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Kurvenverläufe und #metoo (25)

Frau

Du Frau –
wie füllst du den Raum!
Schneidest messerscharf
Konturen in diesen Kosmos.
Markierst ein Terrain
singulär und einzig.
Meine Gedanken
umkreisen diesen Kosmos;
und mein Sinnesseismograph
zeichnet feinsinnig
und kurvengenau
die Parabeln.
Diese Beweise fallen leicht:
Gedanken- und Körperwelten,
die sinnesmächtig agieren,
und sich manchmal begegnen.

Ich bin ein Augenmensch:

Von vorne wie von hinten

Wenn meine Augen trunken sind
von so viel Weiblichkeit,
sich verlieren im bestimmten Rund
– von vorne wie von hinten –
feuern die Neuronen,
berechnen
die Parabeln
nanosekundenschnell!
Mit absoluter Präzision,
so, als sei das komplexe
Zusammenspiel der Synapsen
simpel
und nur
k
o
m
p
l
i
z
i
e
r
t

.

Einleitend habe ich geschrieben, dass die Geschichten, die ich erzähle, vielleicht in ihren Details und in ihrer sprachlichen Form durchaus originell sind; dass es sich aber grundsätzlich immer um Alltagsgeschichten handelt. Die subjektiv einseitige Weltsicht, die damit zum Vorschein kommt, konfrontiert sich andererseits durchweg mit dem, was wir dem sogenannten Zeitgeist und erkennbaren historischen Kontexten zuschreiben. Dem unterliegen zweifellos auch eine geschlechterbetonte Sozialisation mit der daraus folgenden sexuellen Identität – einschließlich ihrer Defizite und Versäumnisse. Mir ist allerdings enorm wichtig zu betonen, dass der Erwerb, die Interpretation und der Umgang mit den Essentials und Facetten eines männlichen Selbstbildes mit Anteilen verknüpft zu sein scheint, denen ich lediglich einen vorreflexiven Status zubillige. Ein vordergründiger Beleg für diese Annahme hängt aus meiner Sicht mit der ungeheuren Vielfalt zusammen, die sich heute in den Identitätskrisen und –konstrukten sowohl von Männern als auch Frauen widerspiegeln. Hinzu kommen gesellschaftliche Marker-Begriffe, wie queer, für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht den heteronormativen Normen entsprechen. Betrachtet man diese Gemengelage, erscheint es andererseits auch wieder leicht, den Anspruch auf eigene Identitätsfacetten offensiver zu vertreten und zu kommunizieren:

Gedichte sind das eine, die Wege dorthin das andere. Sind Gedichte vielleicht eine der ambitioniertesten Formen reflexiver Auseinandersetzung mit individuellen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten bzw. Prozessen, so meine ich eben, dass die Wege dorthin angelegt werden und gedeihen in einem vorreflexiven Sumpf von Wahrnehmungen und der je möglichen Auseinandersetzung mit ihren Auslösern und Wirkungen. Emotionale, kognitive und kontextuelle Affekte und Rahmenbedingungen entscheiden über Differenziertheit und Niveau dieser dann reflexiv motivierten Auseinandersetzungen. Nehmen wir eine weitere Kostprobe sprachlich verdichteter Wahrnehmungsimpulse hinzu, wird vielleicht deutlicher, worum es mir geht (es handelt sich im Übrigen um eine Auswahl von Café-Hahn-Gedichten aus den 90er Jahren - hier der Link dazu):

Possessivum (Variationen)

Zunder I

Sie spürt,
dass meine Augen
ihren Arsch erfinden.
Ich spüre,
dass sie fühlt,
wie ich merke,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
meine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder II

Sie spürt,
dass seine Augen
ihren Arsch erfinden.
Er spürt,
dass sie fühlt,
wie er merkt,
dass sie spürt,
wie ihr Arsch
seine Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder III

Er spürt,
dass ihre Augen
seinen Arsch erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
 wie sein Arsch
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder bereit liegt.

