Reißleine hat ganz gewiss zwei Auslöser. Und es wäre vollkommen unangemessen, hier jemandem das Schuldenkonto über Gebühr vollzuladen. Zwei eklatant füreinander ungeeignete Menschen haben sich schließlich und leider  auf ungute Weise auseinanderdividiert. Schadenfreude ist  nicht angezeigt. Lediglich die Frage, ob man selbst auch hier wieder viel zu lange zugeschaut hat!?

Ich schrieb der Freundin auf ihren Brief folgende Antwort:

 

„Liebe Freundin,

ich danke dir für deinen Brief und dein Vertrauen. Um mich zu verstehen, gibt es ein paar wichtige Mosaiksteine. Ich will sie dir gerne schildern:

  1. Der erste und sicher folgenreichste liegt mehr als elf Jahre zurück. Wenn ich mir alles noch einmal vor Augen führe, dann glaube ich, hat es selten einen Mann zuvor gegeben, der seine Frau so sehr verletzt hat, wie ich das getan habe. Um mein Handeln zu verstehen, muss man das einfach wissen. Ich bin alles andere als ein Heiliger. Am wichtigsten ist mir dabei, dass Claudia das erkannt hat und zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben sehr konsequent nicht die Rücksichtnahme auf mich in der Vordergrund gestellt hat.
  2. Aber auch dazu muss man wissen, dass Claudia mir immer glaubhaft vermittelt hat, dass sie mich nicht verlassen würde. Bis zuletzt ist Claudia in diesem Punkt immer eindeutig geblieben. Sie hat deinem Mann nie in Aussicht gestellt, es könne sozusagen ein neues Leben mir ihr geben.
  3. Zuletzt habe ich vielleicht eher die Reißleine gezogen. Ich habe ganz klar gesagt: Keinen Monat, keinen Tag, nicht einmal eine Stunde länger möchte ich die zuletzt zugespitzte Situation weiter so haben. Wenn ich dir geschrieben habe, dass die beiden froh sein sollen für die Zeit, die sie hatten, dann schreibe ich das in dem klaren Bewusstsein, dass diese Zeit jetzt unwiederbringlich vorbei ist. Auch für Claudia und mich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt, auf den ich mich freue.
  4. Und es gibt zum vierten noch etwas klarzustellen, was ich dir jetzt im Vertrauen sage, und von dem ich weiß, dass es so und nicht anders war. Dein Mann und meine Frau sind nicht in ‚meinem‘ Haus fremdgegangen. Dass sie sich final aufeinander eingelassen haben, ist Tatsache, und es hat letztlich den Kipppunkt herbeigeführt und den Weg freigemacht für eine neue Entwicklung.

Alles, was du zum Verhalten deines Mannes schilderst, die Beschimpfungen und die Abgrenzungen, all das kommt mir so vertraut vor. Und du hast Recht: So wie dein Mann geblendet war von der Welt, in die er sich im Hinblick auf Claudia hinein phantasiert hat, genau so war ich 1997 eingenommen von der Idee, mit einer anderen Frau eine neue Welt haben zu können. Es war seinerzeit ein ähnlicher Punkt, der dieses merkwürdige Luftschloss zum Platzen gebracht hat.

Auch dass der Berg, vor dem du stehst riesig ist, kann ich nachvollziehen. Dass es mir heute so gut geht, verdanke ich einerseits Claudia, die 1997 sicherlich einen ähnlichen Berg vor sich gesehen hat. Ich bin ihr dankbar für die unendliche Geduld, die sie gehabt hat. Aber ich bin heute auch so unendlich froh, dass ich mich getraut habe, diesen gemeinsamen Weg zu gehen. Nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt. Vermutlich hat mir das auch die Kraft gegeben, dieses letzte Dreivierteljahr unbeschadet zu überstehen und sogar gestärkt aus ihm hervorzugehen.

Es kann sicherlich nur eine langsame Annäherung sein, die sich da jetzt vollzieht. Aber du schreibst, dass du keine ‚Schadenfreude‘ empfindest. Das ist sicherlich schon ein sehr gutes Zeichen, obwohl: ein kleines bisschen Schadenfreude dürfen wir uns auch zugestehen, denn so wie man den Genuss hat, von dem, was man tut, so muss man sicherlich auch den Schaden ertragen, der mit einem solchen Handeln verbunden ist – es gibt halt eben nichts umsonst im Leben.

Claudia und ich haben das damals auch über die gemeinsamen Leseabende herausgefunden. Und wir haben uns dabei auch harte Kost zugemutet. Deinen Mann und Claudia habe ich in den letzten Tagen (vor dem 1. März) noch einmal mit dem Buch von Hans Jellouschek (Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung) konfrontiert. Uns hat das damals geholfen, eine Menge von dem zu verstehen, was so schwer zu verstehen ist. Und mit einem wachsenden Abstand zu dem, was alles passiert ist, glaube ich auch, dass dein Mann sich/und euch die Chance geben wird, noch einmal genauer hinzuschauen. Und ich glaube auch, dass er noch einmal beginnt, um eure Ehe, die ja auch eingebettet ist in eine Familie, zu kämpfen.

Ich bin froh, dass wir auf diese Weise noch einmal Kontakt aufgenommen haben, wobei ich ganz sicher glaube, dass es dafür jetzt genau der richtige Zeitpunkt war.

Ein schöneres als all die letzten – und vor allem ein erstes auch schon mehr befreites Wochenende wünsche ich auch dir“

 

Während ich mit der Frau des Freundes diesen Briefkontakt aufnahm – sie erwähnt, dass ihr Mann geschäftlich Anfang März in Frankfurt war –, schrieb der Freund seiner Semele einen Brief, mit dem er das Blatt tatsächlich noch einmal zu seinen Gunsten wenden wollte. Dieser Brief verfolgte eine perfide Strategie, die schlicht damit zu tun hatte, dass ich nicht nur in der Schuldenfalle saß, sondern dass ich mir – wie zu Beginn geschildert – im Sinne eines Manifestes die Verpflichtung auferlegt hatte, den Schierlingsbecher mit meinem Schwiegervater bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Auch im letzten Dreivierteljahr war ich kein Jota von dieser Haltung abgewichen. Alle Heiligen gehen mir am Arsch vorbei. Meine Position war schlicht: Es gibt im Leben nichts umsonst – alles hat seinen Preis; wird der Preis aus Dankbarkeit und Liebe entrichtet, dann ist/wird alles gut. In seinem Brief versuchte der noch im Kampfmodus argumentierende Freund Claudia zu verdeutlichen, sie müsse sich endlich von ihrem Vater befreien, dessen Stelle ich längst eingenommen hätte. Der Schuss ging indes nach hinten los. Vermutlich hatte er da sein Blatt endgültig überreizt, da Claudia über eigene therapeutische Anstrengungen das schwierige Tochter-Vater-Verhältnis längst hinreichend beackert hatte.

Und es ist mehr als redlich, wenn zwei Venusmenschen nach ihrem Frühlingserwachen die Kraft und den Anstand haben, auch noch einmal gemeinsam zu betrachten, was denn da in einem – gewiss auch traumhaften – Dreivierteljahr geschehen ist. Dass unser gemeinsamer Freund in seinem Survival-Package über einen hoch wirksamen Verdrängungsmechanismus verfüge, das war allen engeren Freunden offenkundig in all den Jahrzehnten nicht verborgen geblieben. Dennoch wunderte sich der/die ein oder andere nicht schlecht, in welchem Schweinsgalopp sich die Annäherung an die Familie in der Folge vollzog. Das gab Anlass zu einer durchaus gediegenen und berechtigten Hoffnung. Dass redliches Bemühen zweier Venusmenschen um Kontenklärung auch einen geschützten Raum benötigt, vor allem dies soll hier konzediert sein. Und dennoch bleiben eher die Enthüllungsszenarien legendär.

Claudia begann endlich, ihre ureigensten Interessen und Potentiale zu bergen und zu entfalten. Im Juli 2008 belegte sie einen Malkurs im Allgäu – die Freude darüber war allerseits; vor allem auch darüber, dass sie nicht versuchte, mich in Schlepptau zu nehmen. Unterdessen pflegte ich weiterhin e-mail-Kontakt zu der Frau des Freundes, ermunternd, begeistert von den Fortschritten im ehelichen Wiederbelebungsversuch. Als sie mir dann Mitte Juli schrieb, wie begeistert sie von der Verwandlung ihres Mannes sei, und dass er es ich verdient habe, mit seinem geliebten Motorrad durch die Alpen zu düsen, hörte ich wieder einmal die Nachtigall trapsen.

Das Treffen des Freundes mit Claudia – dieses Mal in den sommerlichen Bergen – war zwar konspirativ, aber es galt zweifelsfrei dem Versuch einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit; es hatte also nicht mehr ganz die Qualität des „Spiels“ das die beiden Venusmenschen – wie der Freund sagt – „gerne gespielt haben“, weil sie sich nun eben einmal so über die Maßen ähnlich seien. Seine Frau hat davon nie erfahren – ich war auch damals nicht gewillt, das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen Neubeginns schon wieder im Keim zu ersticken.

Auf dem Hintergrund der dann letztlich eingetretenen Entwicklung war das sicherlich ein Fehler. Die beiden waren schon versierte, mit allen Wassern gewaschene Spieler – Zocker aus Leidenschaft. Am 14.07.2008 erhielt eine Postkarte in Südtirol ihren Poststempel, adressiert an Familie Witsch-Rothmund mit ganz lieben Grüßen von unserem gemeinsamen Freund. Aus den Dolomiten kommend habe er Livigno erreicht und mache sich morgen über die Schweiz auf den Heimweg – ganz weit weg vom bayrischen Allgäu. Claudia erzählte nach ihrer Heimkehr natürlich auch nichts von dem konspirativen Treff, der zum sogenannten Rütli-Schwur der beiden Hauptprotagonisten führte. Er beinhaltete im Grunde genommen die Übereinkunft, sich die Butter auch künftig nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen.

Ich werde ja sicher in meinen folgenden Aufzeichnungen auch noch einmal verdeutlichen, warum ich jedem sein Butterbrot von Herzen gönne. Gleichzeitig räume ich auch gerne ein, dass ich an Achterbahnfahrten kein gesteigertes Interesse mehr hatte. So war es einerseits durchaus folgerichtig, dass im Herbst die Ski-Exkursionen wieder aufgenommen wurden; die erste gemeinsam mit des Freundes Sohn – eine gute Entscheidung, auch für den Sohn!? Die einen sagen so – die anderen so; viele weitere Ski-Unternehmungen erfolgten dann in wechselnden Konstellationen, sogar als gemeinsame Familienunternehmungen.

Das wäre auch alles nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht im Rückblick so umfassend klar und deutlich zeigen würde, dass die Wiederbelebung der ehelichen Gemeinschaft unserer Freunde einer Totgeburt glich, dem Versuch einen toten Gaul zu reiten. Warum? Weil der Freund nicht ansatzweise erkennen ließ, dass er bereit gewesen wäre, seiner Frau auch nur einen zarten Schimmer dessen angedeihen lassen zu wollen, was Peter Fuchs mit einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz so prägnant beschreibt. Im Gegenteil ließen die neuen Prioritäten nach einem anfänglichen Aufschwung sehr schnell erkennen, dass das glatte Gegenteil der Fall war.

Intriganten sind wir alle!

„Die Paarbeziehung als Liebesbeziehung ist nun mal das Herzstück jeder Familie und wahrscheinlich auch das Beste für die Kinder, denn: Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann, ist ihre Mutter zu lieben (Wolfgang Hantel-Quitmann, Liebesaffären – Zur Psychologie leidenschaftlicher Beziehungen, Gießen 2005, S. 9)!“

Den „Ordnungen der Liebe“ Bert Hellingers (Heidelberg 1994) – diese These stelle ich hier einmal in den Raum – ist nicht von vorne herein ein normatives Konzept, sondern eines, was auf die Bindungsdimensionen (-qualitäten und –unterschiede) in familiären und intimen Beziehungen aufmerksam machen will.

Der Rütli-Schwur im Juli 2009 war das eine. Im Oktober desselben Jahres ergaben sich dann neuerliche – ich möchte es einmal – Irritationen (nennen). In meinem Tagebuch ist folgender Vermerk.

„Aus den neuerlichen Irritationen der letzten Tage ergibt sich dem Freund gegenüber – wenn überhaupt – der Hinweis, endlich einmal, vielleicht über eine Aufstellungsarbeit, zu einer Einsicht bzw. einem Überblick zu gelangen im Hinblick auf die merkwürdige Fortsetzung einer Konstellation, für die im Februar/März 2008 der Höhe- bzw. Wendepunkt markiert war. Das gilt natürlich auch für Claudia. Vor drei Wochen waren die Freunde zuletzt bei uns; unsere Freundin hatte Claudia um ein klärendes Gespräch gebeten – ausgelöst durch eine e-mail, die Claudia irrtümlich ihr statt dem Freund zugesandt hatte. Für mich eine Bagatelle, in meiner Haltung zwischen Toleranz und Ignoranz. Dann wenige Tage darauf – mit extrem hohen Aufforderungscharakter ein Papierkorb vor der Türe zum Garten hin; unsere Papiersammeltonne steht in der Garage. Den Papierkorb nehme ich mit, zerlege wie immer – in Raumnot – Kartonage und entleere zuletzt das Restpapier. Was bleibt zu oberst liegen und springt mir ins Auge? ‚Ich liebe dich – KEINER LIEBT DICH SO, WIE ICH!!!“ Ich traue meinen Augen nicht. Was soll das??? Ich puzzle mails zusammen und bekomme eine eindrucksvolle Bestätigung der Irritiationen der Freundin. Die anschließenden Gespräche mit Claudia, in die auch unsere gemeinsame Lektüre der Familienaufstellungen Gunthard Webers (einschließlich meiner eigenen) einfließen, bringen immerhin als ein Ergebnis zu Tage, wer hier die Supernova, und wer hier die 25-Watt-Birne ist. Ich fordere lediglich, dass die Rütli-Gang sich besinnt und endlich ihre Hausaufgaben im Sinne des Höchstrelevanzkriteriums (Peter Fuchs) erledigt.

Immerhin reagiert der Freund am 12. Oktober 2009 mit einer mail, in der unter anderem zu lesen ist:

„Nun hoffe ich, dass ich mit meinen Zeilen, die Claudia zerrissen hatte und die du ohne Kontext zufällig gelesen hast, bei dir nicht so viel Wut und Verunsicherung freigesetzt haben, wie ich ganz sicher niemals wollte und wie sie der ganzen Situation auch nicht angemessen wären. Verstehen würde ich das allemal. Vielleicht haben wir beide aber jetzt auch wieder die Chance, besser ins Gespräch zu kommen.“

Damals wie heute war längst klar, dass es natürlich nicht primär um mich ging. Der Vergleich Supernova – 25-Watt-Birne trifft es auf den Punkt, und ich will die ganze Chose hier in konzentrierter Form zu einem Abschluss bringen: Der Freund betrieb nach dem Tod seines Vaters 2010 – er ist exakt drei Wochen nach Claudias Vater verstorben – mit Vehemenz die Rückkehr ins elterliche Haus; ein weiterer harter Konfliktpunkt zwischen den beiden Eheleuten. Seine Frau sperrte sich lange und letztlich auch final gegen diese Bestrebungen. So kam es denn 2012 zum Schlussstrich durch den Freund. Nach einem abgebrochenen Urlaub auf einer Mittelmeer-Insel, in dessen Zug der Freund aufgrund eines Unfalls einen mehrtägigen Klinikaufenthalt in Kauf nehmen musste, erklärte er die finale Trennung von seiner Frau. Die Scheidung ist mehr als sechs Jahre später nach endlosen Streitereien rechtskräftig geworden. Von 2012 bis 2014 – das Jahr, in dem wir Weltmeister geworden sind –,  verlagerte der Freund seinen Wohnsitz endgültig wieder in die Heimat. Die Entrümpelung seines Elternhauses erlebten wir – als fleißige Helfer und mit der Unterstützung des inzwischen gediegenen Freundes- und Bekanntenkreises – vordergründig betrachtet als Befreiung.

Die Freundschaft zwischen dem Freund und Claudia hatte sich in ruhigem Fahrwasser etabliert, es folgten viele Ski-Unternehmungen in wechselnden Konstellationen. Der Freund wuchs nun vollends und alternativlos in unseren gewachsenen Freundeskreis hinein.

Es sind Allerweltsweisheiten, dass ein Ehepartner dem anderen – mit Blick auf den kruden Alltag, die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen respektierend – nicht alles sein kann. Im Lob der Vernunftehe hat Arnold Retzer die Bedingungen und Hilfestellungen bei der Kultivierung einer liebevollen Partnerschaft überzeugend vertreten. Wir hatten uns alle miteinander arrangiert. Claudia ließ sich weiterhin den Pelz waschen, ohne W a s s e r. Die Zeit von 2012 bis 2014 habe ich als vollkommen entspannte Zeit in Erinnerung.

Der Wendepunkt trat ein, als der Freund dann 2014 Weltmeister wurde und im Zuge dieser Euphorie erstmals eine andere Frau an seiner Seite erscheinen ließ. In einer Frühphase – im Oktober 2014 verabredeten wir uns zu einer gemeinsamen Wanderung. Schon auf den ersten Metern vermittelte Claudia der Frau, dass niemand den Freund besser kenne als sie. Es entstand eine Frontstellung, die sich aus Oberflächlichkeiten nährte, die aber alle Qualitäten eines gediegenen Machtkampfes aufwies. Vermutlich war ich hier aufmerksamer und höchstsensibilisiert, weil ich mir andauernd die Frage stellen musste: „Warum in aller Welt gebärdet sich meine liebe Frau in dieser Weise?“ Ich habe mich nie für meine Frau geschämt, musste nun aber fortgesetzt erleben, dass sie sich über Monate und Jahre nicht entblödete, ihrem allerallerersten Freund gegenüber, der für kurze Zeit wieder ihr Freund geworden war, mit unübersehbaren Eifersuchtsgebärden zu begegnen. Der wiederum bestand irgendwann auf der Position: „Mit ihr, oder gar nicht.“ Dazu hatte ich ihn ermuntert mit dem schon leidlich bemühten Hinweis, er solle endlich mal wieder – neben Schwanz - auch Arsch in der Hose zeigen. Wenn er sich sein Leben nicht von seiner Wasch-mir-den-Pelz-Freundin diktieren lassen wolle, dann müsse er ihr die Stirn zeigen.

