Der Mensch ist, weil er sich verdankt!
Weil ich nicht weiß, ob und wann - covid19-bedingt - die dritte Ausgabe von "Rund um den Laubenhof" erscheint, stelle ich meinen Leitartikel hiermit ins Netz. Es ist mir ein dringendes Anliegen, die bislang erfolgreiche Abwehr des corona-Virus durch das gesamte Laubenhof-Team zu würdigen.
Heute danken wir ganz generell den Pflegerinnen und Pflegern in Deutschland und weltweit sowie ganz besonders dem gesamten Personal im Seniorenzentrum Laubenhof, dem Leitungsteam und allen die Anteil daran haben, dass die ihnen anvertrauten Bewohnerinnen und Bewohner gesund und unbeschadet nicht nur durch die Corona-Zeiten gekommen sind.
Ich möchte das an dieser Stelle mit persönlichen Eindrücken verknüpfen, weil nichts konkreter und herausfordernder ist als die Verantwortung zu übernehmen für Menschen, die uns anvertraut sind – ob es nun unsere Kinder und Enkel sind, oder ob es unsere Eltern und alten, pflegebedürftigen Angehörigen im weitesten Sinne sind. Mir steht der Unterschied sehr deutlich vor Augen, der mit einer Pflege im häuslichen Bereich und der vollstationären Pflege in einem Seniorenzentrum verbunden ist. Meinen Schwiegervater haben wir zu Hause bis zu seinem Tode gepflegt; meine Schwiegermutter lebt seit drei Jahren im Laubenhof.
Ein zentrales Motiv für die Gründung der Zeitung Rund um den Laubenhof liegt in der stetigen Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine globalisierte, dislozierte Gesellschaft mit ihren Alten umgeht. Ich suche die Nähe nicht nur zu den im Laubenhof lebenden alten Menschen, von denen mir viele inzwischen vertraut sind, sondern auch zum Pflegepersonal. Es ist nicht das erste Mal, dass ich dem Pflegepersonal intensiv danke für die Arbeit, die es – teils – seit vielen Jahren leistet. Gegenwärtig aber stellt sich dieser Dank allerdings in einem Zusammenhang, in dem es wohl endlich gelingen mag, nicht nur die Systemrelevanz dieser Arbeit zu erkennen, sondern auch dafür zu sorgen, dass diese systemrelevante Arbeit sowohl ideell, in erster Linie aber auch materiell durch eine angemessene Bezahlung gewürdigt wird.
Die Altenpflege bewegt sich in einem existenziellen Grenzbereich, weil sie es unvermeidbarer Weise mit Menschen zu tun hat, die sich in ihrer letzten, finalen Lebensphase bewegen. Gerade in der vollstationären Pflege spürt man in besonderer Weise, wie sehr Menschen sich dem Umstand verdanken, dass sich andere um sie kümmern. In diesem Beitrag soll daher nicht nur der Dank an jene ausgesprochen werden, die diese Arbeit versehen, sondern vor allem auch die Frage gestellt werden, wie wir alle mit den belastenden Umständen des zunehmenden Pflegebedarfs bei personeller Unterversorgung umgehen? Dabei ist ja nicht nur die prekäre Situation des Pflegepersonals zu sehen. Es geht um unsere eigene unmittelbare Betroffenheit und es geht vor allem um die Frage, wie die Bewohner einer Alteneinrichtung, zu betreuende und zu pflegende Menschen die Zuspitzung im Sinne eines Pflegenotstandes erleben.