Zunder IV

Er spürt,
dass ihre Augen
seine Nase erfinden.
Sie spürt,
dass er fühlt,
wie sie merkt,
dass er spürt,
wie seine Nase
ihre Blicke fängt –
wie ein Brennglas
Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Zunder V

Jemand spürt,
dass seine Augen
jemandes Augen erfinden.
Er spürt,
dass er fühlt,
wie er merkt,
dass er spürt,
wie seine Augen
seine Blicke fangen –
wie ein Brennglas,
das Sonnenstrahlen bündelt
und Brände entfacht,
wenn Zunder
bereit liegt.

Es bleibt mir nicht verborgen, dass die folgenden Ausführungen wohl jetzt aufgeschrieben werden müssen oder nie mehr! Dies hängt primär damit zusammen, dass es – zumindest was mich angeht – immer weniger um die Intensität eines gelebten Lebens geht; dies würde vor allem das intensive Ausleben einer lebendigen, neugierigen, triebhaften Sexualität einschließen – in erster Linie auch als konkreter, handlungsmächtiger Vollzug mit all seinen physischen und psychischen Implikationen. Bei dem gesamten Unterfangen, dem ich mich hier unterziehe und aussetze, geht es eher um die gedankliche Durchdringung, das Nacherleben intensiver Erfahrungen, so dass daraus erzähltes Leben wird, ganz nach der Vorstellung Henry de Montherlants, wenn er meint, ein Bursche von achtzehn Jahren, der über alles erhaben sei, sei ein Tor, und ein Mann von siebzig Jahren, der nicht über alles erhaben sei, sei ebenfalls ein Tor. Montesquieu setzt den Akzent ähnlich, indem er bemerkt, dass wir auch im Alter noch den Genuss begehren. Kosteten wir in der Jugend allerdings den Genuss im Verschwenden aus, so im Alter nur im Bewahren.

Verlassen wir einmal eine eher philosophisch inspirierte Weltsicht. Einen Barcode zu entschlüsseln, ist gleichermaßen trivial wie faszinierend. Mit einem Barcodeleser/Barcodescanner liest man die Breite der gedruckten Balken und den dazwischenliegenden nicht eingefärbten Lücken mit einem Laser oder LED ein. Dies geschieht via Reflektionen der hellen und dunklen Abstände.

Mein persönlicher, singulärer Sinnesseismograph liest - einem Barcodeleser ähnlich - aus der unendlichen Flut von Sinnesreizen jene aus, die im Zusammenspiel zuweilen eine kritische Masse hervorbringen. Wichtig ist mir – wie schon gesagt – zu betonen, dass es sich hierbei um ein absolut vorreflexives Geschehen handelt. Da ich heterosexuell gepolt bin, provoziert das Erscheinungsbild einer Frau in mir Reflexe, deren Qualität eine unendliche Variationsbreite repräsentiert. Von angenommenen hundert, tausend oder meinetwegen zehntausend Frauen erzeugt jede ein singuläres Muster, das sich einem Barcode ähnlich von allen anderen Mustern unterscheidet. Einige Male in meinem Leben war ich offen für das beschriebene Phänomen der kritischen Masse. Zu der außerordentlichen Qualität der aufgenommenen Sinnesreize kommt dann unter Umständen ein Interesse, das das Spiel anstößt, das nur zu zweit geht. Julia Onken bietet eine Metapher an, mit deren Hilfe ich für mich verstehen kann, warum mir/uns mit fast siebzig Jahren ein fürsorgliches Finale winkt. In einem fiktiven Interview hat Adrian, mein Koautor bei Kopfschmerzen und Herzflimmern (Koblenz 2005), die Unterscheidungen von Eros, Philia und Agape mit ihr erörtert:

Adrian: Liebe Julia Onken, ich möchte mit Ihnen eine Passage aus Ihrem Buch „Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag“ erörtern; eine für mich hochinteressante Passage, in der Sie in die Liebessemantik die Unterscheidung von Eros, Philia und Agape einführen. Warum halten Sie diese Unterscheidung überhaupt für sinnvoll?