Das tut der Freund bis heute. Die neue Frau wohnt seit geraumer Zeit in seinem Haus. Der Kontakt zwischen dem Freund und meiner Frau ist inzwischen freundlich aber distanziert. Apropos Freunde: So ziemlich alle Freundschaftsbeziehungen der letzten 15 Jahre haben sich weitgehend auf das Niveau eines lockeren Miteinanders reduziert; man spricht da – statt von Freundeskreis sicher angemessener von einem durchaus gediegenen Bekanntenkreis, bis auf wenige Ausnahmen, die dem steten Wandel standgehalten haben. Das komplette Desaster, das ich auf meine Weise abzuwenden versuchte, offenbart sich in zwei relativ späten Briefen an den Freund und meine Frau. Auch 2015/16 war es für mich ein Leichtes meine Argumentation gedeckt zu sehen von der Hypothek, die aber inzwischen lange aus unserem Seelengrundbuch gelöscht war (Löschungsbewilligung hatte ich mir im übrigen selbst erteilt). Delikat in dieser Hinsicht, der Hinweis, mit wem ich/wir seit unserer Heyerberg-Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft lebe:

 

Güls, den 5.1.2015 (Teil 1) bzw. den 18.5.2016 (Teil 2)

Teil 1 vom 5.1.2015

Liebe Claudia, lieber Freund,

es wird Zeit für einen Brief. Es hat öfter Briefe zwischen uns gegeben. Seit 2008 galt dabei die Aufmerksamkeit immer Aspekten des Aufbruchs. Wir haben zuerst versucht, intime Paarbeziehungen und Freundschaft miteinander zu vereinbaren. Das ist misslungen. Keine Frau duldet die Konkurrenz sozusagen im eigenen Haus (mit kränkenden Provokationen, Schiurlaub über den Hochzeitstag oder intime briefliche Kommunikation). Die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz – wie Peter Fuchs sagt – ist alternativlos. Ich argumentiere gerne damit, dass Claudia dies im umgekehrten Fall nicht geduldet hätte. So ist es irgendwie logisch und auch folgerichtig, dass die Paarbeziehung zwischen Dir – dem Freund – und Deiner Frau letztlich definitiv gescheitert ist und eine „Revitalisierung“ ausgeschlossen erscheint. Jedes Wort darüber ist gesagt.

Der zweite Versuch, den Respekt vor intimer Paarbeziehung und Freundschaft miteinander zu vereinbaren, scheitert nun ebenfalls:

  1. Als Freund und Freundin – so kann man es auch in klugen und allzu klugen Erörterungen über Freundschaft (z.B. bei Arnold Retzer) nachlesen – ist es angemessen und kommt nahezu einer Verpflichtung gleich, den Freund vor erkennbaren Gefährdungen zu warnen. Die Sorge um den Freund ist eines der stärksten Indizien für wahre
  2. Diese Sorge und die Formen ihrer Mitteilung unterliegen den Kriterien einer vertrauensvollen, nahezu intimen Diskretion, die jederzeit die Beteiligten vor Bloßstellung und Brüskierung schützt.

Wählt man davon abweichende Formen der (öffentlichen) Kommunikation, die einer Brüskierung und Bloßstellung der Beteiligten gleichkommt, gefährdet und belastet man Freundschaft zutiefst. Vor allem setzt man sich der Vermutung aus, erneut den Machtkampf zu suchen, um Fragen der Höchstrelevanz zum Entscheidungskriterium für künftige Freundschaftsbeziehungen zu machen.

Noch einmal: Bedenken gegen eine neu entstehende intime, höchstrelevante Beziehung des Freundes (die das Ausmaß der einem selbst entgegen gebrachten Aufmerksamkeit relativieren) kann und darf man äußern: Dies aber nur diskret und wertschätzend (dem Freund gegenüber).

Sucht man den Machtkampf, setzt man sich zwangsläufig anderen Vermutungen aus und gefährdet das gesamte Beziehungsumfeld:

  1. Die Motive sind eigennützig und bangen um die eigene Höchstrelevanz.
  2. Die eigene Handlungsweise brüskiert Freund und Intimpartner gleichermaßen, einmal abgesehen von der Brüskierung der Intimpartnerin des Freundes.

Warum ist dies so folgenreich?

  1. Der Freund wird neuerlich in eine Entscheidung hinein gezwungen, in der es um die Klärung von „Höchstrelevanz“ geht. Er muss sich letztlich entscheiden für eine höchstrelevante, paartaugliche Form der Intimbeziehung und gegen die Freundschaft.
  2. Der eigene Intimpartner fühlt sich brüskiert und gekränkt, weil er die eigene Partnerin nicht als Freundin eines inzwischen selbst geschätzten Freundes erlebt, sondern als jemand, der wiederum Konkurrenz auslebt in Fragen der Höchstrelevanz.

Gibt es für die Nachvollziehbarkeit dieser äußerst knappen Form der Analyse hilfreiche Kriterien und Anhaltspunkte? Im Grundsatz folge ich der nüchternen – man könnte hier, im vorliegenden Zusammenhang, auch sagen – der resignativen Einsicht, dass nie irgendeine Frau wissen wird, wie sich irgendein Mann fühlt, dass sie nicht einmal wissen kann, wie sich irgendeine andere Frau fühlt (vice versa). Wir behelfen uns mit Konstrukten, die wir Empathie nennen oder Perspektivenübernahme, sollen dies unseren Kindern oder auch schon den Kindern in der Grundschule vermitteln.

Kann man das heilen? Man kann, aber – wie meist – nur um den Höchstpreis: Man kann sich entschuldigen – so wie es Bert Hellinger in allen ausweglos erscheinenden Situationen empfiehlt. Eine ernsthafte Entschuldigung in der Folge einer demütigen Selbstüberwindung ordnet das Feld neu. Hält man dies für aussichtslos, vermag man hier nicht zu folgen, verliert man den Freund und gefährdet die eigene Paarbeziehung (siehe Anhang vom 18.5.2016).

Und noch ein letztes Mal: Man kann über jemanden, der neu hinzukommt – wie im Falle unseres Freundes  – d e n k e n, was man will, man darf und muss diese Bedenken vielleicht zum fortgesetzten Gesprächsanlass in der Beziehung zum Freund nehmen, aber dies immer diskret und wertschätzend; ansonsten verliert man den Freund. Man lässt ihm sozusagen keine Wahl!

Selten in unserer fast achtjährigen gemeinsamen Freundschaft – von Eurer (vermeintlichen) Freundschaftsdimension (in der Zeit) mag ich gar nicht reden; sie war in der Tat bislang fast singulär (berücksichtigt man den immer wieder einmal einsetzenden Moduswechsel zwischen intimer und freundschaftlicher Beziehung), wie gesagt, selten war ich so sehr von Resignation eingenommen, wie gegenwärtig. Allerdings hatten wir früh schon die Einsicht im Sinne des Kölschen Grundgesetzes: „Et kütt, wie ett kütt“ und: „Et hätt noch immer jot jejange“ – ach ja,nicht zu vergessen: „Nix bleiv, wie et es!“

Euer Jupp

 

Teil 2 vom 18.5.2016

Liebe Claudia, lieber Freund,

nachdem ich – vor Wochen, wie oben schon betont, aus Resignation und Müdigkeit – begonnen habe, „unsere“ Geschichte noch einmal gründlich aufzuarbeiten, fiel mir heute obiger Brief in die Hände; immerhin aus dem Januar 2015. Was ich in diesem Brief versäumt habe, das hole ich in diesem Anhang nach. Ich erinnere mich, dass Claudia Euch beiden schon 2008 (ich meine mit „Euch beiden“ natürlich Dich, mein Freund, und Deine Frau) „Zweierlei Glück“ von Gunthard Weber empfohlen hatte. Auf S. 143f.  findet sich zu paartypischen Verstrickungen folgende Passage:

„Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld.“

Zum Ende solcher Verstrickungen schreibt er:

„Meist geht es zu Ende, ohne das einer Schuld hat, sondern es geht zu Ende, weil jeder in einer für ihn eigenen Weise verstrickt ist oder weil jemand auf einem anderen Weg ist oder auf einen anderen Weg geführt wird. Sobald ich aber eine Schuld ausmache, habe ich die Vorstellung oder Illusion, ich könnte etwas tun oder andere oder ich bräuchte sich nur anders verhalten, und alles wäre gerettet. Dann wird die Größe oder Tiefe der Situation verkannt und verlagert sich auf die Schuldsuche und Vorwürfe, die sie sich gegenseitig machen.“

Mit der seinerzeit aufgetauchten, zumindest aber in die Welt gebrachten Vorstellung, man müsse etwas zu Ende bringen, was vor 35 oder 40 Jahren begonnen habe, ist das verbunden, was bei Hellinger als „Größe und Tiefe der Situation“ verstanden wird. An dieser Größe und Tiefe kann man – nach allem, was geschehen ist – ganz sicher nicht zweifeln. Um hieraus aber tatsächlich einen  W e g   zu finden, empfiehlt sich nach Hellinger folgende Intervention mit schlichten, aber fundamental bedeutsamen und lösenden Sätzen:

„Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, den ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Meine Aufarbeitung dient allein dem Zweck, auf die seit zwei Jahren ausgelebte Verstrickung hinzuweisen. Nachdem der Freund endlich (!!!) wieder bereit war, einer anderen Frau als Claudia Höchstrelevanz und damit  V o r r a n g  einzuräumen, ist das Feld bereitet für eine Lösung der nie wirklich aufgelösten Verstrickung. Das hat schon die Frau des Freundes ihre 30 Jahre andauernde Paarbeziehung gekostet (mit der Konsequenz der nun endlich anstehenden – auch juristischen – Auflösung dieser Ehe – vice versa) und bedroht(e) auch des Freundes Neuorientierung in der Welt der Frauen; mich hat es zunehmend belastet, Claudia hat es belastet und letztlich auch unser beider Paarbeziehung, die uns kostbar ist!

So bin ich überzeugt (ich habe es in Heidelberg erleben dürfen, und ich habe es vor allem an Leib und Seele erleben dürfen, wie befreiend die von Hellinger empfohlene Intervention ist), dass damit endlich ein Weg in die Freiheit geebnet werden kann. Was Freiheit in diesem Sinne bedeutet, das wird Claudia mir zutiefst attestieren. Denn sie erlebt, wie sich R.B.-K. (meine Verstrickung aus 1997) und der Jupp in letzter Zeit häufig – rein zufallsbedingt – begegnen: vollkommen unbefangen, ohne jede Häme, ohne jede Spitze (Kränkung, Beleidigung, Herabsetzung); denn R. ist unsere neue Nachbarin auf dem Heyerberg!

Das dürfte doch endlich auch uns allen einen ersten unbeschwerte(re)n Blick in die Zukunft erlauben!

Der Euch nach wie vor gewogene Jupp

 

Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich unbedingt einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)

Ja, unsere Nachbarin auf dem Heyerberg. Von unserem Wintergarten sehe ich  das Wohn- und Arbeitszimmer meiner überübernächsten Nachbarn. Dort wohnt R.B.K. mit ihrem Lebensgefährten. Räumlich trennen uns nicht einmal einhundert Meter; ein Vierteljahrhundert hingegen liegt zwischen unserer aberwitzigen Romanze. Ich schreibe und arbeite ja in der Regel mit Blick auf den Heyerberg – ein neugieriges Plätzchen, von dem aus ich auf die steile Zufahrt zu den letzten Häusern schaue. Ein bis zweimal am Tag sehe ich jene Frau, wenn sie zur Arbeit fährt oder nach Hause zurückkehrt. Wir begegnen uns heute völlig unbefangen und haben zur gegebenen Zeit unseren Abschied voneinander genommen. Mir ist eine vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Hilfe Gunthard Webers für mich selbst schon 1998 gelungen; durch jene Intervention, die Gunthard im Rahmen einer Aufstellung mit mir erarbeitet hat; jene Intervention, die in meinen Brief an den Freund und an meine Frau auch die Perspektive für einen respektvollen Abschied voneinander hätte weisen können.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren begegneten sich zwei erwachsene Menschen in völlig unterschiedlichen Ausgangslagen. Da war zum einen ein Mittvierziger, seit 16 Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Drei Jahre zuvor war er vom Schuldienst in den Hochschuldienst versetzt worden und arbeitete als Akademischer Oberrat in der LehrerInnenausbildung. Im Lehramtsbereich – insbesondere für den Grundschulbereich konnte man getrost von Lehrerinnenausbildung sprechen; zwischen 80 und 90 Prozent aller Studierenden waren weiblich. Im Zuge der Versetzung häuften sich die Unkenrufe und seiner Frau wurden nahegelegt ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Hinter verdeckter Hand war die Rede von einem Richard-Gere-für-Arme. Und auf der anderen Seite war da eine Quereinsteigerin, die allein schon durch ihr fortgeschrittenes Alter auffiel; Mutter zweier nahezu erwachsener Söhne, lebenserfahren, polyglott und auf eine durchdringende bis geheimnisvolle Weise attraktiv - solche Zuschreibungen sind das folgerichtige Ergebnis einer verblendeten Wahrnehmung, wie sie vermutlich nur Verrückte und Verliebte – wo ist der Unterschied? – in die Welt zaubern.

1996/97 hatte sich mein Privatleben zu einer stillen, ins Chaos abdriftenden Veranstaltung entwickelt. Ich verlor jede Empfindung für eigenen Schmerz. Meine inneren Nöte und meine Orientierungslosigkeit fanden weder eine Sprache noch einen Spiegel. Was ich sollte, und was ich wollte, was ich konnte und was mir an Erwartungen vor Augen stand, umgab mich wie ein zäher, diffuser Nebel. Dieser Nebel und eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Weiter oben habe ich relativ hilflos darauf hingewiesen, dass mir auch 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, verbunden mit dem Tod meines Bruders, die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Es drängt sich einerseits die Selbstbildfacette einer gediegenen Hybris auf! Mir kommt die aufgeklebte Fassade eines omnipotenten, überheblichen Arschlochs in den Sinn, das auf der anderen Seite, nichts konnte, nichts zustande brachte, um mit seinen eigenen Bedrängnissen halbwegs angemessen und heilsam umzugehen. Es gab so Vieles, woran man seine eigene Überheblichkeit erproben konnte. Auf die Frage, ob ich mir eine Habilitation vorstellen könne, hatte ich im Vorfeld der Ereignisse um den 21. Juni 1994 selbstredend beim finalen Einstellungsgespräch mit einem klaren: „Ja, selbstverständlich!“ geantwortet.

Es verbietet sich – allemal aus meiner heutigen Perspektive mit Blick auf das Paar, dass wir darstellten – unmittelbar vor meinem Einstieg in die Achterbahn – von zwei eklatant füreinander ungeeigneten Menschen zu sprechen. Gleichwohl waren wir mit unseren jeweiligen Grundausstattungen nicht annähernd in der Lage, uns selbst und einander zu helfen. Und ich gehe bereits an dieser Stelle von der Hypothese aus, dass die überwiegende Zahl von Trennungen vollkommen unangemessen bliebe, verfügten die Trennungswilligen über die Grundausstattung, die mir erst drei Jahre Heidelberger Interventionskultur vermittelt hat.

So aber waren wir den Einflüssen und Dynamiken, die von 1994 an unser Leben bestimmten, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Meine Frau war willfährige Projektionsfläche meiner ungelösten Klemmen, gewissermaßen Opfer wider meinen Willen, allein meinen Kindern begegnete ich mit blinder Liebe und maßloser Milde. Streit stand immer in Aussicht, und für meine grundaggressive Stimmung fand ich keine andere Adresse als die meiner Frau. Man kann so etwas tragisch nennen, weil die Weichen und Ausfahrten zu einer Kurskorrektur demjenigen verborgen bleiben, dem die Welt nur noch ein Nagel ist, auf den es einzuschlagen gilt. So funktionierte ich vordergründig betrachtet mit Blick auf die mir auferlegten Pflichten. All meine Bedürftigkeit und alle meine Zuwendungsfähigkeit pulsierten über meine Kinder. Jede Differenz, die es zuhauf gab, jedes Missverständnis, das zu ignorieren ich nicht willens war, befeuerte meinen Unwillen und meine Aversion. Wenn ich heute Fotos oder Filme ansehe aus diesem Zeitfenster inmitten der 90er Jahre, überkommen mich gleichermaßen Trauer und Scham – vielleicht auch ein völliges Unverständnis demjenigen gegenüber, der begann wie ein Berserker den privaten Raum umzupflügen.

George Steiner spricht von den Verrückten, die gleichzeitig der Gnade Gottes teilhaftig werden und die gleichzeitig bereit sind ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz auf’s Spiel zu setzen; die aber vor allem bereit und fähig sind, sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Ich habe hinzugefügt, dass sich diese Schmerzen, diese Kränkungen einschreiben in das Seelenpergament der Handelnden und Betroffenen gleichermaßen. Dies allein ist der Grund, warum ich nach einem Schuldenerlass gierte (was wir alle doch für kleine, erbärmliche Krämerseelen sind!)

Zehn Jahre später zeichnete sich am Horizont die kleine Chance ab, meine heillos überzogenen Konten auszugleichen und aus der abgrundtiefen Schuldenfalle zu entkommen. Dass mir dies umfänglich gelungen ist, vermittelt den fatalen Eindruck, ich sei doch eben nichts anderes als eine erbärmliche Krämerseele. Gleichwohl glaube ich nach all den Erfahrungen zutiefst, dass man Schulden zurückzahlen muss, dass man überzogene Konten ausgleichen muss. Den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, muss auch die eigene Seele, die eigene Haut ritzen und verletzen, um überhaupt auch nur nachempfinden zu können, was man angerichtet hat auf dieser Welt und wofür man Verantwortung trägt. Es mag darüber hinaus mein Alter sein, das mich milde stimmt und unterdessen dem Verstand mehr Gewicht einräumt als dem Herzen – zumindest mit dem Blick auf das Paar, das wir heute noch sind.

Völlig anders stellt sich das Schuldenkonto mit Blick auf die eigenen Kinder dar. Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos, meine Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos. Würde ich meinen Kindern etwas schulden, fände ich schlichte Lösungen. Die Schuld, die mir alleine gegenwärtig bleibt, liegt in dem, was Karl Otto Hondrich folgendermaßen zu bedenken gibt (Karl Otto Hondrichs „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“, erschienen 2004 in der edition suhrkamp, Band 2313 gehört zu meinen absoluten Schlüssellektüren). Ich danke Gott und den Umständen, dass ich 2004 nicht auf ein Geborgenheitsdesaster zurückblicken musste, sondern mit Hilfe meiner Frau und Gunthard Webers das genaue Gegenteil bis heute erfahren darf:

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchen, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben  (Hondrich 2004, 164)."