Auch in den schwierigen Phasen der oben erwähnten Pflege und Betreuung war mir Fulbert Steffenskys Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) eine besondere Hilfe. Um einem Missverständnis vorzubeugen – es geht im Folgenden nicht um ein Schönreden, sondern um die schlichte These, dass die Profession der Pflege genauso wie das Annehmen pflegerischer Leistungen vielleicht erst dann wirklich möglich und halbwegs befriedigend erlebt werden, wenn man einmal Fulbert Steffenskys Gedanken zulässt, die er in seiner kleinen Schrift äußert:
Gegenwärtig, da wir in Italien, Spanien, England, Frankreich, den USA sehen, dass auch die Hochleistungsmedizin an ihre Grenzen gerät, mag die erste Überlegung Steffenskys paradox erscheinen: „Es könnte sein, dass gerade die Hochleistungsmedizin, wenn sie einmal in Gang gebracht ist, ein Sterben in Würde verhindert.“ Mehr noch aber mögen uns die Bilder irritieren, die uns aus allen Teilen der Welt erreichen und die uns signalisieren, dass das medizinische Personal ohnmächtig der Triage ausgesetzt ist, der Entscheidungsnot, wer vorzugweise behandelt wird und wer nicht. Sicherlich wirkt Fulbert Steffenskys Kernthese angesichts des für unwahrscheinlich gehaltenen weltweiten medizinischen Notstands eher banal. Er stellt vorrangig die Frage, ob im Jugendwahn und Gesundheitszwang nicht auch ein Stück geheimer Gewalt liege, die uns möglicherweise daran hindere, dem Kranken seine Krankheit zu lassen und sich als Gesunder mit der Krankheit des anderen angemessen auseinanderzusetzen. In eine ähnliche Richtung argumentiert Klaus Mertes (siehe S. in diesem Heft), wenn er behauptet, es herrsche eine irrsinnige Angst vor der eigenen Verletzbarkeit: „Wir haben kein vernünftiges Verhältnis mehr zu unserer Sterblichkeit.“ Der traumatisierende Schock, mit dem sich das medizinische Personal angesichts vollkommen ungewohnter Sterblichkeitsraten konfrontiert sieht, wird ja gerade durch die Ohnmacht ausgelöst, mit der das Corona-Virus der Medizin Grenzen aufzeigt. Und es ist erschreckend genug, dass es erst dieser Erfahrung bedurfte, um Millionen Menschen zu veranlassen, abends auf Balkonen und im Internet und wo auch immer, dem medizinischen Personal inbrünstig zu danken. Kaum je ist deutlicher geworden, dass der Mensch ist, weil er sich verdankt – vor allem der in der Tat aufopferungsvollen Haltung vieler Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger.
Fulbert Steffensky zentriert seine Gedanken um eine triviale und gleichwohl fundamentale Erfahrung: „Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen.“ Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt.“
Erst die große Grundfähigkeit des Lebens – der Dank – lehre uns das Leben zu lieben: „Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten.“ Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine Investition für die Zukunft. Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmacht. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: „Umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke.“ Dies war vor der Corona-Krise schon so, und es wird nach der Corona-Krise so sein. Daran gilt es beharrlich zu erinnern.
Den Fokus seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die wir vielleicht als die letzte Entwicklungsaufgabe begreifen müssen, die uns allen mehr oder weniger gestellt ist. Sie erreicht uns in der Corona-bedingten Ausnahmesituation vielleicht mit besonderer Intensität und Nachhaltigkeit: „Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen […].“
Fragen wir uns alle, wie die wunderbaren Ideen Steffenskys auch in den gegenwärtig so belastenden Zeiten Kraft und Zuversicht spenden können. Dies wird nur Sinn machen, wenn wir zugleich die Frage stellen, wer all diese Fürsorge, Zuwendung und Pflege unter welchen Bedingungen ins Werk setzten soll? Es ist für viele Menschen – so Steffensky – zu einer Gewohnheit in den Komfortzonen dieser Welt geworden, Maximalerwartungen an das Leben zu haben: „Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht.“ Nein, so ist das Leben ganz gewiss nicht! Fulbert Steffensky führt an dieser Stelle den Begriff der Gnade ein. Möglicherweise weist er über die Bedrängnisse der Corona-Krise hinaus.
Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden: „Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist.“ Diese Hinweise haben vermutlich nie mehr Sinn und Berechtigung beanspruchen können, als in Zeiten vollkommener Bedrängnis und Not.
Daher möchte ich diesen Beitrag mit einem längeren Zitat beschließen, um uns allen mit Fulbert Steffensky Mut zuzusprechen: „Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau (Fulbert Steffensky war der Ehemann Dorothe Sölles) zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens.“
Dieser Beitrag ist in erster Linie all denen gewidmet, die den völligen Zusammenbruch der medizinischen Grund- und Notversorgung sowie ein Aufrechterhalten der Pflege unter extremen Bedingungen gewährleistet haben. Die meisten von uns sind unversehrt, weil wir uns ihrem Einsatz und ihrer Fürsorge verdanken.