Julia Onken: Nun, wir sind als Deutschsprechende in der schwierigen Lage, dass wir nur das eine Wort Liebe für verschiedene Arten von Liebe zur Verfügung haben. Mit Hilfe der griechischen Begriffe Eros, Philia und Agape wird eine differenzierte Sichtweise möglich, welche die Unterschiede deutlicher werden lässt und deshalb mehr Klarheit in die eigene Liebessituation bringt. Diese drei Begriffe lassen sich anschaulich auf das Bild eines Berges übertragen, den es zu besteigen gilt. Am Fuße des Berges steht Eros, der unsere sexuellen Bedürfnisse und Wünsche durch Triebenergie in Bewegung setzt. Im Mittelfeld steht Philia als freundschaftliches, wohlwollendes Zugeneigtsein und auf der Bergspitze als Ziel und Krönung thront Agape: die allumfassende Liebe.

Adrian: Man muss also davon ausgehen, dass sie eine hierarchische Ordnung im Blick haben, die das eine abwertet und das andere aufwertet: Eros am Fuße – kriechend sozusagen – und Agape auf der Bergspitze thronend und dann noch irgendetwas dazwischen, niedriger als Agape, aber höher als Eros.

Julia Onken: Nein, so ist das nicht gemeint. Die sexuelle Energie hat eine eminent wichtige Aufgabe. Sie ist es, die uns aus dem Schoße der Familie aufbrechen lässt, die uns zu außerhalb Suchenden werden lässt. Als sehnende Hälften schwirren wir herum und kommen nicht eher zur Ruhe, bis wir von einer anderen Hälfte magnetisch angezogen werden. Im Zustand der Sehnsucht nach Ergänzung sind wir kaum in der Lage, auf größtmögliche Übereinstimmung zu achten. Spätestens wenn der Sog der Sehnsucht nach kurzer Zeit des Zusammenseins nachlässt, beginnen wir, den anderen in seinen eigentlichen Möglichkeiten zu erleben. Aber ohne sexuellen Antrieb würde die Ablösung aus dem elterlichen Haus, aus der Familie in andere zwischenmenschliche Beziehungen nicht stattfinden.

Adrian: Ein komplementärer Begriff im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Eros ist der Begriff der Vorzugsliebe. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Begriff Ähnliches meint, wie es Peter Fuchs mit der Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz formuliert. Arnold Retzer könnte dies mit seiner Vorstellung von Exklusivität meinen. Was meinen Sie mit Vorzugsliebe?

Julia Onken: Eros spielt sich ausschließlich im Bereich der Vorzugsliebe ab. Der Partner wird aufgrund bestimmter Auswahlkriterien ausgesucht. Eros kann mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel verglichen werden.

Adrian: Das hört sich ja mächtig klischeehaft an. Damit bestätigen Sie den von Roland Barthes beschworenen und von den anderen nüchtern beschriebenen Mythos der romantischen Liebe.

Julia Onken: Ja, und ich meine das ausdrücklich so: Es sind Naturgewalten, die da im Menschen losbrechen und die kaum unter Kontrolle zu bringen sind… Im Zustand des Verliebtseins fallen meist sämtliche verstandesmäßigen Überlegungen aus: Sie werden von den ungeheuerlichen Eroskräften einfach hinweggespült, damit wir an das Ziel der sexuellen Vereinigung gelangen als Ausdruck des körperlichen Einsseins mit dem anderen.

Adrian: Das hört sich fast ein wenig funktionalistisch, meinetwegen biologistisch an?