Was steckt denn eigentlich dahinter, wenn „zwei Menschen ihre Bindung auflösen“? Die Folgen können wir sehen. Viele bringen sich selbst um Geborgenheit! Ist es der freie Wille – eine freie Willensentscheidung – eine bestehende Bindung aufzulösen? Die einen sagen so, die anderen so. Unbedingte Willensfreiheit vermag selbst als Idee nicht zu überzeugen. Geht man von bedingter Willensfreiheit aus, gewinnt man zumindest eine Vorstellung davon, dass jemand seinen Willen nach persönlichen Motiven und Neigungen ausrichtet und dann möglicherweise das tun kann, was er will. Eine darauf gründende Idee von Handlungsfreiheit muss dann aber immer noch konzedieren, dass sich Willensentscheidungen erst in der Abwägung konkurrierender Wünsche und Sehnsüchte herausbilden. Und wir geraten in eine kaum noch auflösbare Verstrickung, wenn wir weiterhin konzedieren, dass Willensentscheidungen eingebunden sind und abhängen sowohl von Persönlichkeitsattributen (Habitus – Haltung – Charakter - Wertorientierung) als auch zeitgeistbezogenen – eben auch sozial und kulturell geschuldeten äußeren Einflüssen.

Der Berserker, der da Anfang 1997 auf die Bühne tritt, vertrat tatsächlich um Ostern herum die Auffassung, er benötige einen Neustart und sein – und das Leben – aller könne eine Neuausrichtung finden, indem man ganz einfach die Reset-Taste betätige. Im Rückblick kann von einer freien Willensentscheidung noch nicht einmal im Entferntesten gesprochen werden. Und es ist hier nicht nur fair, sondern auch ein Gebot der selbstkritischen Besinnung einzugestehen, dass zuvorderst die als Ehesanierungsinstitut Erwählte diesen Zusammenhang sehr schnell begriffen hatte -  lange bevor der gefühlstaube und realitätsblinde Berserker dessen gewahr wurde! Wie es dennoch zu dieser unsäglichen Affäre kommen konnte? Alle Zutaten zu einer Soap ersten Ranges waren angerichtet:

  • Der männliche Hauptprotagonist hatte sich schlicht ganz für sich in eine tiefgreifende Krise hineingelebt. Das Rüstzeug für eine Bewältigung der komplexen Krise fehlte gänzlich. So sehr hier jemand jene berühmte incurvatio in se ipsum – die trauma- und schuldbedingte Einkrümmung in sich selbst – betrieb und befeuerte, so wenig vermochte er genau dies zu durchschauen und machte – mehr noch – sein soziales Umfeld zum Schlachtfeld der eigenen Katastrophe. Andererseits agierte da jemand auf einer Bühne, die der Selbstdarstellung und jeder Form des Narzissmus einen nahrhaften Humus bereitete. Auf dieser Bühne konnte man sich selbst (als Hochschullehrer) in feinst ziselierten Zeithäppchen inszenieren und dabei gänzlich absehen von allen katastrophalen Begleitchören, die im Verborgenen auf der Hinterbühne agierten.
  • Die weibliche Hauptprotagonistin, der ich hier nicht zu nahe treten möchte (das habe ich ja 1997 grenzüberschreitend getan), kam sowohl meinen narzisstischen als auch den in mir üppig ausgeprägten Kümmerer-Anteilen entgegen. Und: Nur wenige Jahre jünger als ich selbst verkörperte sie als reife, schöne, attraktive, welterfahrene, polyglotte Frau im Übermaß eine erotisierende Melange im Format einer kritischen Masse. Mein alter ego zehn Jahre später, der gute Freund, wird Worte wählen, die – cum grano salis – den Nagel auf den Kopf treffen: Ein guter Wein, der mit zunehmender Reife in seiner Geschmacksfülle und –tiefe immer noch attraktiver wird und ein Phänomen, bei dem man leicht das Wasser unter dem Kiel verlieren kann!

In der Mixtur perfider Verführungsszenarien ausreichend vorgebildet, spielte mir der Zufall eine Karte in die Hände, die ich bereit war tatsächlich bedenkenlos zu spielen. Was ich in den folgenden Zeilen berichte, widerspricht jeglicher Professionalität und hätte mich seinerzeit –schon zu Beginn meiner akademischen Laufbahn – bereits nachhaltig disqualifiziert. Nebenbei bemerkt bietet vermutlich kein zweiter Ort in so vorzüglicher Weise die Bühne für theatralische Inszenierungen und Selbsthysterisierungen wie die Universität. Dietrich Schwanitz hat entsprechende Zutaten in seinem Schlüsselroman Campus in Szene gesetzt .

Profession und Professionalität sind nicht das gleiche. Den ersten Akt der nun folgenden Tragikomödie inszenierte ich mit Hilfe eines guten Freundes. Eine eher beiläufige Bemerkung, mir sei da eine studentische Quereinsteigerin aufgefallen, die lange im Ausland gelebt habe, Mutter zweier Söhne sei und in Scheidung lebe, führte bei ihm zu der unverzüglichen Namensnennung der so spärlich attribuierten Person. Er kenne die sehr gut. Bei nächster Gelegenheit brachte er mir ein Kinderfoto mit, auf dem er einem etwa gleichaltrigen Mädchen einen Kuss auf die Wange gab. Einigermaßen verblüfft bat ich ihn um Verwendung des Fotos in noch unklarer Form. Das Wintersemester 1996/97 neigte sich dem Ende zu. In einem Abschlussseminar ließ ich gegen Ende das Foto umlaufen mit dem Hinweis, wer sich auf dem Foto wiedererkenne, sei zu einem Kaffee in die Vorhölle (der Name der Studentenkneipe auf dem Campus Oberwerth) eingeladen. Die Höllenfahrt, die damit für das nächste halbe Jahr eingeleitet wurde, begann sanft und unter dem überstrapazierten Motto: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

In den folgenden spärlichen Schilderungen verenge ich die Perspektive extrem auf meinen eigenen beschränkten Blickwinkel. Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen (wohl kaum jemand vermag wohl Lehren aus den Fehlern anderer zu ziehen - hätte ich einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass ein solcher Höllenritt meinen Kindern erspart bleiben möge). Dazu ein kleiner Ausflug in eine mir fremde, aber zunehmend vertrauter werdende Weltsicht:

Die ersten fünf Bücher, die in meiner Verantwortung veröffentlich worden sind, hat ein Freund lay-outet, der mir – vor allem auch nach Kopfschmerzen und Herzflimmern sowie der Mohnfraudie Frage gestellt hat, wie man denn so leben  und denken könne (wie ich)? Auf die Gegenfrage, wie es denn anders ginge, hat er geantwortet: Herzensfragen, wenn sie erotisch aufgeladen sind, entscheidet man ausschließlich mit dem Kopf! Das hat mich seinerzeit verblüfft. Heute habe ich mir mit der partiellen Umkehrung der Pascalschen Devise, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, eine weitaus pragmatischere und lebenstauglichere Haltung zu eigen gemacht.

Was sich jedenfalls vom Februar bis in den Juni 1997 in mir und um mich herum zugetragen hat, das ist gewiss kein Heldenstück, und es taugt auch nicht zur Romanze, sondern es reicht schlicht an die Grenze des Erträglichen. Das Ergebnis spiegelt sich in den Monaten Juni, Juli, August und September wider, die ich meinen ganz persönlichen Knast nenne. Dem voraus ging im Februar bis hinein in den Mai der Höhenflug, der zu einem Blindflug mutierte. Als ich der Sonne zu nahe kam, erfolgte der Absturz in einer Weise, wie sie nur griechische Tragödienstoffe aufzubereiten vermögen.

Nur so ist im Übrigen auch Ich danke Euch für diese Nacht zu verstehen – zehn Jahre später entstanden, als ich in der Rolle des mörderischen Beobachters mich all der süßen und bitteren Erfahrungen entsinnen konnte, die ich ja selbst am eigenen Leib erfahren hatte.

All die Verrücktheiten und Zumutungen, die mit meinem zuerst berserkerhaften und zuletzt in Agonie versiegenden Agieren verbunden waren – so bin ich heute noch der Überzeugung – müsste sich ein versierter Schriftsteller ausdenken; er müsste sie erfinden, denn ich sehe mich außerstande, sie hier aufzuschreiben. Für mich ist es  im Nachhinein keine Frage, dass mir die Fremdbeobachtung ungleich leichter fällt als die schonungslose Selbstbeobachtung. Darin liegt die große Schwäche meiner Aufzeichnungen, die ich erst dort wieder konkretisiere, wo sich die Wende andeutet und schließlich auch ereignet:

Der Zufall wollte es, dass jene Wohnung in der Teichstraße, in der wir 1979 unseren Hausstand begründet hatten, 1997 im Sommer einen Leerstand aufwies. Ostern bin ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, weil Claudia (zu Recht) darauf bestand. Wie ein Dieb habe ich mich schon da aus dem Haus geschlichen – durch ein Seitenfenster im Souterrain. Jedes Buch, selbst jeder Bleistift hatte plötzlich das zehnfache an Gewicht. Zum Schluss standen in der Teichstraße ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Warmwasserbereiter, ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Telefon. Gegessen habe ich in der Mensa.

Hier erfolgten nach griechischen Maßstäben Peripetie und Katharsis – man kann von einem Wendepunkt im Wendepunktgeschehen sprechen. Dafür gibt es im Übrigen eine Zeugin – weit entfernt in Kempten; eine enge Freundin meines verstorbenen Bruders aus seiner Ausbildungszeit am Brüderkrankenhaus in Koblenz Mitte der siebziger Jahre. Jene Claudia aus Kempten hat mir in mehreren langen nächtlichen Telefongesprächen den Kopf und die Seele gewaschen. Über meine suizidalen Phantasien seinerzeit - im Knast -  habe ich bis heute mit niemandem gesprochen (Gunthard Weber gegenüber und dem Teilnehmerkreis bei der IGST - im Frühjahr 1998 - habe ich mich geöffnet). In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder. Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie war. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – er – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen (vielleicht eine Erklärung dafür, warum mir die Beziehung zu meinem Bruder bis heute einzigartig vorkommt). Die Ahnung wurde zur Gewissheit, dass mit der nächsten Frau nichts besser würde – im Gegenteil. Allein das Leben der geschiedenen Mutter, der ich da begegnete, führte mir vor Augen, worum es eigentlich ging. George Steiners Botschaft/Mahnung, dass es nicht Gründe sind, die das Herz bevölkern, gewann Einfluss, lange bevor sie mich in den letzten Monaten erreichte: „Es sind Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sind.“

Ich habe mehrfach auf den Zeithaufen von nahezu 380.000 Stunden hingewiesen, der sich hinter 42 Jahren auftürmt (gemeint sind die 42 Jahre unseres gemeinsamen Weges). Ein Leben muss gelebt werden, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und Stunde für Stunde. Wenn Assimilation an Grenzen stößt, dann müssen wir neu lernen; und lernen funktioniert nicht mit der Reset-Taste. Alles nur schlicht auf Anfang zu setzen, reicht nicht hin.

Claudia agierte souverän und besonnen. Sie fixierte schriftlich den Minimalkatalog an Pflichten, die sich aus unserer gemeinsamen Verantwortung vor allem für die Kinder ergaben. So riss der Kontakt nie wirklich ab. Ich erinnere mich noch, wie wir im Pühlchen abends Inliner gefahren sind. Die trüben Schleier, die eine neue Liebe über die alte Liebe deckt, verzogen sich nach und nach. Wir aßen wieder häufiger gemeinsam zu Abend, bevor ich mich in die Teichstraße zurückzog. Über Wochen und Monate näherten wir uns zaghaft wieder an.

Meine einsamen Nächte vermittelten mir auf untrügliche Weise, dass ich der Hilfe bedurfte. Dies registrierte auch mein Umfeld. Meine Freundschaft mit Reinhard Voß geht in das Jahr 1996 zurück. Unmittelbar nach Antritt seiner Professur auf dem Uni-Campus Koblenz fanden wir zueinander – eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Er vermittelte den Kontakt nach Heidelberg zur IGST. Gemeinsam mit Rudi Krawitz – seinerzeit Leiter des Instituts, an dem ich arbeitete – legte er den Grundstein für meine dreijährige Weiterbildung zum Familientherapeuten. Als ich die ersten Schritte auf dem Weg dorthin beschritt – zuerst durch einen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber im Frühjahr 1998 in Wiesloch – hatte sich das Desaster meiner Affäre verlagert. Mir war unmittelbar klar, dass es hier nicht um Ausbildung, sondern, schlicht um meine ganz persönliche Therapie ging. Und natürlich hatte ich meinen maßgelbichen Anteil an dieser aberwitzigen Affäre. Affären in der Lebensmitte drängen zumeist irgendwann auf Entscheidung. Erst mit der Vorstellung, aus dieser Affäre tatsächlich eine neue Lebensperspektive abzuleiten, baute sich vor mir die Betonmauer auf, gegen die ich seit Wochen anrannte. Ich war dabei mir das Hirn aus dem Schädel zu rammen. Und die Schmerzen drangen nach und nach in jene Regionen vor, in denen Herz und Seele beheimatet sind. Zum Schluss war es eine Form von Panik und Angstattacken, und ich kam den Erkenntnisschüben nicht mehr hinterher.

Auch im Rückblick überwiegt die Melange aus Schuld und Scham; Schuldgefühle einerseits Claudia gegenüber, Schuldgefühle aber auch R.B.K. gegenüber, deren Rolle im klassischen Dreieck mir mehr und mehr deutlich wurde. Scham verspürte ich meinen Kindern gegenüber – genauso, wie sie von Karl Otto Hondrich weiter oben so eindrücklich begründet wird.

Aber erst der Weg nach Heidelberg zur IGST führte zu einer nachhaltigen Durchdringung des angerichteten Chaos, dass nur noch Verlierer zu produzieren schien. Im März 1998 besuchte ich den einwöchigen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber. Gunthard Weber hatte fünf Jahre zuvor Zweierlei Glück publiziert und damit die systemische Psychotherapie Bert Hellingers einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ich werde mich auch hier zunächst einmal beschränken – auf’s Wesentliche:

In der Einleitung zu Zweierlei Glück schreibt Gunthard: „Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte.“

Nach dem Einführungskurs – eine intensive Aufstellungswoche in Wiesloch – absolvierte ich auch das erste Jahr bei Gunthard Weber, bevor ich dann das zweite Jahr bei Uli Clement und das dritte Ausbildungsjahr bei Andrea Ebecke-Nohlen besuchte. Bereits der Vorbereitungskurs veränderte alles! Der Blick auf Familiensysteme und die wertschätzende Herangehensweise an die unterschiedlichsten Familiendynamiken begann die mächtigen Blockaden aufzulösen, die schlicht aus einem nicht vorhandenen Abstand zu den eigenen Bedrängnissen und Nöten herrührten. Gunthard schreibt über Bert Hellingers Art:

„Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfaßt, weil er bei jedem einzelnen Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.“

Dies ist eine treffliche Selbstcharakterisierung mit Blick auf Gunthard Weber. So und nicht ein Jota anders habe ich ihn in seiner Aufstellungsarbeit erlebt. Man lernt in einer intensiven Woche zuvorderst Geduld, Selbstdisziplin, gewiss auch eine Ahnung von der Luhmannschen Haltung der sogenannten Selbstdesinteressierung. Als Stellvertreter in Aufstellungen zu agieren, heißt von sich selbst abzusehen und dennoch den Impulsen zu folgen, die sich aus der Ausgangslage und der Dynamik einer Aufstellung ergeben. Jeder der Teilnehmer hatte im Laufe der Woche Gelegenheit seine Herkunfts- und seine Gegenwartsfamilie zu stellen. Die Teilnahme an über dreißig Aufstellungen stellte eine außerordentliche Herausforderung dar. Die emotionale Beanspruchung war enorm. Die Wochen nach diesem Auftakt waren gleichermaßen geprägt von einer radikalen Konfrontation mit der eigenen Geschichte wie von nachhaltiger Durchlüftung eines moralinsauren Klimas. Denn was ich hier aufschreibe thematisiert ja in keiner Hinsicht ein singuläres Geschehen. Vielleicht bewerbe ich mich mal beim Team der Drehbuchautoren zum Bergdoktor.