Julia Onken: Ich würde das so nicht sagen. Aber in der erotischen Anziehung verkörpert sich ein höchst sinnvolle Einrichtung. Dass die Triebkräfte eine solch gewaltige Kraft über uns ausüben, gibt uns einen gehörigen Stoß, uns auf den Weg zu machen, um zu Liebenden zu werden.

Adrian: Und um in ihrem Bild zu bleiben, ist Eros…

Julia Onken: …die Anlaufstelle am Fuße des Berges als eine An-Triebs-Kraft, die uns anspornt, die uns auf den Weg schleudert, um den Berganstieg zu bewältigen.

Adrian: Das sind Maschinen-Metaphern – „Eros als Anlasser, um den Motor in Gang zu setzen“!

Julia Onken: Ja, ich meine das so. Die Sprache weist unüberhörbar darauf hin, was sexuelle Betätigung ist: „Liebe machen“, präziser kann es eigentlich nicht mehr ausgedrückt werden, denn diese Formulierung beschreibt genau, um was es sich handelt; die Liebe wird gemacht. „Miteinander schlafen“ beschreibt den Gegensatz zur Wachheit. Miteinander eintauchen in die Dunkelheit, sich den Triebkräften überlassen, die nicht dem wachen Bewusstsein des Menschen entspringen… „Geschlechtsverkehr haben“ heißt nicht mehr und nicht weniger als geschlechtlich verkehren… Der Ort der Geschlechtlichkeit ist die unterste Öffnung unseres Körpers und mit dieser geographischen Verortung ist der Weg auf der Körperlandkarte deutlich vorgegeben. Das soll die Sexualität keineswegs abwerten. Ihr wird lediglich der Platz zugewiesen, der ihr zusteht: Anlaufstelle, Anlasser, vitalisierendes Element, das ungeheure Energien freisetzt, um die Liebesfähigkeit zum Blühen zu bringen. Sexualität übernimmt lediglich eine Funktion und ist nicht das Ziel. Wäre sie das Wichtigste, müsste man sich den Körper umgedreht vorstellen. Dann wäre das Geschlecht an oberster Stelle und zwischen den Beinen läge der Kopf.

Adrian: „Steht der Schwanz, schweigt der Verstand!“ – „Dir ist der Kopf wohl in die Hose gerutscht!“ Mit solch ironisch-kraftvollen Bildern sehen sich vor allem Männer konfrontiert in den Irrungen und Wirrungen einer akuten Verliebtheit zur Unzeit. Die Frau eines guten Freundes ist von einer Kollegin einmal mit dem Hinweis getröstet worden, dass man solch „schwanzgesteuerten“ Anwandlungen gegenüber am besten die Ruhe bewahre. In der Regel sei das Erwachen mit Ernüchterung verbunden, wie nach einem kräftigen Kater. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen ja wohl mehr um eine „Fortsetzung“ des Weges verbunden mit einer Aufwärtsbewegung, hinfort aus den Niederungen!?

Julia Onken: Warum so ironisch? Die Fortsetzung des Weges ist Philia als das Zusammenschwingen der Seelen in Sympathie, Freundschaft, menschlicher Wärme, wohlwollendem Zugeneigtsein. Dies ist eine konsequente Weiterführung aus der gegenseitigen erotisch-sexuellen Mann-Frau-Bezogenheit in den Bereich der Freundschaften. Sie ist eine Verfeinerung und Weiterentwicklung der körperlichen Liebe. Bei den meisten Menschen zeigt sich ein natürliches Bedürfnis, die geschlechtliche Mann-Frau-Bezogenheit (natürlich auch Mann-Mann und Frau-Frau) zu erweitern und in den Bereich des menschlichen Miteinanders zu gelangen. Wenn das nicht möglich ist, weil sich einer der beiden weigert, wird es früher oder später in der Beziehung zu Problemen kommen.

Adrian: Heißt das, dass irgendwann die Sexualität vollkommen in den Hintergrund treten kann – und vor allem, wie gehen wir mit Zugeneigtheiten außerhalb der Kernbeziehung um? Gibt es eine Chance, in einer liebevollen Kernbeziehung zu leben unter dem Einfluss eines wohlwollenden Zugeneigtseins und gleichwohl sexuelle Außenkontakte zu pflegen? Jürg Willi hat in der ersten Auflage der Paarbeziehung einmal davon gesprochen…

Julia Onken: Man sollte sich aus meiner Sicht immer Folgendes klarmachen: Wenn wir uns z.B. außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne Weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros.

Adrian: Aber Sie meinen, zur Sexualität könne – ja müsse – eine weitere Qualität dazukommen?

Julia Onken: Ja, davon bin ich zutiefst überzeugt, nämlich das „Sich-freundlich-Zugeneigtsein“, das gegenseitige Wohlwollen. Das heißt, nicht die erotische Anziehung bleibt ausschlaggebend, sondern das Seelische rückt zunehmend in den Vordergrund. Sicherlich ist es kein Zufall, dass der Mensch im Laufe des Älterwerdens die äußeren Reize allmählich verliert. Denn er benötigt diese Signale nicht mehr, um auf sich aufmerksam zu machen und das andere Geschlecht anzulocken. Die Haare als Kopfschmuck werden in Farbe und Volumen unauffälliger, die pfirsichstraffe Haut wird faltig, die Figur verliert die geschlechtliche Ausprägung. Alles deutet darauf hin, dass wir diese Signale nicht mehr nötig haben, da an die Stelle der äußeren Reize nun die Schönheit einer reifen Seele tritt.

Adrian: Sie schildern in Ihren Ausführungen, dass es Menschen gibt – mehr Männer als Frauen –, die ein Leben lang am Fuße des Berges herumrennen.

Julia Onken: Ja, sie drücken unentwegt den Anlasser, hüpfen ein paar Meterchen weiter, bis ihnen der Motor wieder still steht und sie erneut den Anlasser betätigen müssen. Sie sind pausenlos auf der Suche nach sexueller Aktivität und verbrauchen ihre ganze Energie horizontal, ohne dem vertikalen Impuls nach oben zu folgen.

Adrian: Also, Ihre Bildersprache in allen Ehren, aber das bleibt mir doch zu holzschnittartig. Es mag doch Lebensentwürfe geben, die der Sexualität einen größeren Stellenwert einräumen, ohne dass diese Menschen zu asozialen Kreaturen verkümmern. Viele kulturelle Leistungen, die auch anderen Menschen zugutekommen, entstehen doch auf diese Weise und nicht dadurch, dass man sich im freundlichen Einander-Zugeneigtsein abends auf dem Sofa vor dem Kamin begegnet.

Julia Onken: Ich bleibe dabei! Die Liebesenergie drängt als natürlicher Wachstumsprozess stets nach oben wie Pflanzen und Bäume, die sich nach dem Licht richten. Dieser Bewegung nicht zu folgen ist eine fundamentale Weigerung, sich in die Aufgerichtetheit zum wirklichen Menschsein zu entwickeln. In der Liebesbeziehung zeigt sich Philia als Vertiefung und Überschreitung des Geschlechtlichen, in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen als liebendes, einfühlsames Wohlwollen.

Adrian: Sie haben vorhin schon die „Agape“ erwähnt – auch noch einmal deutlich in Abgrenzung zum Eros. Was kann es denn jetzt noch mehr geben als die differenzierten Haltungen von Eros und Philia?

Julia Onken: Agape ist das Gegenteil von Eros. Während wir im Erotischen einen aus vielen heraussuchen, ihn allen anderen vorziehen, schließen wir in Agape nichts und niemanden aus. Denn Agape orientiert sich nicht an besonderen Vorzügen, sondern wertschätzt und liebt das göttliche Prinzip, den göttlichen Funken in jedem, ungeachtet der äußeren Merkmale. Eros ist die Vorzugsliebe, die andere ausschließt, Agape ist die umfassende Liebe, die alles vereint. Adrian: Und wenn Sie nun diese drei Spielarten – oder besser Dimensionen – der Liebe noch einmal zueinander in Beziehung setzen sollten und die Unterschiede dabei auf den Punkt bringen könnten!?