Es gab zwei entscheidende Schlüsselerfahrungen in meinen Aufstellungen. Wenn Hellinger/Weber zum einen die Unausweichlichkeit im Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit betonen und zum anderen Fragen der Zugehörigkeit, der Bindungsliebe und des Gelingens und Scheiterns von Beziehungen in den Vordergrund stellen, lässt sich leicht erahnen, welche Schlüsselmomente in meinen Aufstellungen zum Tragen kamen:

  • Von enormer emotionaler Bewegung war der Abschied von meinem Bruder Willi geprägt. Als Beobachter – außerhalb des Aufstellungsgeschehens – wurde ich mit dem Weg meines Bruders konfrontiert. Dass mein Bruder final aus dem Feld geht – den Lebenden, die er zurücklässt, den Rücken zugewandt – löste im Feld selbst und auch bei mir einen solch gewaltigen akuten Schmerz aus, als vergegenwärtige sich das Geschehen mit einem Mal erneut. Die lösenden Sätze berührten zwei Felder intensiv: Die Verantwortung innerhalb der Familie, die mir zufiel einerseits und die Bindung, die zwischen uns Bestand hatte andererseits. Mich schließlich sagen zu hören: „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch!“ berührte mich so, wie es mich gleichzeitig schockierte und schließlich als memento mori tief in mir verankerte.
  • In einer Aufstellungsdynamik theoretische Begriffe wie Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit in konkrete Hinbewegungen übersetzt zu sehen, zu erleben, wie Stellvertreter alternative Beziehungsformationen ertasten; schließlich zu sehen, was es bedeutet, die neue – die fremde – Frau in diesem Feld agieren zu sehen, konkret an ihrer Seite zu stehen, deiner Frau und deinen Kindern gegenüber, brachte schlagartig die Absurdität zum Vorschein, die mit dieser Alternative verbunden war. An den richtigen Platz zu rücken, erschien wie eine Erlösung nach einem Leben in der Diaspora. Verbunden mit diesen Auslotungen war schließlich eine Intervention, die meinem gesamten künftigen Leben eine entscheidende Wende vermittelte. Es folgte jenes Ritual, das ich so gerne zehn Jahre später den Venusmenschen - meiner Frau und dem guten Freund - nahegebracht hätte und das mich in meinem künftigen Leben wie ein Schutzmantra begleitet (aber lernen kann man eben nur selbst - nicht stellvertretend für andere):

Gunthard Weber bot – ähnlich wie Bert Hellinger – als Lösung für Verstrickte in ausweglosen Dreiecksbeziehungen eine Intervention an, die mich der Geliebten gegenüber in eine neue, lösende Position brachte. Sie legt nahe, dass man sich der Trauer überlässt, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei Trennungen ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Sowohl Gunthard Weber als auch Bert Hellinger betonen, dass man Aufzeichnungen zu Aufstellungen nicht dazu hernehmen kann, sich sozusagen Wissen anzueignen. Die Arbeit und die Aussicht auf Lösungen ergeben sich aus der konkreten Aufstellungsarbeit. Mit Blick auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Rezepturen hat Hellinger wohl einmal geäußert: „Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.“ Im Rückblick auf mein destruktives Driften seit 1994 kann ich eine weitere Metapher Hellingers heranziehen, insofern sie meine Situation bis zur Aufstellungswoche recht präzise beschreibt:

„Man tappt im Dunkeln, tastet die Wände entlang, bis man eine Tür findet. Kommt eine ‚Lichtung‘, sucht man das, wovon man erleuchtet wird, in einem vollen Wort zu sagen… Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß wieso.“

Wer so sehr geprägt war und ist von einer traumatisierenden Trennung in frühen Jahren, und wer – dennoch – mitten im Leben, aus der Familie heraus alles tut, diese Familie in Schutt und Asche zu legen, der geht im besten Fall geläutert aus diesen Irrungen und Wirrungen hervor. Unter den vollkommen veränderten Vorzeichen suchte ich behutsam den Kontakt zu R., die sich früh – so erfahren sie war – und in nachvollziehbarer Wut und Enttäuschung zu verwahren suchte als Ehesanierungshilfe missbraucht zu werden. Es hat eine Reihe von Treffen gegeben, über die es tatsächlich gelungen ist, sowohl die Hitze als auch die Wut zu besänftigen. Man mag zweifeln an der Richtigkeit und Angemessenheit meiner Vorgehensweise. Tatsache war hingegen, dass die überschaubare Bühne unserer kleinen Universität keine andere Wahl ließ, als meine Rolle in dieser maßgeblich auch von mir zu verantwortenden Affäre zu klären. Dass es gelungen ist, lag an der in Heidelberg gewonnen Grundhaltung auf das Geschehene sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Demut zurückzublicken. So wie wir beide jeweils unseren Anteil daran hatten, so ist es uns auch gelungen die Tür zu finden, durch die wir gemeinsam gehen konnten, um danach unserer Wege zu gehen.

Am Ende des vorausgegangenen Kapitels sowie zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass R. heute unsere Nachbarin ist. Geblieben ist gegenseitige Wertschätzung und Achtung. Ich sage das heute mit einem gewissen Stolz und Genugtuung. Zweifellos hängt diese Bewertung auch damit zusammen, dass es mir 2001 gelungen ist, mit meiner ersten langjährigen Lebensgefährtin endlich jenen Frieden zu finden, den wir uns über zwanzig Jahre nicht gestattet haben.

 

Lautverschiebung (22)

 

Über die Jahre I

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Komm in den totgesagten Park und schau
Wie alle Kräutlein wieder blühn.
Sie blühen rotgelblilablau
Und alles ist voll Hoffnungsgrün!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Vertreib mit mir die Trübsal und das Grau!
Ich bin so selbstbewusst und kühn
Und weder trunken, blind noch blau,
Die Liebe soll auf’s Neu erblühn.

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Nimm’s Leben leicht, nicht so genau!
Die Last, das Leid und auch die Mühn
Sind Mörtel im Familienbau,
Worüber nachts die Sternlein glühn!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Zur Welt gehörn der Eber und die Sau!
Die Frau ist keine platte Fläche,
Sie hat Kontur und Vorderbau,
Den ziert sie auch mit Wäsche!

 

K(l)eine Trauer

Alle Frauen werden Nonnen
– Jung und alt!
Mein heißes Blut ist nun geronnen
Und mein Herz wird kalt.

Erbärmlich fleh ich um ein bisschen Zeit.
Der Kopf denkt: Nein!
Die Seele schreit –
Und alle sind allein.

Erde, Wasser, Luft und Sonne,
Alles schien schon dein/mein.
Kosmisch diese Wonne,
Ach du/ich armes Schwein.

Leben ist auch Pflicht!?
Gewiss mein Kind –
Adel durch Verzicht,
Wo Astern Rosen sind.

Wo Sommer Winter bleiben.
Hör doch Bruder:
Lass das Schreiben,
Geh ans Ruder!

Lass es rollen
Durch die Welt!
Du musst wollen,
Wo und wann es hält.

 

Draw a distinction! 

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.

Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!

 

Paarlauf

Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
Während ihre Spuren ritzen

Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.

 

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen. Wie Seismographen zeichnen sie Eruptionen auf; in der Regel orientiert an wendepunktrelevanten Ereignissen und Geschehnissen. Die weiter oben wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachtungsqualität zweiter Ordnung. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand von den Dingen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naive-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reifen und realistischeren Perspektive weicht.

Darin spiegelt sich vielleicht mehr und mehr die von Reinhold Niebuhr in einem Aphorismus empfohlene Haltung, mit Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, mit Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, und mit Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu  können. Diese Weisheit wird einem aber ganz offensichtlich nicht in den Schoß gelegt. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung in diesem Zusammenhang übernehme ich von Odo Marquard: Das Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. Davon unterscheidet Marquard das Zufällige, das zwar auch anders sein könnte, aber gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.).  Marquard geht also davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Kleine Randbemerkung zur Philosophie Odo Marquardts: Dazu gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003/2015, S. 157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre: "Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (ebd., S. 158)."

Ja, gewiss ist dies wohl auch zu meinen Urmotiv geworden, (meine) Geschichten zu erzählen – nunmehr unter der Maßgabe einer maßgeblichen Lautverschiebung, die eine behutsame, aber markante Verschiebung der Sinnkoordinaten zur Folge hat. Die von Odo Marquard angebotene Unterscheidung wird auch von dem bereits mehrfach erwähnten Paartherapeuten Detlef Klöckner aufgenommen. Dabei ist zunächst für ihn deutlich, dass sich im Kontext einer Langzeitperspektive quasiautomatisch Klippen auftürmen, „an denen das Paar scheitern oder wachsen kann“. Und ebenso deutlich sind für ihn die Unterschiede, die sich mit Blick auf lebenslange Monogamie auf der einen Seite und serielle Monogamie auf der anderen Seite ergeben:

„Manche persönliche und manche gemeinsame Transformationen sind nur erfahrbar, wenn man in einer Beziehung verbleibt, andere nur, wenn man immer wieder wechselt oder sich fern von Beziehungen aufhält. Um diese Unterschiede kommt niemand herum. Man wird im Leben also einiges oft, anderes weniger und vieles nicht erleben, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, und natürlich, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 100).“

Wer im Sinne des Phasenmodells, das Detlef Klöckner entwirft, bis zur letzten Phase – bis zum Fürsorglichen Finale – durchhält, weiß, dass man eine Ehe so wenig planen kann, wie Geschichten; also bleibt im Grunde genommen – sofern man sich selbst auf der Spur bleiben will – nur die Möglichkeit, zu erzählen: Phase I  –  VERZAUBERUNG – bildet den Auftakt meiner Erzählungen, genauso, wie Detlef Klöckner sie charakterisiert, als singulare Verliebtheit, die vom mentalen Ausnahmezustand bis zur Lust-Angst-Ambivalenz reicht. Phase IVINTIME DIALOGE – geht ein in die Kapitel 20 und 21. Klöckner spricht von Gewohnheiten und Umbrüchen und Freundschaft; von Wiederverzauberung versus unromantischer Fixierung. Sieben Liebesbriefe – geschrieben zwischen März und Juli 2008 – belegen die Wiederverzauberung (in der Mohnfrau, Seite 109-133). Gemeinsam haben wir - Claudia und ich, je auf unsere Weise - versucht unser Schiff durch hohen Seegang zu steuern, nachdem wir beide erfahren haben, welche Weichen das Leben zufällig anbietet und uns auch aufbürdet. Mehrfach schon habe ich erwähnt, dass wir auf ein gemeinsames FÜRSORGLICHES FINALE hoffen; Phase V nach Klöckner; im besten Falle geprägt von einer komplementären Vertrautheit und dyadischer Dämmerung. Hier geht es noch einmal und zuletzt um existentielle Erfahrungen, Vermächtnis und in der Regel unvermeidbare Degeneration. Was uns jetzt schon hilft – und warum ich diese Aufzeichnungen auch als Vermächtnis betrachte – hängt mit unserer starken generativen Verankerung zusammen. Detlef Klöckner schreibt dazu:

"Phase V ist ein Spagat des abnehmenden Lebens. Das Paar steht vor der Bilanz seiner zurückliegenden Aktivitäten. Es braucht selbst Stütze und hat die Aufgabe, seine Lebenserfahrung und Werte an Nachfolgende zu vermitteln. Die leidenschaftlichen Wendungen der Altersbeziehung gehen über das Individuelle hinaus. Es ist eine Suche nach Versöhnung, Weitergabe und spirituellem Halt (S. 232f.).“

Ein Aspekt der Bilanz unserer zurückliegenden Aktivitäten lässt sich lyrisch verdichten, indem die Rückschlüsse aus Phase IV – Intime Dialoge – eine andere Klangfärbung annehmen als die von mir – vor allem in Phase I – Verzauberung – angebotene Liebeslyrik:

 

Überstehn

Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Doch streben wir nicht zu den Sternen,
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide,
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia
Doch nicht für uns.


So können wir bewahren,
Was andern früh im Feuer schon verbrennt,
Wenn Alter blind in Ego rennt.


Wir lindern unsre Schmerzen,
Bewahren uns in unsren Herzen
Und mischen die Essenzen neu.


Wir bleiben auf der Hut,
Und finden immer neuen Mut,
Und werden nicht das Höllenfeuer sehn,
Wir werden unverzagt uns überstehn.

 

Wie ich lernte zu wollen, was ich soll (23)

Ich habe gelernt, dass Sollensvorstellungen immer zusammenhängen mit Erwartungen, die jemand an uns richtet. Mir hilft es zunächst einmal ein wenig abstrakter anzunehmen, dass das Leben Erwartungen an uns alle richtet. Dass die Eltern den Kindern das Leben geben, hört sich zunächst einmal trivial an – Bert Hellinger spricht vom Geben und Nehmen des Lebens. Geht ein Leben seinen geordneten Gang, kann man sagen, dass aller Anfang sich so zuträgt, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen. Dazu gehört wohl die Einsicht, dass die Eltern sich den Kindern so geben, wie sie sind. Und die Schlussfolgerung, die ebenso so trivial daherkommt, meint, dass die Kinder die Eltern dementsprechend nur nehmen können, wie sie sind. Sie können dem weder etwas hinzufügen noch etwas weglassen oder etwas davon zurückweisen. Vermutlich machen diese Schlussfolgerungen Bert Hellinger in den Augen emanzipierter, aufgeklärter Menschen so schwer verdaulich. Es wird sogar noch heftiger, wenn Hellinger meint, das ganze habe eine besondere Qualität, weil die Kinder die Eltern nicht nur haben,

sie sind ihre Eltern. Die Eltern geben ihren Kindern, was sie selbst vorher von ihren Eltern genommen haben, und auch von dem, was sie vorher als Paar, der eine vom anderen, nahmen. Zusätzlich zum Geben des Lebens sorgen die Eltern noch für ihre Kinder. Dadurch entsteht zwischen Eltern und Kindern ein riesiges Gefälle von Nehmen und Geben, das die Kinder, selbst wenn sie es wollten, nicht ausgleichen können.“

In diesem Jahr habe ich meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Mein Vater ist 1988, meine Mutter 2003, mein Schwiegervater 2010 und meine Schwiegermutter 2020 gestorben. Die Sorge und das Sorgen für die alten (Schwieger-)Eltern haben die letzten nahezu zwanzig Jahre geprägt. In Zweierlei Glück – In Gunthard Webers Dokumentation der Arbeit Bert Hellingers – steht der Satz, dass das Kind für seine alten Eltern sorgt, wenn sie in Not und alt sind:

„Das letzte ist etwas ganz Wichtiges für den Abschied: Die Eltern können das Kind ziehen lassen, wenn das Kind ihnen versichert, dass es für die Eltern da ist, wenn sie es brauchen.“

Motiv und Motivation liegen vordergründig betrachtet auf der Hand. In der Konfrontation mit den alten Eltern liegt eine große Herausforderung. Die besteht offenkundig darin nicht als Kind zu reagieren, sondern als Erwachsener, der das macht – wie Weber und Hellinger betonen –, was richtig ist. Es erfordere einen Bewusstseinswandel. Dann lasse sich das, was richtig ist, meistens auch tun; zuletzt und nach meinen Eindrücken allumfassend – hat sich dieser Bewusstseinswandel in mir mit dem Begleiten meiner Mutter in ihren letzten Lebensmonaten von Februar bis Juli 2003 vollzogen.

Da der Aufforderungscharakter des Wollens allein, d.h. das bloße Erheben eines selbstadressierten Sollens- und Veränderungsanspruchs, keineswegs automatisch zu motivationaler Wirksamkeit führt, bleibt zu überlegen, wie eine solche Wirksamkeit in erreichbare Nähe rückt und nicht nur dazu führt, dass ich auf diese Aufforderung irgendwie reagiere, indem ich ihr entweder nachkomme oder eben nicht.

In meinem Fall liegen die Dinge klar: Alles, was mir meine Eltern gegeben haben, die Art und Weise, wie sie für mich gesorgt haben, kommen aus einem Füllhorn. Und da ist es wohl so, dass Kinder das damit entstehende Gefälle von Nehmen und Geben nicht ausgleichen können, selbst wenn sie es wollten. Wie leicht hingegen war ein Ausgleich von Nehmen und Geben meinen Schwiegereltern gegenüber. Hier erst zeigte sich in einem vollen Umfang, dass ich aus vollem Herzen wollen konnte, was ich sollen durfte. Mein über die Maßen privilegiertes Leben in materieller Hinsicht verdanke ich zu wesentlichen Anteilen meinen Schwiegereltern, die mir im Übrigen auch in allen anderen Lebenslagen – trotz meiner Abdrift 1997 – gewogen blieben.

Erzählenswert bleibt die Abschiedsreise mit meinem Schwiegervater 2003 in seine Heimat. Diese Reise in die Vergangenheit beinhaltete alle im Alter von 79 Jahren noch möglichen Köstlichkeiten, eingewoben in einen schmerzensreichen Abschied von Kindheit, Jugend und Alter:

Im September 2003 – wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter – bat mein Schwiegervater, Leo, mich darum, ihn auf einer Reise in seine alte Heimat an den Bodensee zu begleiten; rund 450 Kilometer entfernt von Koblenz. In Ittendorf – etwa 8 Kilometer nördlich von Meersburg im Hinterland gelegen – hatte er Kindheit und Jugend verbracht.

Er und seine Geschwister – der ältere Bruder Ernst und die ältere Schwester Klärle – waren früh Halbwaisen geworden. Der Vater starb Ende der zwanziger Jahre und hatte mit Leonie noch eine Halbschwester hinterlassen. Nach seinen Schilderungen war Leo ein äußerst aufgewecktes, umtriebiges Kind. Seine eigenen Erzählungen erinnerten immer an die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma. Selbst wenn man gewaltige Abstriche vornimmt, verfestigt sich ein Eindruck, für den allein schon deshalb Vieles spricht, weil sich ganz offenkundig eine starke Kontinuitätslinie von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter offenbart. Sein Habitus als Bodenseeschwabe, gepaart mit unbändiger Lebenslust und dem, was man den Schalk im Nacken nennt – eine verschmitzte Art, die sich mit Schnelligkeit im Denken und Handeln paarte, macht ihn unter den behäbigen Rheinländern und Moselanern zu einer in jeder Hinsicht zu einem Solitär. Nimmt man nun die rosarote Brille ab, dann zeigt sich freilich auch ein bauernschlauer, knochiger Lebenskünstler, der nie (!) – bei allem was er tat, plante und ins Werk setzte – den eigenen Vorteil oder den Vorteil der ihm Nahen aus dem Blick verlor. Seine self-made-Qualitäten habe ich in Kapitel (8) bereits hervorgehoben. Diese außergewöhnlichen Eigenschaften gründen wohl in den Umständen einer Kindheit auf dem Land – ohne Vater – und dem früh ausgebildeten, unbändigen Willen, das Beste und Extremste aus sich herauszuholen. Davon zeugen so viele objektive, faktisch nachvollziehbare Mosaiksteine, deren bedeutsamster wohl darin aufscheint, eine Lehre zum Maschinenschlosser bei Maybach zu absolvieren. Kaum vorstellbar, unter welchen Umständen Leo dieses Vorhaben bis zum Gesellenbrief realisierte: Jeden einzelnen Tag seiner Ausbildung fuhr er mit dem Fahrrad von Ittendorf nach Friedrichshafen – 17 Kilometer hin und 17 Kilometer zurück. Leo hat sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Ähnlich wie Heinz Otto Fausten hat er diesen Schritt damit begründet, sich dadurch die Waffengattung aussuchen zu können und – nebenbei – habe die Annahme eine Rolle gespielt, der Krieg stehe unmittelbar vor seinem erfolgreichen Ende. Die Kalkulation ging nicht auf; mehr noch wurden viele Angehörige der Luftwaffe zuletzt – nachdem der Flugbetrieb aufgrund von Spritmangel fast zum Erliegen kam – ihren Dienst bei der Infanterie aufnehmen – so auch Leo. Er wurde von Oktober an in den erbitterten Kämpfen im Hürtgenwald schwerstverwundet. Nach seinen Schilderungen verlor er als Zugführer alle seine Leute durch kanadische Scharfschützen. Sein eigenes Überleben verdanke er lediglich – nach eigenem Bekunden – einem intuitiven, ruckartigen Herumreißen des Oberkörpers, so dass der seinem Kopf geltende Schuss seine rechte Schulter zertrümmerte. Leo gelang es, sich bis zu den eigenen Linien zurückzuschleppen; ihm drohte zunächst die standrechtliche Erschießung wegen wehrkraftzersetzender Aufgabe von Positionen – außerdem habe er keinen seiner Leute zurückgebracht. Die Intervention seines Kompaniechefs wendete das Blatt. Aufgrund der schweren Verwundung wurde Leo in das Lazarett Nordhausen/Thüringen verlegt. Diese Geschichte erwähne ich, weil ein weiterer entscheidender Mosaikstein in Leos Selbstbild damit zusammenhängt, dass seine Schwester Klärle seine Verlegung von dort nach Ravensburg erreicht hat. Er wurde von einem Spezialisten erfolgreich operiert, so dass das rechte Schultergelenk – zwar mit erheblichen motorischen Einschränkungen – erhalten werden konnte (Leos Kriegsversehrtenausweis liegt mir vor).