Julia Onken: Nun gut: Eros ist dabei der zündende Funke, der uns lehrt, uns ganz zu verschenken, der uns in die Knie zwingt, um das ständige Sehnen nach Verschmelzung zu stillen. Er lässt uns für Momente in das Gefühl des umfassenden Einsseins eintauchen, und der Pulsschlag zieht sich auf einen einzigen Punkt zusammen, um im anderen zu erblühen. Es ist die körperliche Lektion, sich hinzugeben, sich wie eine Blume dem Licht zu öffnen, um das große Glück des Einsseins als Grunderfahrung wieder zu beleben. Eros ist die Öffnung ins Körperliche, er durchdringt uns aus den Urtiefen. Er steigt in urgewaltigem Sehnen aus den dunklen Ufern unseres Leibes, wo er herzwärts weiterströmt und sich zur Philia verfeinert. Schritt für Schritt führt uns die Philia zielsicher weiter und durchdringt unseren Geist als kristallklare Quelle, bis sich das Herz weit öffnet und aufbricht in den Jubel allumfassender Liebe. Und jeder und jede, der uns als nächste/r begegnet, wird in unsere weit ausgebreiteten, liebenden Armen aufgenommen: „Siehe, der Mensch!“

Dass ich nun mit fast siebzig Jahren – wie Henry de Montherlant meint – über alles erhaben sei, das klingt mir ein wenig zu pathosgeschwängert. Gleichwohl bestätigt Julia Onken mit ihren Unterscheidungen etwas, was ich aus der Perspektive eines Mannes zutiefst bestätigen kann. Es geht in diesem Kapitel exakt um die Bestätigung von Phänomenen, die von Julia Onken mit dem Getroffenwerden von einem Blitzschlag aus heiterem Himmel oder der Urkraft von Naturgewalten gleichgesetzt werden. Es geht aber auch darum – mit Blick auf die Chance auf ein Fürsorgliches Finale (Detlef Klöckner) –, den Entwicklungsraum zu beschreiben, den sowohl Männer als auch Frauen für sich beanspruchen und kultivieren können. An dieser Stelle zwingt sich die Auseinandersetzung mit einer zu Teilen unsäglichen #me-too-Debatte auf; in Sonderheit mit den Exzessen, die vor allem ein sinn- und sinnesentleertes Hygiene-Sprech zur Folge haben:

Fünfundzwanzig Jahre LehrerInnenausbildung am Uni-Campus Koblenz – circa 250 bis 300 Seminarveranstaltungen und Vorlesungen; allein daraus resultiert ein Teilnehmerkreis von mehr als 10.000 Studierenden; mehr als 10.000 Staatsprüfungen, Modulabschlussprüfungen; tausende von Staatsarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten, an mehr als 600 Tagen Sprechstunden, zwischendurch Prüfungsberatungen. Im Lehramtsbereich summieren sich die persönlichen Beratungs- und Betreuungskontakte auf eine nicht mehr wirklich nachvollziehbare Zahl von zehn- bis fünfzehntausend, wovon 70 bis 80 Prozent Frauen waren. Der erwähnte Sinnesseismograph war im Dauerbetrieb, in der Regel reine Registratur im Sinne von Routine – tausende und abertausende von Adressen, Profilen, Gesichtern, Körperwesen, die eine besondere Arbeitsatmosphäre begründen, winters wie sommers. Zum Sommer gibt es eine delikate Randbemerkung, die weiter unten näher beschrieben wird.

Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Peter Sloterdijk). Diese Diskretion gilt auch in Selbstanwendung.  Sie führt hier allerdings zu einer Paradoxie, die – wie gesagt – nur dadurch vermeintlich aufgelöst wird, dass man die seismographischen Aufzeichnungen und Ausschläge in einen Routinebetrieb überführt  und vor allem ihn (in der Regel) der privaten und vor allem jeglicher öffentlichen Kommunikation entzieht. Die diskrete, unvermeidbare, seismographisch sensible Buchführung kommt einer umfangreichen Registratur gleich. Sie vollzieht sich jeweils in Bruchteilen von Sekunden und wird im Alltagsbetrieb der Seminare, Beratungen, Prüfungen - allein schon aus Professionalitätserfordernissen - ausgeblendet. Aber selbst diese Ausblendung kommt eher einer fragwürdigen Autosuggestion gleich – möglicherweise einem Akt der Selbsthypnose – der in seinen tatsächlichen subtilen Auswirkungen nicht abzuschätzen ist - und vor allem: sie gelingt nicht immer. Auch hier bleibt mir nur der Verweis auf Peter Sloterdijk:

„Weil die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis (der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) einen uneinholbaren Vorsprung, vor seinen Selbstrepräsentationen im Bewusstsein besitzt, ist evident, dass Selbstbezüge immer einen gewissen funktionalen Sinn haben – und dies in aller Normalität und weit vor allen Problemen maligner (bösartiger) Selbstbetonung. Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die – wenn man ihnen abhelfen will – in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 128).“

Dies bedeutet in keiner Hinsicht eine Absolution – vor allem männlichen Fehlverhaltens (eine Definition folgt weiter unten im Anschluss an Catherin Deneuve u.a.). Ich greife einmal – auch um die eigene Verstrickung deutlich zu machen – auf ein weiteres Beispiel aus Sloterdijkscher Feder zurück. Es geht darum, den Zusammenhang zwischen seismographischer Registratur und reflexiver Kommentierung zu verdeutlichen (ich entnehme das Beispiel: Zeilen und Tage – Notizen 2008-2011, Berlin 2012, S. 37f.). Unter dem 3. Juni, Amsterdam findet sich folgender Eintrag:

„Mittags im Sea Palace. Rene zitiert einen Satz von Konfuzius: ‚Mit siebzig konnte ich den Regungen meines Herzens folgen, ohne jemals eine Sünde zu begehen.‘ Später sah ich an der Centraal Station eine junge Frau, bei deren Anblick sich der Wunsch einstellte, siebzig zu sein, der Regung wegen. Für das übrige wäre vierzig die Obergrenze gewesen. Ich fragte mich nur, was mit dem weiblichen Selbstbewusstsein nicht stimmt, wenn ein Wesen mit einem derart evangelischen Gesicht ein solches Amok-Decolleté zeigt.“

Hier entsteht kein Streit um die Frage, wer zuerst da war: das Ei oder die Henne? Sieht man einmal ab, davon, dass es einer Henne bedarf, um ein Ei hervorzubringen, geht es hier zunächst einmal um die dem Bewusstsein vorauslaufende und von ihm abgewandte Autopoiesis, die einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Repräsentationen im Bewusstsein besitzt; das Hähnchen ist gewissermaßen im Ei bereits genetisch programmiert und weiß, wann es krähen muss (sofern es nicht im Schredder landet). Sloterdijk nimmt das Mörderdecolleté (sinnlich-vorreflexiv) wahr und in Bruchteilen von Sekunden – aber eben erst nachher – stellt sich seine intellektuell (fragwürdige) Kommentierung ein – fragwürdig, weil man sich fragen kann, ob hier tatsächlich - wie Sloterdijk unterstellt - „mit dem weiblichen Selbstbewusstsein etwas nicht stimmt“, oder ob Sloterdijk sekündlich klar ist, dass ihm zur Würdigung des sinnesmächtigen Reizes nur diese bescheidene Form der (sarkastisch-ironiegeschwängerten) Kommentierung bleibt (die ja unendliche viele kulturelle Implikationen und daraus folgende Interpretationen offenbart – allein das  e v a n g e l i s c h e  Gesicht im Zusammenhang mit einem Amok-Decolleté wirft einen Fragenkatalog auf - aber eben erst nachher!).