Mein Schwiegervater ging gar so weit anzunehmen, dass er seiner Schwester, die er als braune Schwester bezeichnete (sie hatte Karriere bei den sogenannten braunen Schwestern gemacht) sein Leben verdankte (in Thüringen wäre er unter Umständen in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hätte dies mit Blick auf seine Verwundung gewiss nicht überlebt).

Die Tatsache, dass Leo die geliebte Heimat verlassen musste, hängt nun wiederum mit einem anderen markanten Mosaikstein seiner Biografie zusammen. Leo bestand nach Kriegsende und Genesung die Aufnahmeprüfung am Konstanzer Technikum und beendete dort 1949 eine Ausbildung zum Maschinenbauingenieur. Zweifellos hätte er am See auch beruflich Fuß fassen können, hätten ihn private Turbulenzen nicht zur Flucht ins Rheinland gezwungen. Angeblich ging die Schwangerschaft einer Ittendorferin (mit zweifelhaftem Ruf) auf sein Konto. Da sich dies seinerseits nicht wirklich entkräften ließ, musste er vom See weg. Seine Mutter (und seine Schwester) rieten/drängten ihn zu dieser Flucht, die ihn nach Koblenz zu einem Bruder seiner Mutter führte. Hier beginnt nun das zweite oder dritte Leben Leos, das schließlich mit der Eroberung meiner Schwiegermutter einen ersten Höhepunkt erfuhr; die beiden heirateten am 21. Februar 1952, an dem Tag, an dem ich selbst das Licht der Welt erblickte. Manch einer könnte dabei an Vorsehung denken.

Dieser schnelle Parforce-Ritt durch Leos Frühgeschichte ist unentbehrlich, will man nun unsere Abschiedsreise im Jahr 2003 verstehen: Leo zeigte bereits erste Anzeichen einer beginnenden Demenz. Ein ärztlicher Kurzbericht aus dem Januar 2001 – erstellt im Krankenhaus der Stadt Bludenz vom behandelnden Arzt und Leiter der „Internen Abteilung“, Dr. Striberski – spricht von „hochgradiger V.a. li.-hirnige TIA mit passagerer Dysphasie – hypertensive Encephalopathie bei arterieller Hypertonie“! Im Klartext ging es damals – bei Leos letzter alpiner Exkursion am Arlberg schon um signifikante Durchblutungsstörungen des Gehirns mit neurologischen Ausfallerscheinungen; Hintergrund war jahrelange Vorschädigung durch Bluthochdruck. Was hier Dysphasie heißt, bedeutet eine Störung bei der Sprachverarbeitung, die mit Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses oder anderer geistiger Fähigkeiten zusammenhängt. Als abschließendes Procedere steht in diesem Kurzbericht:

Dringend weitere neurologische Abklärung mit EEG und eventl. MRT. Bis zur endgültigen Abklärung Lenken eines KFZ, gefährliche Tätigkeiten etc. verboten.“ All dies wird sich auf unserer Abschiedsreise auf mehr oder weniger eindeutige und beklemmende Weise zeigen.

Gemeinsam mit Leo habe ich viele Stunden zu zweit bei Urlaubsfahrten oder auch anders motivierten Reiseaktivitäten verbracht. Die früheste diesbezügliche Erinnerung rühren aus den Jahren 1992 bis 1996. Legendär war unsere Tour nach Zürs bzw. Stuben. Claudia erwarb ihre Ski-Lehrerinnen-Lizenz. Leo musste das aus der Nähe beobachten und sorgte dafür, dass ich als relativer Ski-Anfänger meine Feuertaufe am Arlberg erfuhr – von morgens bis abends (am Abend die letzte Liftfahrt, um dann tatsächlich als allerletzte die Albona schon in der Schattenlage und schon wieder vereisend zu bewältigen). Hier stieß Leo an seine physischen Grenzen und entschloss sich noch im selben Jahr zu einer ersten Hüftgelenksprothese an der renommierten Endo-Klinik in Hamburg. Bei all diesen Touren an den Arlberg, nach Hamburg war ich Zuhörer. Ich hörte Leos Geschichten zum wiederholten Mal – immer verbunden mit leichten Variationen, aber einem festen unverbrüchlichen Kern. Ich hörte aufmerksam und sehr genau zu, so dass Leos Skript sich mit seinen Essentials und Kernbotschaften tief in meinen Erinnerungsvorrat einkerbten. Die mehr als fünf Stunden auf der Fahrt nach Ittendorf verbrachten wir mehrheitlich schweigend, Leo auch teils schlafend. Wir hatten uns im einzigen, gleichwohl alteingesessenen und gediegenen Landgasthof „Adler“ eingemietet. Der „Adler“ bildete in einem Quadrat – an der Hauptstraße gelegen – das Eckhaus. Diagonal, etwa 100 Meter Luftlinie entfernt,  steht/stand Leos Elternhaus. Er entstammte einer bäuerlichen Kleinwirtschaft. Nach seinem Weggang aus Ittendorf hatte seine Schwester den Hof übernommen und nach ihrer Heirat mit Emil Lang bis zu ihrem Tod 2001/02 (?) bewirtschaftet. Mit derselben Schwester, der Leo – nach eigenem Bekunden – sein Leben verdankte, hatte er sich im Zuge von Erbauseinandersetzungen und der Frage nach dem Verbleib der Mutter im Alter heillos zerstritten. Auf seine Veranlassung und Bitte der Mutter verfügte er 1971 die Übersiedlung der Mutter in ein Altersheim in der Nähe – nach Wespach. Diese im Einvernehmen mit der Mutter, aber letztlich einseitig herbeigeführte Entscheidung führte zu einem erbitterten und letztlich unversöhnlichen Streit der beiden Geschwister. Hintergrund waren exakt dieselben Überlegungen und Vorbehalte, wie ich sie im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen in der mir in den siebziger Jahren zuwachsenden Beinahe-Schwiegerfamilie in Kapitel 5 beschrieben habe. Eine spießbürgerliche, erzkatholisch unterfütterte Enge ließ auch gegenüber einer vollkommen zerrütteten und (für die Mutter nach eigenem Bekunden immer unerträglicher werdenden Zwangsarrangement auf dem eigenen Hof keine Alternative. Jenseits der Frage nach Wohlergehen und Wohlsein der Beteiligten beanspruchte der äußere Schein nach einer vorgeblich heilen und verantwortungsvollen Fürsorge der Mutter gegenüber – selbstverständlich in den eigenen vier Wänden – absoluten Vorrang. Leo wurde von seiner Schwester und ihrem Ehemann, der über viele Jahrzehnte als Ortsvorsteher die Geschicke der Gemeinde verantwortete, eine unerträgliche Bloßstellung der Familie vorgehalte. Erste die dritte Generation – die Kinder der Kontrahenten – versuchten innerhalb der Familie wieder einen Frieden zu finden und zu begründen.

Leo hatte 2003 noch einen besten Freund in Ittendorf, den wenige Jahre älteren Edi Widemann, einer der vielen Apfelkönige vom Bodensee. Die Reise trug durchaus noch seine planerische Handschrift. Leo überließ ungern etwas dem Zufall und hatte für den Nachmittag unseres Ankunftstages ein Treffen bei den Widemanns (Edi und Priska) vereinbart. Bevor wir zu den Wiedmanns fuhren, die einen Aussiedlerhof mitten in den Apfelplantagen auf dem Weg von Ittendorf nach Immenstad bewohnten, musste ich Leo gewissermaßen ums Eck fahren; im engeren Sinne vom Adler aus am Schloss vorbei, dann links abbiegend am Haus seines Neffen Bernd vorbei. Das Annegärtle, das Leo versprochen war, war – wie das gesamte Erbe an seine Schwester gefallen. So hatte Bernd irgendwann sein Haus auf’s Annegärtle gebaut, hatte geheiratet, drei Kinder bekommen, zeitweise am Rad gedreht, vielleicht weil die Erbgänge irgendwie doch quer saßen. Leo hatte seiner Mutter zuliebe die Salamitaktik seiner Schwester hingenommen und Scheibe für Scheibe den Erbverzicht ausgesprochen. All dies gewann noch einmal besondere Brisanz, als Leo seine Mutter in der Nähe von Salem (in Wespach) in einem Altenheim unterbrachte, wo sie immerhin von 1971 bis 1976 – ihrem Sterbejahr – gelebt hat. In all diesen Jahren hat aus der Familie Lang niemand die (Schwieger-)Mutter oder die Oma (Klärle hatte zwei Söhne, Bernd und Wolfgang) auch nur noch einmal besucht. Sie starb völlig vereinsamt im Altenheim, und auch nach ihrem Tod fanden die Geschwister – Klärle und Leo – nicht die Kraft zur Versöhnung. Die letzte Chance blieb ungenutzt als Klärle ihren Bruder samt Familie zu einer Feier einlud. Leo hatte die Zimmer im Adler bereits reserviert, dann aber – als ihn offensichtlich der Mut verließ – wieder storniert.

All dies mag Leo möglicherweise erinnert haben. Er weigerte sich stur und konsequent aus dem Auto auszusteigen, das Elternhaus in Sichtweite – dort lebte sein Schwager Emil noch bis ins hohe Alter von 97 Jahren; er ist 2015 verstorben. Ittendorf bedeutete für Leo offensichtlich verbrannte Erde. Frei atmen konnte er erst, als wir am Kaffeetisch bei seinen ältesten Freunden, den Widemanns, auf dem Hundweilerhof saßen. Auf dem Weg dorthin musste ich auf einer Anhöhe anhalten. Wir stiegen aus. Wir sahen den See und am Horizont die Berge. Leo war für seine Art ungewohnt still. Auch beim Kaffee und schließlich bei Heinzlers in Immenstad – das waren ja alles Heimspiele – blieb den Gastgebern nicht verborgen, wie sehr sich Leo verändert hatte. Auch ich selbst hatte in den letzten 25 Jahren meinen Schwiegervater immer als Dominator erlebt; ob kleine oder große Gesellschaft – zu seiner Lebendigkeit und Präsenz gab es selten ein Pendant auf Augenhöhe. Seine Art war nicht nur dominierend, sie war in der Regel auch mitreißend und unterhaltend. Seine Frau hat immer wieder betont, dass er unter all den Vielen, die ihr den Hof gemacht haben, vom ersten Tag an nie Langeweile hat aufkommen lassen, er hat mit seinem Humor und seiner Beredsamkeit all anderen aus dem Feld geschlagen (legendär – seine Geschichte, wonach er bei der allerersten Einladung gebetet hat, Lisa möge nicht mehr als ein Glas Wein trinken, für zweie habe er kein Geld gehabt – seine Ängste waren unnötig, Lisa hat immer nur ein Glas getrunken!).

In der Nacht (im Adler) müssen Leo Albträume gequält haben, er wirkte verwirrt und orientierungslos – seine Lebenszeitalter bedrängten ihn vermutlich in einem heillosen Durcheinander. Auf dem WC unterlief ihm ein Malheur; er war schwer zu beruhigen und fand kaum in einen heilsamen und beruhigenden Schlaf. Wohl wissend, dass er sich seiner Tochter in diesem Zustand nicht hätte zumuten können, bestand er wohl auf meiner Begleitung.

Anderntags kehrten wir Ittendorf den Rücken. Unweit war aber ein fester Haltepunkt vorgesehen, der mich einigermaßen verwunderte. Zwar wusste ich aus Leos Erzählungen, dass er als Chefmessdiener eine mehr als fragwürdige Karriere absolviert hatte, dass er aber darauf drängte Station an der Birnau zu machen, gehört zu den nachhaltigsten Erinnerung an unsere Bodenseetour.

Die Wallfahrtskirche Birnau ist eine an der oberschwäbischen Barockstraße gelegene Barockkirche. Die beeindruckt durch ihre barocke Ausstattung – vor allem mit Fresken, Stuckaturen und Skulpturen, deren bekannteste der sogenannte Honigschlecker ist; eine Putte, die recht verschmitzt dreinschaut und ihren honigbedeckten Finger zum Mund führt.

Leo führte mich zu diesem Wonneengel und zeigte auf ihn mit den Worten: „Das ist mein Schutzengel, der hat mir den Weg durchs Leben gewiesen und mich auf all meinen Wegen begleitet.“ Ich registrierte diesen Hinweis mit Humor und nahm ihn als eine typische Geste meines Schwiegervaters. Als er sich dann in eine Bank in die Nähe des Altars setzte und seinen Tränen freien Lauf ließ, wurde mir überdeutlich, wie ernst er dies wohl meinte und wie sehr ihm diese Begegnung als die Quersumme seines Lebens vorkommen musste. Heute würde man wohl von einem zentralen Skript oder einem beherrschenden Narrativ sprechen, in dem die Bilanz eines Lebens auf den Punkt kommt. Leo hatte seine Heimat verlassen müssen und hatte sich Heimat in der Fremde geschaffen. Die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend musste ihm final und irreversibel vorkommen; ein Abschied für alle Zeiten – und vor allem, Zeit sich auf den Heimweg zu machen

Die sechseinhalb Jahre, die ihm noch blieben, führten in das schon beschriebene tiefe Tal des (Selbst-)Vergessens (siehe Demenztagebuch). Um noch einmal an das zentrale Ausgangsmotiv anzuknüpfen: Wie ich lernte zu wollen, was ich soll – die Willensfreiheit in den nun kommenden sechseinhalb Jahren das zu tun, was ich tun würde, basierte immer auf der Idee des Anderskönnens (siehe dazu: Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt 2001, S. 430): Ich hätte auch anders handeln können. Ein zweites Moment beruhte auf der Idee, aus guten Gründen, nicht aber aus Zwängen zu handeln. Das dritte Moment ist mir heute am wichtigsten, insofern ich die Urheberschaft für mein Handeln beanspruche; selbst da noch, wo äußere Faktoren und Bedrängnisse mich unter Umständen eines Besseren hätten belehren können (siehe Kapitel 20a).

 

Das Unfassbare als basso continuo unseres Lebens (24)

„Elias Canetti war ein Todfeind im wahrsten Sinne des Wortes. Mit obsessiver Verbissenheit hat sich der Nobelpreisträger über Jahrzehnte hinweg gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens zur Wehr gesetzt. Er hat den Tod gehasst und gefürchtet wie kein Zweiter. Sein Leben lang schrieb er in Notizen dagegen an, wollte den Tod als etwas Natürliches nicht akzeptieren.“ Mit diesen Sätzen leitet Günter Kaindlstorfer seinen Beitrag/Rezension Lebenslanges Anschreiben gegen den Tod ein.

Ganz gewiss muss man nicht annähernd so besessen sein von der Idee, der Tod sei ein unerträgliches Skandalon, um nicht gleichzeitig in einem langen Leben das memento mori im Sinne Rainer Maria Rilkes gegenwärtig zu haben:

Schlußstück

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Als mein Schwiegervater im März 2010 im Alter von fast 86 Jahren starb, betrachteten wir alle miteinander in der Familie diesen Tod als Erlösung. Auch wenn alles, was lebt, in der Regel leben will, stand uns allen doch überaus deutlich vor Augen, dass Leben als fortgesetztes und nachhaltiges Siechtum in der Dunkelheit des Selbts- und Weltvergessens keinen absoluten Wert an sich darstellen kann. Aber so klar sich auch diese Einsicht einstellen wollte, so klar war andererseits im Rückblick unser aller Bemühen, dieses Geschehen – das Leben zum Tode hin – nicht unbotmäßig zu verkürzen. Die gegenwärtig veränderte Rechtslage mit Blick auf die Erleichterung der Sterbehilfe habe ich herbeigesehnt, und ich habe sie mit herbeigeschrieben. Das Sterben in seinen generativen Abfolgen war mir damals schon auf lebensnahe Weise vertraut. So will ich auch heute im Rückblick betonen, dass mir der Tod meines Vaters im Alter von eben erst 65 Jahren unerträglich verfrüht erschien. Seit diesem Ereignis – 1988 – hat das Leben auf brutale Weise dafür gesorgt, dass das Unfassbare als immer gegenwärtiges memento mori den basso continuo im Konzert des Lebens vorgibt. In Kapitel 9 meiner Aufzeichnungen habe ich mich Elias Canetti am weitesten angenähert, indem ich bekenne, den Tod meines Bruders – wenn auch nicht im Sinne Canettis – als Skandal empfunden habe. Zusammengedrängt auf die letzten Sekunden des Lebens meines Bruders, wage ich die These, dass die freie Willensentscheidung des Flugzeugführers nicht nur für ihn selbst einer Entscheidung über Leben und Tod gleichkam. Und erst die Aufdeckung der Zusammenhänge im Detail erlaubt ja so etwas zu konstruieren, wie Handlungsmotive, deren Ignoranz oder schlichte Unkenntnis in der öffentlichen Wahrnehmung den Heldenstatus des Piloten begründeten. Umso unerträglicher erwiesen sich die Ergebnisse eines nüchternen Faktenchecks, der nicht weniger zutage brachte als folgende, überaus schlichte Sachverhalte:

  • Die Absturzmaschine war nach dem letzten Check und dem Auftanken durch den verantwortlichen Piloten am Abend noch einmal bewegt worden zu einem Schleppflug zu einem benachbarten Flugplatz. Diese Flugbewegung war ordnungsgemäß in das Logbuch der Maschine eingetragen worden.
  • Am frühen Morgen des 21. Juni 1994 verabsäumte der verantwortliche Pilot einen erneuten Check und setzte die Maschine in der Annahme in Bewegung, der status quo ante (also vor erneuter Bewegung der Maschine am Vorabend) sei der faktische Status, der eine kalkulierte Zwischenlandung zum erneuten Betanken der Maschine in Landshut ohne jegliche Probleme oder eintretende Notlage erlauben würde, da er die Maschine abends zuvor eigenhändig voll betankt hatte.
  • Als sich die Maschine bei Kaiserwetter Landshut näherte und der Motor wenige Kilometer vor dem Zielflughafen begann zu stottern, muss dem erfahrenen, pensionierten Bundeswehrpiloten bewusst geworden sein, dass der Spritvorrat zum regulären Erreichen des Flugplatzes möglicherweise nicht ausreichen würde. In dieser Situation – ausgestattet mit nur einem schmalen Zeitfenster von vielleicht einer Minute – musste der Pilot entscheiden, ob er die Maschine auf freien, abgeernteten Feldern zur Notlandung bringen sollte, oder ob er – trotz Spritmangels – den Versuch wagen sollte, die Maschine in Landshut regulär zu landen.
  • Eine Notlandung begründet immer den Tatbestand einer irregulären Landung. Jede irreguläre Landung eines Fluggerätes löst einen festgefügten, unabwendbaren Algorithmus aus: Das Bundesluftfahrtamt mit Sitz in Braunschweig untersucht den Vorgang auf akribische Weise unter Einbeziehung aller relevanten Einflussfaktoren und Umstände.
  • Nun muss man wissen, dass der verantwortliche, pensionierte – überaus erfahrene – Bundeswehrpilot eine Lizenz zur Betreibung einer Flugschule bzw. zur Zulassung als Fluglehrer beantragt hatte.
    In wenigen Sekunden des Rekapitulierens muss dem Piloten klar gewesen sein, dass das Checken des Logbuchs im Zusammenhang mit einer irregulären Landung der Maschine unvermeidbarer Weise zum Nachweis gröbster Fahrlässigkeit seinerseits führen würde. Und gar keinen Umständen wäre infolgedessen seinem Antrag auf Erteilung einer Lizenz noch irgendeine Aussicht auf Erfolg beschieden gewesen.
  • Seiner Erfahrung und seinen Flugkünsten vertrauend hat der Pilot zweifelsfrei die willentliche Entscheidung getroffen, eine reguläre Landung auf dem Flugplatz Landshut zu versuchen. Als ihm überdeutlich wurde, dass dieser Versuch scheitern würde, führte der Versuch einer Kurskorrektur mit beabsichtigter Notlandung zum finalen Absturz der Maschine und dem Tod aller vier Insassen.
  • Flugschulen haben die Rekonstruktion des Absturzes zum Anlass genommen, auf die in der Regel tödliche Konsequenz eines Strömungsabrisses bei zu spät oder zu abrupt erfolgender Kurskorrektur hinzuweisen. Im Abschlussbericht des Bundesluftfahrtamtes Braunschweig wurde auf zwei Fakten hingewiesen, die für die folgenreiche Fehlentscheidung des Piloten sprechen: 1. hat die Absturzmaschine nicht gebrannt – der Tank war leer! 2. Die Kurskorrektur, die zum Strömungsabriss und in der Folge zum Absturz der Maschine führte, kam zu spät. Wäre der Sink- bzw. Gleitflug früher eingeleitet worden, wäre der Versuch die Maschine bei freier Sicht und besten Wetterbedingungen auf freien, abgeernteten Feldern zu landen, vermutlich erfolgreich gewesen.

Ich will nicht so weit gehen, den Tod der vier Flugzeuginsassen als grundsätzlichen Skandal zu verstehen. Skandalös wird er in meinen Augen durch das grob fahrlässige Agieren des Piloten; skandalös, weil sich – wie so oft – die Motive, die zu folgenreichen Handlungen führen, als banal und egomanisch erweisen. Da ist der Preis des Todes dreier unbescholtener Männer – mitten im Leben und im Falle meines Bruders als Vater zweier Töchter im Alter von fünf und acht Jahren – eben ein Skandalon.

Mors certa – hora incerta! So unausweichlich der Tod auch sein mag, ein Tod zur Unzeit grämt uns über alle Maßen. Als die Mutter dann zum Sterben ging, stellte sich ein diffuses, kaum greifbares Lebensgefühl ein, dass erst sichtbar(er) wurde, als in den letzten 10 Tagen ihres Lebens das Bedürfnis in mir nach Lösungen suchte, sie diesen letzten Weg nicht alleine gehen zu lassen. Dieses Bedürfnis führte – im Kontext einer seins- und erst recht todesvergessenen Gesellschaft zu recht obsessiven Konsequenzen. Ich lotete alle Möglichkeiten des medizinischen Apparats aus und erkämpfte mir mit Unterstützung der Klinikleitung und des Personals ungewohnte Freiräume. Der Klinikleiter, Dr. Kreuter – gebürtiger Gülser – ermöglichte mir in das Sterbezimmer meiner Mutter (das bis zuletzt ein Einzelzimmer bleiben konnte) ein Bett einzustellen, so dass ich die letzten Nächte in unmittelbarer Nähe zu meiner Mutter verbringen konnte. Zuletzt – als ich den Sterbeprozess nicht mehr infrage stellte – war Abschied möglich; für mich zivilisationsverwöhntes Glückskind eine singuläre Erfahrung. Am 21.7.2003 findet sich folgender Eintrag in das Sterbetagebuch:

"21/07/03 14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.

Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter! Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.

Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit meiner Schwester Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg! 15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen."

Am 27. Juli ist unsere Mutter gestorben. Im Herbst bin ich mit Leo, meinem Schwiegervater zur Abschiedstour an den Bodensee aufgebrochen. Sein Leidensweg vollzog sich von da an über seinen 80sten Geburtstag hinein in jenen im vorangehenden Kapitel beschriebenen nicht mehr enden wollenden Tunnel des (Selbst-)Vergessens. Auch hier habe ich an den unausweichlichen Wendepunkten die Flucht in die sprachlich verdichteten Formen der Lyrik gesucht. Mindestens zweimal täglich führte mich mein Weg die wenigen hundert Meter von unserem Wohnhaus auf den Heyerberg an Mülltonnen vorbei, von denen mir einige in diesen Jahren von 2007 bis 2010 immer wieder durch ein merkwürdiges Phänomen auffielen:

 

Was mögen die Müllmänner denken

Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?


Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.


„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.


Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod“.


Wir fallen mit ihnen –
Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.

Mit Elias Canetti verbinden mich die Fassungslosigkeit und eine intuitive Abwehr des Todes als endgültiges Faktum. Gleichwohl finde ich mich dennoch wieder in einer Mischung aus Fatalismus und ungläubiger Hoffnung gegenüber einem Phänomen, das sich unserer Erfahrung gänzlich entzieht:

 

So gern

Ach, ich hab’s so gerne, wenn sie kommen,
Wenn sie kommen, kommen, kommen –
Dann freu ich mich so sehr,
Ganz still in mir.


Doch alle, die da kommen,
Müssen wieder gehen.
Sie gehen, gehen, gehen –
Und schmerzt dies noch so sehr.


Denn es sind keine Phantasien,
Die Mär vom Werden und Vergehen.
Wo wir heut gehen oder stehen,
Sah unsre Welt einst andre gehen.


Sie gingen uns voraus.
Ich fühle ihre Spuren
In mir selbst vergehen.


Nein, nicht die Zeit,
Der Wind lässt sie verwehen.
Sie sinken in uns ab
Bis hinter das Verstehen.


Und nicht nur Kreuze Sind die Grenzen,
Und nicht nur unter Kränzen
Ruht die Welt.


Wenn Augen nicht mehr leuchten
Und die Erinn’rung innehält,
Dann sind es meine Schmerzen,
An denen meine Welt sich stählt.


Die einen gehen schnell und hart,
Und andre wollen noch im Gehen stehen.
Sie dämmern dann in kleinsten Schritten
Hinein in jene Welt,
Wo jeder Blick in Leere fällt.
Und irgendwann
Verfehlt sie unser Schmerz
Und einmal mehr
Bricht unser Herz.


Dann sehen wir die Grenze
Und bleiben vor ihr stehen.
Den letzten Schritt –
Im Licht der Kränze –
Muss jeder dann alleine gehen.

 

Der generative Wechsel zur Elterngeneration ist vollzogen. Vor der Zeit sind neben meinem Bruder meine Jugendfreunde gegangen: Jopa, Peter-Georg, Karl-Heinz. In meinem Freundeskreis gibt es einen Bruder im Geiste, dessen Schicksal mich immer wieder berührt; es ist eine Berührung im Modus des Mitleidens und des fortgesetzten Irritiertseins.

Eine kurze Zwischenbemerkung: Gegenwärtig lese ich Anna Haag: Denken ist überhaupt nicht mehr Mode – Tagebuch 1940-1945 (Reclam-Verlag), Stuttgart 2021). Auf Seite 333f. lese ich folgenden Eintrag. Es handelt sich um eine Danksagung: „‘Für die freundliche Anteilnahme, die wir bei dem Soldatentod unseres unvergesslichen Sohnes erfahren durften, danken wir von ganzem Herzen.‘ In einem seiner letzten Briefe schrieb er: ‚An meinem eigenen persönlichen Leben hänge ich nicht. Die Wirkung, der Auftrag ist alles.‘“ Anna Haag kommentiert hierzu: „Wer versteht das? Ich meine: wer begreift die Eitelkeit dieser und so vieler deutscher Eltern, die diese Eigenschaft noch mit dem ‚Soldatentod‘ ihres Sohnes kitzeln? Warum hat der Vater seinen Sohn nicht belehrt (der Vater hat sich uns gegenüber als Anti-Nazi und Kriegsgegner ausgegeben. Er ist ein gelehrter Herr), dass ‚Auftrag‘ und ‚Wirkung‘ nur dann einen großen Sinn haben kann, wenn der ‚Auftrag‘ edel, und seine ‚Wirkung‘ entsprechend ist? Fluch über die Narren, die das Schlachten und Geschlachtetwerden heute noch immer als ‚großen Auftrag‘ feiern! Ich bin erfüllt von Menschenhass und Menschenverachtung!“

Die Selbstverständlichkeit eines Dulce et decorum est pro patria mori („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“) ist für uns heute unvorstellbar. Sie disziplinierte selbst gelehrte Herren mitsamt der Familie zu einer Haltung, die bis zur Selbstverleugnung führte. Sie mündete in einem traumatisierten Nachkriegsdeutschland in eine kollektive Verdrängungshaltung, gepaart mit einer offenkundig unbändigen Energieleistung, die einerseits zur Wirtschaftswunderwelt führte, die aber andererseits Beobachter dazu veranlasste, von einer Unfähigkeit zu trauern zu sprechen (Margarete und Alexander Mitscherlich).

In der postmodernen Gesellschaft gerät Trauer – so könnte man sagen – zu einer latent dynamischen bis virulenten Grunddisposition. Sie nimmt vielfältigste Gestalt an, indem die Einsicht, dass wir alle sterben müssen, die unterschiedlichsten Antworten provoziert: Die traditionellen Milieus der Religionsgemeinschaften erodieren; die Vertreter eines offensiven oder auch diskreten Jugendwahns führen eine letztlich erfolglose Abwehrschlacht, die auch durch gesündeste Lebensführung nicht zu wenden ist; vermutlich kommt es einer fundamentalen Kränkung gleich, wenn man schließlich erkennen muss, dass man – gesund bis ins allerhöchste Alter – dennoch sterben muss. Die übergroße Zahl der Menschen sucht ihr Heil in einer mehr oder wirksamen Verdrängungshaltung und sieht sich irgendeines Tages – vollkommen überrascht – mit Gevatter Hein konfrontiert (Freund Hain lässt sich abwenden nit mit Gewalt, mit Güt, mit Treu und Bitt – ich bevorzuge die Version von Georg Ringsgwandl).

Wie gehen wir also mit unserer Sterblichkeit um, vor allem solange nicht unser eigener Tod gemeint ist? Das Ereignis eines frühen Todes – eines Todes zur Unzeit – schockiert; zumindest das unmittelbare Umfeld. Handelt es sich um einen Unfall – je spektakulärer, desto intensiver – nimmt die Öffentlichkeit daran Anteil.

Kaum jemand hat diese Zusammenhänge deutlicher thematisiert als Jean Baudrillard (Frankfurt 2003) Er fragt:

"Warum hat der erwartete und vorhergesehene Alterstod, der Tod in der Familie - welcher von Abraham bis zu unseren Großvätern als einziger einen vollen Sinn für die traditionelle Gemeinschaft hatte - diesen Sinn heute nicht mehr (a.a.O., S. 94)?

Die Moderne lässt Baudrillard aufscheinen in all ihrer Brutalität und Verachtung des Einzelnen, indem er der Frage nachgeht, warum denn der gewaltsame, zufällige - beispielsweise der Unfall-Tod -, der früher für die Gemeinschaft ein Un-Sinn gewesen sei, bei uns so eine exponierte Bedeutung hat? Vielleicht erkennen wir uns als diejenigen wieder, die sich dem konsumativen Terror der Massenmedien aussetzen - ja ausliefern, und die im "natürlichen" Tod keinen Sinn mehr erkennen können: "Der 'natürliche' Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und er banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist (a.a.O., S. 95)."

Baudrillard stellt in den Raum, dass jeder seine Toten beerdige. Hingegen gebe es bei den Primitiven keinen 'natürlichen' Tod: jeder Tod sei gesellschaftlich, öffentlich und kollektiv und er müsse durch die Gruppe und nicht die Biologie absorbiert werden: "Diese Absorbierung geschieht im Fest und in den Riten. Das Fest ist ein Austausch der Willen (man sieht nicht, wie das Fest ein biologisches Ereignis resorbieren könnte). Böse Willen und Sühneriten werden über dem Kopf des Toten ausgetauscht. Der Tod treibt sein Spiel und er gewinnt symbolisch - der Tote gewinnt seinen Status und die Gruppe bereichert sich um einen Partner (a.a.O., S. 95)."

Bei uns hingegen macht sich der Tote aus dem Staube!

Baudrillard hat vielleicht nicht mehr das massenhafte Verscharren von a-sozialisierten Toten auf den anonymen Grabfeldern unserer Friedhöfe erlebt. Die Vereinzelung zu Lebzeiten führt auch nach dem Ableben immer häufiger zur Bestattung auf anonymen Grabfeldern, die es  inzwischen auf jedem Friedhof gibt. Baudrillard behauptet schon 1976, dass sich die Toten aus dem Staube machen. Am Ende eines Lebens der Akkumulation (von gewonnen Jahren - auf dem Hintergrund rasant ansteigender Lebenserwartung bzw. durchschnittlichen Ablebens) werde er vom Ganzen abgezogen. Er werde zu keiner Erinnerung:

"Das ist ein banaler, eindimensionaler Tod, das Ende eines biologischen Parcours, die Bezahlung einer Schuld: 'den Geist aufgeben', wie ein Reifen, der seine Luft verliert. Welche Plattheit (a.a.O., S. 96)!"

Damit könnte man ja vielleicht noch leben. Damit aber der Tod nicht als vollkommene Inkarnation der Sinnlosigkeit erlebt wird, reicht es nach Baudrillard eben nicht aus, einen Toten "der Natur zurückzugeben". Vielmehr müsse er nach genauen herkömmlichen Riten ausgetauscht werden, damit seine Energie, die Energie des Toten und des Todes, auf die Gruppe zurückwirken und von der Gruppe aufgenommen und verausgabt werden könne, anstatt nur der 'Natur' überlassen zu werden (vgl. ebd., S. 97). Wie fremd ist uns denn diese Einsicht; uns, die wir - wie Baudrillard meint - über keinen wirksamen Ritus zur Absorption des Todes und seiner gewaltigen Energie mehr verfügen. Uns bleibe nur noch das Phantasma des Opfers und des gewaltsamen künstlichen Eingriff des Todes: "Daher die intensive und zutiefst kollektive Befriedigung angesichts des Todes im Auto. Was beim tödlichen Unfall so fasziniert, ist die Künstlichkeit des Todes. Er ist technisch, nicht natürlich, also beabsichtigt (möglicherweise vom Opfer selber), also von neuem interessant - denn der beabsichtigte Tod hat einen Sinn (a.a.O., S. 97)."

Das Jahr 2003 vermittelte mir individuell auf ungewöhnliche Weise die Erfahrung, einer Absorption des Todes und der von Baudrillard angenommenen und phantasierten gewaltigen Energie des Todes. Das unmittelbare und konsequente Einlassen auf die Sterbebegleitung meiner Mutter endete mit dem Übergehen der gewaltigen Energie, die sich in der Lebensleistung und –einstellung meiner Mutter manifestierte, in Art einer Osmose auf meine energetische Ausstattung für ein überschaubares Zeitfenster – etwa ein halbes Jahr – und latent als haltungsbestimmender Einfluss für den Rest meines Lebens. Natürlich hält mich die Mehrheit meines Umfeldes für bekloppt. Was allerdings nach dem Tod meiner Mutter an nachhaltiger, wirkungsmächtiger Verhaltensausrichtung mir selbst beobachtbar und erfahrbar wurde, zeugt von einem Entwicklungspotential und einem Entwicklungsschub gleichermaßen.

Das Unfassbare wurde sowohl vertrauter als auch in seiner Vertrautheit weniger bedrohlich. Als 2016 Andreas tödlich verunglückte, sahen wir alle uns einmal mehr konfrontiert mit einem Tod zur Unzeit. Der Tod trat ein infolge eines vermeintlich selbst verschuldeten bzw. verursachten Autounfalls, dessen Umstände – wie Baudrillard es beschreibt –, zu Spekulationen Anlass gaben. Andreas war nicht nur der Sohn eines engen Freundes, er war über mehr als zwei Jahre die erste Liebe unserer jüngsten Tochter – Anne – mit all den Höhen und Tiefen, die den singulären Charakter der ersten Liebe ausmachen. Die Trennung der beiden lag bereits mehr als sechs Jahre zurück, als uns der Anruf erreichte, dass Andreas bei einem Autounfall gestorben sei – im Alter von 29 Jahren. Die bedrängenden Bilder aus 1994 im Nachgang zum plötzlichen Unfalltod meines Bruders glichen sich ab mit einer Tragik, die sich aus einem einzigen Grund noch düsterer und schockierender ausnahm. Fast genau vor 20 Jahren hatte der Vater Andreas' seinen Sohn aus erster Ehe durch Suizid verloren. Mit Andreas' Vater verbindet mich eine lange Freundschaft, die der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Institut an der Uni und der Tatsache, dass er lange die Leitung dieses Instituts innhatte, entwachsen war. Die Umstände, die Andreas‘ Tod begleiteten, ließen auch hier böse Ahnungen zu. Dass sich diese Annahme eher als Trugschluss herausstellte, hatte wenig Tröstliches.

Mein Freund hatte die Leitung des Instituts, an dem ich offiziell zum 1. Juli 1994 meinen Dienst aufnahm, erst wenige Monate zuvor übernommen. Die erste Amtshandlung mir gegenüber bestand im Kondolenzschreiben, mit dem er mir sein Beileid zum Unfalltod meines Bruders bezeugte; 1997 schrieb ich dem Freund einen langen Brief zum Tod seines Sohnes Björn, der noch im ausgehenden 20. Jahrhundert auf bedrückende Weise die Nöte und die Einsamkeit eines jungen – eben auch erst 29jährigen Mannes offenbarte, der (auch) an der Tatsache seiner schwulen Identität zerbrochen war.

Dieses brutale dejà vu konnte nur wie eine Heimsuchung erscheinen. Ich halte meine Eindrücke hier fest, weil es eine doppelte tiefe Verwobenheit der Geschichte meines Freundes und seines Sohnes mit meinem Leben gibt. Dies schließt die tiefe Betroffenheit und den nachhaltigen Schock ein, der meine ganze Familie und mein Umfeld – selbstredend Anne in besonderer Weise – erfasste. Der Freund, der in diesem großen Unglück das kleine Glück hatte, inzwischen eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihn stützte, die ihm Kraft und Besonnenheit vermittelte, suchte den Kontakt zu einem im Leiden und Mitleiden Erprobten. In dessen Erinnerungsflut mischten sich die Eindrücke auf surreale Weise:

Die Tatsache, dass mein Freund eine Frau an seiner Seite hatte, die ihm Rückhalt und Kraft vermittelte, die aber nicht Andreas‘ Mutter war, bedeutete eine der Gegebenheiten auf der schiefen Ebene, auf der sich der Freund bewegte. Die Metapher Dirk Beackers (siehe Kapitel…) beschreibt vielleicht unser aller Lebensrahmen auf mehr oder weniger eindrückliche Weise. Das nunmehr grell aufscheinende Blitzlicht, beleuchtete das Spielfeld, auf dem sich der Freund als Mitspieler bewegte und auf dem mehrere Tote verteilt waren. Hier zeigte sich – vielleicht ausgeprägter als üblich –, dass die Leute das runde Spielfeld betraten und verließen, wie sie wollten. Immer war unklar, wer gerade den Ball hat und wer welches Tor zu seinem erklärt. Auf der abfallenden Fläche schien das Bemühen um Kontrolle aussichtslos.

Das Zeitfenster für ein ritualisiertes Trauergeschehen ist begrenzt. Die Trauerfeier und die Beisetzung zwingen dem Geschehen eine enge Taktung auf. Die Trauerfeier für Andreas offenbarte zur Gänze das verworrene Chaos, das Andreas selbst noch in den Tod begleitete. Die Trauerfeier selbst habe ich unter den unmittelbaren Eindrücken des Geschehens für mich erinnert. Heute – mit einem Abstand von fast fünf Jahren – mischen sich die Zutaten noch einmal neu. Mir erscheint im Rückblick der Schmerz als diffuser und ausgefranster Nebel, in dem die Trauernden nicht zueinander finden konnten. Die Mutter Andreas‘ saß isoliert für sich, der Freund saß für sich und seine Tochter bildete ein drittes Schwerkraftfeld, in dem sich Abstoßung und Anziehung neutralisierten.

Der Freund hat zuweilen resigniert registriert, dass seine Kinder Abstand zu ihm suchten. Peter Sloterdijk hat die beobachtete Einkrümmung der Subjekte in sich selbst – jene incurvatio in se ipsum – primär in Zusammenhang gebracht mit einer Operation des Sündigens, die man heute als „Kommunikationsabbruch in bezug auf ein gesprächsuchendes oder bittendes Gegenüber charakterisieren würde“. Bitterer noch, dass Sloterdijk sich bemüßigt sieht zu ergänzen: Sie – diese Einkrümmung – beziehe sich auch auf das „habitualisierte Resultat einer solchen Abwendung, eine hartnäckige Fehlstellung des moralischen Sinns, die sich sogar bei gutem Willen vom Subjekt nicht mehr kompensieren ließe“.

Mehrfach habe ich Karl Otto Hondrich erwähnt, der uns Erwachsene darauf aufmerksam macht, dass Kinder ihren eigenen intuitiven Umgang mit den wechselseitig ausgelebten Konflikten und Idiosynkrasien ihrer Eltern pflegen. Die Abschiedsworte des Freundes an seinen Sohn offenbaren im Rückblick für mich den verzweifelten Versuch, den nun eingetretenen finalen Kommunikationsabbruch nicht nur zu ertragen, sondern ihn ein Stück weit auch abzuwehren. Die Anknüpfung an eine frühe Geste seines kleinen Sohnes Andreas, der seinem Vater ein Schäfchen zudachte mit den Worten: „Ein langes Leben, lieber Papa, dein Andy“ stellt den Lebensfluss auf den Kopf und bezeugte nun zum zweiten Mal, dass ein Vater seine Söhne ziehen lassen muss.

Ich verdanke dem Freund mehr als nur die Intervention, mit der er 1997 – in der Zeit meines Wütens in dieser Welt – versucht hat, Claudia zu besänftigen und ihr zu einer Haltung der Geduld riet. „Bewahre die Ruhe, der Jupp wird sich eines Besseren besinnen – mit der nächsten Frau wird nichts besser.“ Den weiten Weg dieser Besinnung bin ich (auch mit Hilfe von guten Freunden – siehe Kapitel…) gegangen. Dass es insbesondere für ihn - den Freund aus so vielen freudvollen wie leidvollen Tagen - anders kommen musste, erscheint mir bitter und versöhnlich zugleich mit Blick auf die Tatsache, dass ihm die letzte Liebe wohl doch noch ein fürsorgliches Finale vergönnt.

Man kann sich nun fragen, was mich wohl dazu legitimiert fremde Familiendynamiken zu thematisieren und nicht nur welche zu erfinden. Was hier zu lesen ist, ist meine Erfindung im Sinne eines Nachspürens. Die Tatsache, dass Andreas nicht nur der Sohn meines besten Freundes war, sondern um ein Haar unser Schwiegersohn geworden wäre, mag ein hinreichender Grund sein zu erinnern – auch über unserer gemeinsame Zeit hinaus.

 

Kurvenverläufe und #metoo (25)

 

Frau

Du Frau –
wie füllst du den Raum!
Schneidest messerscharf
Konturen in diesen Kosmos.
Markierst ein Terrain
singulär und einzig.
Meine Gedanken
umkreisen diesen Kosmos;
und mein Sinnesseismograph
zeichnet feinsinnig
und kurvengenau
die Parabeln.
Diese Beweise fallen leicht:
Gedanken- und Körperwelten,
die sinnesmächtig agieren,
und sich manchmal begegnen.

 

Ich bin ein Augenmensch:

 

Von vorne wie von hinten

Wenn meine Augen trunken sind
von so viel Weiblichkeit,
sich verlieren im bestimmten Rund
– von vorne wie von hinten –
feuern die Neuronen,
berechnen
die Parabeln
nanosekundenschnell!
Mit absoluter Präzision,
so, als sei das komplexe
Zusammenspiel der Synapsen
simpel
und nur
k
o
m
p
l
i
z
i
e
r
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Einleitend habe ich geschrieben, dass die Geschichten, die ich erzähle, vielleicht in ihren Details und in ihrer sprachlichen Form durchaus originell sind; dass es sich aber grundsätzlich immer um Alltagsgeschichten handelt. Die subjektiv einseitige Weltsicht, die damit zum Vorschein kommt, konfrontiert sich andererseits durchweg mit dem, was wir dem sogenannten Zeitgeist und erkennbaren historischen Kontexten zuschreiben. Dem unterliegen zweifellos auch eine geschlechterbetonte Sozialisation mit der daraus folgenden sexuellen Identität – einschließlich ihrer Defizite und Versäumnisse. Mir ist allerdings enorm wichtig zu betonen, dass der Erwerb, die Interpretation und der Umgang mit den Essentials und Facetten eines männlichen Selbstbildes mit Anteilen verknüpft zu sein scheint, denen ich lediglich einen vorreflexiven Status zubillige. Ein vordergründiger Beleg für diese Annahme hängt aus meiner Sicht mit der ungeheuren Vielfalt zusammen, die sich heute in den Identitätskrisen und –konstrukten sowohl von Männern als auch Frauen widerspiegeln. Hinzu kommen gesellschaftliche Marker-Begriffe, wie queer, für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht den heteronormativen Normen entsprechen. Betrachtet man diese Gemengelage, erscheint es andererseits auch wieder leicht, den Anspruch auf eigene Identitätsfacetten offensiver zu vertreten und zu kommunizieren:

Gedichte sind das eine, die Wege dorthin das andere. Sind Gedichte vielleicht eine der ambitioniertesten Formen reflexiver Auseinandersetzung mit individuellen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten bzw. Prozessen, so meine ich eben, dass die Wege dorthin angelegt werden und gedeihen in einem vorreflexiven Sumpf von Wahrnehmungen und der je möglichen Auseinandersetzung mit ihren Auslösern und Wirkungen. Emotionale, kognitive und kontextuelle Affekte und Rahmenbedingungen entscheiden über Differenziertheit und Niveau dieser dann reflexiv motivierten Auseinandersetzungen. Nehmen wir eine weitere Kostprobe sprachlich verdichteter Wahrnehmungsimpulse hinzu, wird vielleicht deutlicher, worum es mir geht (es handelt sich im Übrigen um eine Auswahl von Café-Hahn-Gedichten aus den 90er Jahren - hier der Link dazu):

 

Possessivum (Variationen)

 

Zunder I

Sie spürt,
dass meine Augen
ihren Arsch erfinden.
Ich spüre,
dass sie fühlt,
wie ich merke,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
meine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

 

Zunder II

Sie spürt,
dass seine Augen
ihren Arsch erfinden.
Er spürt,
dass sie fühlt,
wie er merkt,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
seine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

 

Zunder III

Er spürt,
dass ihre Augen
seinen Arsch erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
 wie sein Arsch
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder bereit liegt.

 

Zunder IV

Er spürt,
dass ihre Augen
seine Nase erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
wie seine Nase
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

 

Zunder V

Jemand spürt,
dass seine Augen
jemandes Augen erfinden.
Er spürt,
dass er fühlt,
wie er merkt,
dass er spürt,
wie seine Augen
seine Blicke fangen –
wie ein Brennglas,
das Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

 

Es bleibt mir nicht verborgen, dass die folgenden Ausführungen wohl jetzt aufgeschrieben werden müssen oder nie mehr! Dies hängt primär damit zusammen, dass es – zumindest was mich angeht – immer weniger um die Intensität eines gelebten Lebens geht; dies würde vor allem das intensive Ausleben einer lebendigen, neugierigen, triebhaften Sexualität einschließen – in erster Linie auch als konkreter, handlungsmächtiger Vollzug mit all seinen physischen und psychischen Implikationen. Bei dem gesamten Unterfangen, dem ich mich hier unterziehe und aussetze, geht es eher um die gedankliche Durchdringung, das Nacherleben intensiver Erfahrungen, so dass daraus erzähltes Leben wird, ganz nach der Vorstellung Henry de Montherlants, wenn er meint, ein Bursche von achtzehn Jahren, der über alles erhaben sei, sei ein Tor, und ein Mann von siebzig Jahren, der nicht über alles erhaben sei, sei ebenfalls ein Tor. Montesquieu setzt den Akzent ähnlich, indem er bemerkt, dass wir auch im Alter noch den Genuss begehren. Kosteten wir in der Jugend allerdings den Genuss im Verschwenden aus, so im Alter nur im Bewahren.

Verlassen wir einmal eine eher philosophisch inspirierte Weltsicht. Einen Barcode zu entschlüsseln, ist gleichermaßen trivial wie faszinierend. Mit einem Barcodeleser/Barcodescanner liest man die Breite der gedruckten Balken und den dazwischenliegenden nicht eingefärbten Lücken mit einem Laser oder LED ein. Dies geschieht via Reflektionen der hellen und dunklen Abstände.

Mein persönlicher, singulärer Sinnesseismograph liest - einem Barcodeleser ähnlich - aus der unendlichen Flut von Sinnesreizen jene aus, die im Zusammenspiel zuweilen eine kritische Masse hervorbringen. Wichtig ist mir – wie schon gesagt – zu betonen, dass es sich hierbei um ein absolut vorreflexives Geschehen handelt. Da ich heterosexuell gepolt bin, provoziert das Erscheinungsbild einer Frau in mir Reflexe, deren Qualität eine unendliche Variationsbreite repräsentiert. Von angenommenen hundert, tausend oder meinetwegen zehntausend Frauen erzeugt jede ein singuläres Muster, das sich einem Barcode ähnlich von allen anderen Mustern unterscheidet. Einige Male in meinem Leben war ich offen für das beschriebene Phänomen der kritischen Masse. Zu der außerordentlichen Qualität der aufgenommenen Sinnesreize kommt dann unter Umständen ein Interesse, das das Spiel anstößt, das nur zu zweit geht. Julia Onken bietet eine Metapher an, mit deren Hilfe ich für mich verstehen kann, warum mir/uns mit fast siebzig Jahren ein fürsorgliches Finale winkt. In einem fiktiven Interview hat Adrian, mein Koautor bei Kopfschmerzen und Herzflimmern (Koblenz 2005), die Unterscheidungen von Eros, Philia und Agape mit ihr erörtert:

Adrian: Liebe Julia Onken, ich möchte mit Ihnen eine Passage aus Ihrem Buch „Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag“ erörtern; eine für mich hochinteressante Passage, in der Sie in die Liebessemantik die Unterscheidung von Eros, Philia und Agape einführen. Warum halten Sie diese Unterscheidung überhaupt für sinnvoll?

Julia Onken: Nun, wir sind als Deutschsprechende in der schwierigen Lage, dass wir nur das eine Wort Liebe für verschiedene Arten von Liebe zur Verfügung haben. Mit Hilfe der griechischen Begriffe Eros, Philia und Agape wird eine differenzierte Sichtweise möglich, welche die Unterschiede deutlicher werden lässt und deshalb mehr Klarheit in die eigene Liebessituation bringt. Diese drei Begriffe lassen sich anschaulich auf das Bild eines Berges übertragen, den es zu besteigen gilt. Am Fuße des Berges steht Eros, der unsere sexuellen Bedürfnisse und Wünsche durch Triebenergie in Bewegung setzt. Im Mittelfeld steht Philia als freundschaftliches, wohlwollendes Zugeneigtsein und auf der Bergspitze als Ziel und Krönung thront Agape: die allumfassende Liebe.

Adrian: Man muss also davon ausgehen, dass sie eine hierarchische Ordnung im Blick haben, die das eine abwertet und das andere aufwertet: Eros am Fuße – kriechend sozusagen – und Agape auf der Bergspitze thronend und dann noch irgendetwas dazwischen, niedriger als Agape, aber höher als Eros.

Julia Onken: Nein, so ist das nicht gemeint. Die sexuelle Energie hat eine eminent wichtige Aufgabe. Sie ist es, die uns aus dem Schoße der Familie aufbrechen lässt, die uns zu außerhalb Suchenden werden lässt. Als sehnende Hälften schwirren wir herum und kommen nicht eher zur Ruhe, bis wir von einer anderen Hälfte magnetisch angezogen werden. Im Zustand der Sehnsucht nach Ergänzung sind wir kaum in der Lage, auf größtmögliche Übereinstimmung zu achten. Spätestens wenn der Sog der Sehnsucht nach kurzer Zeit des Zusammenseins nachlässt, beginnen wir, den anderen in seinen eigentlichen Möglichkeiten zu erleben. Aber ohne sexuellen Antrieb würde die Ablösung aus dem elterlichen Haus, aus der Familie in andere zwischenmenschliche Beziehungen nicht stattfinden.

Adrian: Ein komplementärer Begriff im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Eros ist der Begriff der Vorzugsliebe. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Begriff Ähnliches meint, wie es Peter Fuchs mit der Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz formuliert. Arnold Retzer könnte dies mit seiner Vorstellung von Exklusivität meinen. Was meinen Sie mit Vorzugsliebe?

Julia Onken: Eros spielt sich ausschließlich im Bereich der Vorzugsliebe ab. Der Partner wird aufgrund bestimmter Auswahlkriterien ausgesucht. Eros kann mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel verglichen werden.

Adrian: Das hört sich ja mächtig klischeehaft an. Damit bestätigen Sie den von Roland Barthes beschworenen und von den anderen nüchtern beschriebenen Mythos der romantischen Liebe.

Julia Onken: Ja, und ich meine das ausdrücklich so: Es sind Naturgewalten, die da im Menschen losbrechen und die kaum unter Kontrolle zu bringen sind… Im Zustand des Verliebtseins fallen meist sämtliche verstandesmäßigen Überlegungen aus: Sie werden von den ungeheuerlichen Eroskräften einfach hinweggespült, damit wir an das Ziel der sexuellen Vereinigung gelangen als Ausdruck des körperlichen Einsseins mit dem anderen.

Adrian: Das hört sich fast ein wenig funktionalistisch, meinetwegen biologistisch an?

Julia Onken: Ich würde das so nicht sagen. Aber in der erotischen Anziehung verkörpert sich ein höchst sinnvolle Einrichtung. Dass die Triebkräfte eine solch gewaltige Kraft über uns ausüben, gibt uns einen gehörigen Stoß, uns auf den Weg zu machen, um zu Liebenden zu werden.

Adrian: Und um in ihrem Bild zu bleiben, ist Eros…

Julia Onken: …die Anlaufstelle am Fuße des Berges als eine An-Triebs-Kraft, die uns anspornt, die uns auf den Weg schleudert, um den Berganstieg zu bewältigen.

Adrian: Das sind Maschinen-Metaphern – „Eros als Anlasser, um den Motor in Gang zu setzen“!

Julia Onken: Ja, ich meine das so. Die Sprache weist unüberhörbar darauf hin, was sexuelle Betätigung ist: „Liebe machen“, präziser kann es eigentlich nicht mehr ausgedrückt werden, denn diese Formulierung beschreibt genau, um was es sich handelt; die Liebe wird gemacht. „Miteinander schlafen“ beschreibt den Gegensatz zur Wachheit. Miteinander eintauchen in die Dunkelheit, sich den Triebkräften überlassen, die nicht dem wachen Bewusstsein des Menschen entspringen… „Geschlechtsverkehr haben“ heißt nicht mehr und nicht weniger als geschlechtlich verkehren… Der Ort der Geschlechtlichkeit ist die unterste Öffnung unseres Körpers und mit dieser geographischen Verortung ist der Weg auf der Körperlandkarte deutlich vorgegeben. Das soll die Sexualität keineswegs abwerten. Ihr wird lediglich der Platz zugewiesen, der ihr zusteht: Anlaufstelle, Anlasser, vitalisierendes Element, das ungeheure Energien freisetzt, um die Liebesfähigkeit zum Blühen zu bringen. Sexualität übernimmt lediglich eine Funktion und ist nicht das Ziel. Wäre sie das Wichtigste, müsste man sich den Körper umgedreht vorstellen. Dann wäre das Geschlecht an oberster Stelle und zwischen den Beinen läge der Kopf.

Adrian: „Steht der Schwanz, schweigt der Verstand!“ – „Dir ist der Kopf wohl in die Hose gerutscht!“ Mit solch ironisch-kraftvollen Bildern sehen sich vor allem Männer konfrontiert in den Irrungen und Wirrungen einer akuten Verliebtheit zur Unzeit. Die Frau eines guten Freundes ist von einer Kollegin einmal mit dem Hinweis getröstet worden, dass man solch „schwanzgesteuerten“ Anwandlungen gegenüber am besten die Ruhe bewahre. In der Regel sei das Erwachen mit Ernüchterung verbunden, wie nach einem kräftigen Kater. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen ja wohl mehr um eine „Fortsetzung“ des Weges verbunden mit einer Aufwärtsbewegung, hinfort aus den Niederungen!?

Julia Onken: Warum so ironisch? Die Fortsetzung des Weges ist Philia als das Zusammenschwingen der Seelen in Sympathie, Freundschaft, menschlicher Wärme, wohlwollendem Zugeneigtsein. Dies ist eine konsequente Weiterführung aus der gegenseitigen erotisch-sexuellen Mann-Frau-Bezogenheit in den Bereich der Freundschaften. Sie ist eine Verfeinerung und Weiterentwicklung der körperlichen Liebe. Bei den meisten Menschen zeigt sich ein natürliches Bedürfnis, die geschlechtliche Mann-Frau-Bezogenheit (natürlich auch Mann-Mann und Frau-Frau) zu erweitern und in den Bereich des menschlichen Miteinanders zu gelangen. Wenn das nicht möglich ist, weil sich einer der beiden weigert, wird es früher oder später in der Beziehung zu Problemen kommen.

Adrian: Heißt das, dass irgendwann die Sexualität vollkommen in den Hintergrund treten kann – und vor allem, wie gehen wir mit Zugeneigtheiten außerhalb der Kernbeziehung um? Gibt es eine Chance, in einer liebevollen Kernbeziehung zu leben unter dem Einfluss eines wohlwollenden Zugeneigtseins und gleichwohl sexuelle Außenkontakte zu pflegen? Jürg Willi hat in der ersten Auflage der Paarbeziehung einmal davon gesprochen…

Julia Onken: Man sollte sich aus meiner Sicht immer Folgendes klarmachen: Wenn wir uns z.B. außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne Weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros.

Adrian: Aber Sie meinen, zur Sexualität könne – ja müsse – eine weitere Qualität dazukommen?

Julia Onken: Ja, davon bin ich zutiefst überzeugt, nämlich das „Sich-freundlich-Zugeneigtsein“, das gegenseitige Wohlwollen. Das heißt, nicht die erotische Anziehung bleibt ausschlaggebend, sondern das Seelische rückt zunehmend in den Vordergrund. Sicherlich ist es kein Zufall, dass der Mensch im Laufe des Älterwerdens die äußeren Reize allmählich verliert. Denn er benötigt diese Signale nicht mehr, um auf sich aufmerksam zu machen und das andere Geschlecht anzulocken. Die Haare als Kopfschmuck werden in Farbe und Volumen unauffälliger, die pfirsichstraffe Haut wird faltig, die Figur verliert die geschlechtliche Ausprägung. Alles deutet darauf hin, dass wir diese Signale nicht mehr nötig haben, da an die Stelle der äußeren Reize nun die Schönheit einer reifen Seele tritt.

Adrian: Sie schildern in Ihren Ausführungen, dass es Menschen gibt – mehr Männer als Frauen –, die ein Leben lang am Fuße des Berges herumrennen.

Julia Onken: Ja, sie drücken unentwegt den Anlasser, hüpfen ein paar Meterchen weiter, bis ihnen der Motor wieder still steht und sie erneut den Anlasser betätigen müssen. Sie sind pausenlos auf der Suche nach sexueller Aktivität und verbrauchen ihre ganze Energie horizontal, ohne dem vertikalen Impuls nach oben zu folgen.

Adrian: Also, Ihre Bildersprache in allen Ehren, aber das bleibt mir doch zu holzschnittartig. Es mag doch Lebensentwürfe geben, die der Sexualität einen größeren Stellenwert einräumen, ohne dass diese Menschen zu asozialen Kreaturen verkümmern. Viele kulturelle Leistungen, die auch anderen Menschen zugutekommen, entstehen doch auf diese Weise und nicht dadurch, dass man sich im freundlichen Einander-Zugeneigtsein abends auf dem Sofa vor dem Kamin begegnet.

Julia Onken: Ich bleibe dabei! Die Liebesenergie drängt als natürlicher Wachstumsprozess stets nach oben wie Pflanzen und Bäume, die sich nach dem Licht richten. Dieser Bewegung nicht zu folgen ist eine fundamentale Weigerung, sich in die Aufgerichtetheit zum wirklichen Menschsein zu entwickeln. In der Liebesbeziehung zeigt sich Philia als Vertiefung und Überschreitung des Geschlechtlichen, in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen als liebendes, einfühlsames Wohlwollen.

Adrian: Sie haben vorhin schon die „Agape“ erwähnt – auch noch einmal deutlich in Abgrenzung zum Eros. Was kann es denn jetzt noch mehr geben als die differenzierten Haltungen von Eros und Philia?

Julia Onken: Agape ist das Gegenteil von Eros. Während wir im Erotischen einen aus vielen heraussuchen, ihn allen anderen vorziehen, schließen wir in Agape nichts und niemanden aus. Denn Agape orientiert sich nicht an besonderen Vorzügen, sondern wertschätzt und liebt das göttliche Prinzip, den göttlichen Funken in jedem, ungeachtet der äußeren Merkmale. Eros ist die Vorzugsliebe, die andere ausschließt, Agape ist die umfassende Liebe, die alles vereint. Adrian: Und wenn Sie nun diese drei Spielarten – oder besser Dimensionen – der Liebe noch einmal zueinander in Beziehung setzen sollten und die Unterschiede dabei auf den Punkt bringen könnten!?

Julia Onken: Nun gut: Eros ist dabei der zündende Funke, der uns lehrt, uns ganz zu verschenken, der uns in die Knie zwingt, um das ständige Sehnen nach Verschmelzung zu stillen. Er lässt uns für Momente in das Gefühl des umfassenden Einsseins eintauchen, und der Pulsschlag zieht sich auf einen einzigen Punkt zusammen, um im anderen zu erblühen. Es ist die körperliche Lektion, sich hinzugeben, sich wie eine Blume dem Licht zu öffnen, um das große Glück des Einsseins als Grunderfahrung wieder zu beleben. Eros ist die Öffnung ins Körperliche, er durchdringt uns aus den Urtiefen. Er steigt in urgewaltigem Sehnen aus den dunklen Ufern unseres Leibes, wo er herzwärts weiterströmt und sich zur Philia verfeinert. Schritt für Schritt führt uns die Philia zielsicher weiter und durchdringt unseren Geist als kristallklare Quelle, bis sich das Herz weit öffnet und aufbricht in den Jubel allumfassender Liebe. Und jeder und jede, der uns als nächste/r begegnet, wird in unsere weit ausgebreiteten, liebenden Armen aufgenommen: „Siehe, der Mensch!“

Dass ich nun mit fast siebzig Jahren – wie Henry de Montherlant meint – über alles erhaben sei, das klingt mir ein wenig zu pathosgeschwängert. Gleichwohl bestätigt Julia Onken mit ihren Unterscheidungen etwas, was ich aus der Perspektive eines Mannes zutiefst bestätigen kann. Es geht in diesem Kapitel exakt um die Bestätigung von Phänomenen, die von Julia Onken mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel oder der Urkraft von Naturgewalten gleichgesetzt werden. Es geht aber auch darum – mit Blick auf die Chance auf ein Fürsorgliches Finale (Detlef Klöckner) –, den Entwicklungsraum zu beschreiben, den sowohl Männer als auch Frauen für sich beanspruchen und kultivieren können. An dieser Stelle zwingt sich die Auseinandersetzung mit einer zu Teilen unsäglichen #me-too-Debatte auf; in Sonderheit mit den Exzessen, die vor allem ein sinn- und sinnesentleertes Hygiene-Sprech zur Folge haben:

Fünfundzwanzig Jahre LehrerInnenausbildung am Uni-Campus Koblenz – circa 250 bis 300 Seminarveranstaltungen und Vorlesungen; allein daraus resultiert ein Teilnehmerkreis von mehr als 10.000 Studierenden; mehr als 10.000 Staatsprüfungen, Modulabschlussprüfungen; tausende von Staatsarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten, an mehr als 600 Tagen Sprechstunden, zwischendurch Prüfungsberatungen. Im Lehramtsbereich summieren sich die persönlichen Beratungs- und Betreuungskontakte auf eine nicht mehr wirklich nachvollziehbare Zahl von zehn- bis fünfzehntausend, wovon 70 bis 80 Prozent Frauen waren. Der erwähnte Sinnesseismograph war im Dauerbetrieb, in der Regel reine Registratur im Sinne von Routine – tausende und abertausende von Adressen, Profilen, Gesichtern, Körperwesen, die eine besondere Arbeitsatmosphäre begründen, winters wie sommers. Zum Sommer gibt es eine delikate Randbemerkung, die weiter unten näher beschrieben wird.

Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Peter Sloterdijk). Diese Diskretion gilt auch in Selbstanwendung.  Sie führt hier allerdings zu einer Paradoxie, die – wie gesagt – nur dadurch vermeintlich aufgelöst wird, dass man die seismographischen Aufzeichnungen und Ausschläge in einen Routinebetrieb überführt  und vor allem ihn (in der Regel) der privaten und vor allem jeglicher öffentlichen Kommunikation entzieht. Die diskrete, unvermeidbare, seismographisch sensible Buchführung kommt einer umfangreichen Registratur gleich. Sie vollzieht sich jeweils in Bruchteilen von Sekunden und wird im Alltagsbetrieb der Seminare, Beratungen, Prüfungen - allein schon aus Professionalitätserfordernissen - ausgeblendet. Aber selbst diese Ausblendung kommt eher einer fragwürdigen Autosuggestion gleich – möglicherweise einem Akt der Selbsthypnose – der in seinen tatsächlichen subtilen Auswirkungen nicht abzuschätzen ist - und vor allem: sie gelingt nicht immer. Auch hier bleibt mir nur der Verweis auf Peter Sloterdijk:

„Weil die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis (der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) einen uneinholbaren Vorsprung, vor seinen Selbstrepräsentationen im Bewusstsein besitzt, ist evident, dass Selbstbezüge immer einen gewissen funktionalen Sinn haben – und dies in aller Normalität und weit vor allen Problemen maligner (bösartiger) Selbstbetonung. Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die – wenn man ihnen abhelfen will – in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 128).“

Dies bedeutet in keiner Hinsicht eine Absolution – vor allem männlichen Fehlverhaltens (eine Definition folgt weiter unten im Anschluss an Catherin Deneuve u.a.). Ich greife einmal – auch um die eigene Verstrickung deutlich zu machen – auf ein weiteres Beispiel aus Sloterdijkscher Feder zurück. Es geht darum, den Zusammenhang zwischen seismographischer Registratur und reflexiver Kommentierung zu verdeutlichen (ich entnehme das Beispiel: Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011, Berlin 2012, S. 37f.). Unter dem 3. Juni, Amsterdam findet sich folgender Eintrag:

„Mittags im Sea Palace. Rene zitiert einen Satz von Konfuzius: ‚Mit siebzig konnte ich den Regungen meines Herzens folgen, ohne jemals eine Sünde zu begehen.‘ Später sah ich an der Centraal Station eine junge Frau, bei deren Anblick sich der Wunsch einstellte, siebzig zu sein, der Regung wegen. Für das übrige wäre vierzig die Obergrenze gewesen. Ich fragte mich nur, was mit dem weiblichen Selbstbewusstsein nicht stimmt, wenn ein Wesen mit einem derart evangelischen Gesicht ein solches Amok-Decolleté zeigt.“

Hier entsteht kein Streit um die Frage, wer zuerst da war: das Ei oder die Henne? Sieht man einmal ab, davon, dass es einer Henne bedarf, um ein Ei hervorzubringen, geht es hier zunächst einmal um die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis, die einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Repräsentationen im Bewusstsein besitzt; das Hähnchen ist gewissermaßen im Ei bereits genetisch programmiert und weiß, wann es krähen muss (sofern es nicht im Schredder landet). Sloterdijk nimmt das Mörderdecolleté (sinnlich-vorreflexiv) wahr und in Bruchteilen von Sekunden – aber eben erst nachher – stellt sich seine intellektuell (fragwürdige) Kommentierung ein – fragwürdig, weil man sich fragen kann, ob hier tatsächlich - wie Sloterdijk unterstellt - „mit dem weiblichen Selbstbewusstsein etwas nicht stimmt“, oder ob Sloterdijk sekündlich klar ist, dass ihm zur Würdigung des sinnesmächtigen Reizes nur diese bescheidene Form der (sarkastisch-ironiegeschwängerten) Kommentierung bleibt (die ja unendliche viele kulturelle Implikationen und daraus folgende Interpretationen offenbart – allein das  e v a n g e l i s c h e  Gesicht im Zusammenhang mit einem Amok-Decolleté wirft einen Fragenkatalog auf - aber eben erst nachher!).

Mir genügt dieses Beispiel, um mir meine eigene Situation in einem reizgefluteten – und zuweilen -überfluteten – Kontext noch einmal zu verdeutlichen. Einem weißen, älteren Mann bleibt zunächst einmal nichts anderes übrig, als sich in der ausufernden, komplexen #me-too-Debatte zu positionieren. Ich zitiere dazu aus dem aktuellen Wikipedia-Beitrag:

"Weiter gingen rund 100 Intellektuelle, Künstlerinnen und Journalistinnen, wie Catherine Deneuve oder Ingrid Caven, die einen offenen Brief unterzeichneten, den Sarah ChicheCatherine MilletCatherine Robbe-GrilletPeggy Sastre und Abnousse Shalmani verfasst hatten und den die französische Tageszeitung Le Monde am 9. Januar 2018 veröffentlichte. In diesem warnten sie vor dem 'Klima einer totalitären Gesellschaft'. Die ersten Sätze lauten: 'Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.' #MeToo habe eine 'Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen' ausgelöst – die Beschuldigten seien auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt worden, ohne antworten oder sich verteidigen zu können. Als Folge konstatierten sie eine 'Säuberungswelle', von der insbesondere Kunst und Kultur betroffen sei, was letztlich zu einer unfreien Gesellschaft führen könne. Sie befördere zudem einen Puritanismus und spiele so den Gegnern der Emanzipation in die Hände. Zwar sei es legitim, die Formen sexueller Gewalt gegenüber Frauen zu vergegenwärtigen. Eine beharrliche oder ungeschickte Anmache sei jedoch kein Vergehen – schließlich gäbe es keine sexuelle Freiheit ohne eine 'Freiheit, jemandem lästig zu werden'."

In diesem Wikipedia-Beitrag werden selbstredend die Fälle Harvey Weinstein und Dietmar Wedel erwähnt: „Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.“ Gerichte sollen darüber befinden (und haben darüber befunden), ob jemand strafwürdige Handlungen begangen hat. Im Geschlechterverhältnis habe ich selbst phasenweise fragwürdig agiert (siehe weiter oben); aber immer meilenweit entfernt von irgendwelchen strafwürdigen Haltungen.

Summa-summarum gehe ich soweit zu behaupten, dass die vorreflexive Affizierung evolututionsbezogen alternativlos ist. Die reflexive Auseinandersetzung als Handlungsvoraussetzung ist in einem zivilisierten, kulturgeschwängerten Kontext in der Regel gleichermaßen alternativlos - auch wenn manche meinen, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt (wie sehr man dabei auf des Messers Schneide wandeln kann, wird in Kapitel 1 und in den Kapiteln 20-21 eindrucksvoll sichtbar.

Kommen wir noch kurz auf das Phänomen der kritischen Masse zu sprechen. Als vorreflexive Affizierung kommt sie gewiss häufiger vor, als dass sie auch handlungsmächtig würde; genau in diesem Sinne ist Sloterdijks oben geschilderter Reflex einzuordnen. Solche Phänomene bleiben in der Regel folgenlos – wie ein fernes Wetterleuchten. Dass sie eine Handlungsmacht hervorbringen – und zwar wechselseitig –, die nicht nur im Begehren und im Begehrensbegehren endet, sondern über ein langes Leben den Wunsch nach einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz zur Folge hat, das ist eher singulären Charakters. Erst wenn dies wirklich gelingt – mit allen Höhen und mit allen Tiefen –, winkt jene Perspektive, an die ich im vierten Brief an Claudia mit Karl Jaspers erinnert habe (siehe: Die Mohnfrau, S. 120):

„Dann geht der Weg durch die Lebensalter. Die vitale Schönheit der Jugend schwindet dahin. Aber nun, in der lebenswährenden Erscheinung existentiell geprägt, liegt in der Schönheit des Alters mehr als nur die erinnerte Jugend. Es gilt Kierkegaards Satz: Die Frau wird mit den Jahren schöner. Aber es sieht nur der Liebende.“

Es tut mir leid, dass der Freund aus Kapitel 20 sich diese Erfahrung vorenthalten muss. Im Vergleich muss es sich wohl schal und fade anfühlen, wenn die letzte Phase der Leidenschaft, das Fürsorgliche Finale auf einmal in der Luft hängt, weil man sich des Fundaments beraubt und sich der Phasen  der Verzauberung – der dyadischen Verliebtheit – der klärenden Einschlüsse und Ausschlüsse – und der Intimen Dialoge nicht mehr erinnern mag. Die UrParabeln bleiben geborgen im gemeinsamen Weg, und alle Eskapaden verblassen im Zwielicht der Erinnerung.

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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