Mir genügt dieses Beispiel, um mir meine eigene Situation in einem reizgefluteten – und zuweilen -überfluteten – Kontext noch einmal zu verdeutlichen. Einem weißen, älteren Mann bleibt zunächst einmal nichts anderes übrig, als sich in der ausufernden, komplexen #me-too-Debatte zu positionieren. Ich zitiere dazu aus dem aktuellen Wikipedia-Beitrag:

"Weiter gingen rund 100 Intellektuelle, Künstlerinnen und Journalistinnen, wie Catherine Deneuve oder Ingrid Caven, die einen offenen Brief unterzeichneten, den Sarah ChicheCatherine MilletCatherine Robbe-GrilletPeggy Sastre und Abnousse Shalmani verfasst hatten und den die französische Tageszeitung Le Monde am 9. Januar 2018 veröffentlichte. In diesem warnten sie vor dem 'Klima einer totalitären Gesellschaft'. Die ersten Sätze lauten: 'Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.' #MeToo habe eine 'Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen' ausgelöst – die Beschuldigten seien auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt worden, ohne antworten oder sich verteidigen zu können. Als Folge konstatierten sie eine 'Säuberungswelle', von der insbesondere Kunst und Kultur betroffen sei, was letztlich zu einer unfreien Gesellschaft führen könne. Sie befördere zudem einen Puritanismus und spiele so den Gegnern der Emanzipation in die Hände. Zwar sei es legitim, die Formen sexueller Gewalt gegenüber Frauen zu vergegenwärtigen. Eine beharrliche oder ungeschickte Anmache sei jedoch kein Vergehen – schließlich gäbe es keine sexuelle Freiheit ohne eine 'Freiheit, jemandem lästig zu werden'."

In diesem Wikipedia-Beitrag werden selbstredend die Fälle Harvey Weinstein und Dietmar Wedel erwähnt: „Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern (i.O. la drague), das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.“ Gerichte sollen darüber befinden (und haben darüber befunden), ob jemand strafwürdige Handlungen begangen hat. Im Geschlechterverhältnis habe ich selbst phasenweise fragwürdig agiert (siehe weiter oben); aber immer meilenweit entfernt von irgendwelchen strafwürdigen Haltungen.

Summa-summarum gehe ich soweit zu behaupten, dass die vorreflexive Affizierung evolututionsbezogen alternativlos ist. Die reflexive Auseinandersetzung als Handlungsvoraussetzung ist in einem zivilisierten, kulturgeschwängerten Kontext in der Regel gleichermaßen alternativlos - auch wenn manche meinen, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt (wie sehr man dabei auf des Messers Schneide wandeln kann, wird in Kapitel 1 und in den Kapiteln 20-21 eindrucksvoll sichtbar.

Kommen wir noch kurz auf das Phänomen der kritischen Masse zu sprechen. Als vorreflexive Affizierung kommt sie gewiss häufiger vor, als dass sie auch handlungsmächtig würde; genau in diesem Sinne ist Sloterdijks oben geschilderter Reflex einzuordnen. Solche Phänomene bleiben in der Regel folgenlos – wie ein fernes Wetterleuchten. Dass sie eine Handlungsmacht hervorbringen – und zwar wechselseitig –, die nicht nur im Begehren und im Begehrensbegehren endet, sondern über ein langes Leben den Wunsch nach einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz zur Folge hat, das ist eher singulären Charakters. Erst wenn dies wirklich gelingt – mit allen Höhen und mit allen Tiefen –, winkt jene Perspektive, an die ich im vierten Brief an Claudia mit Karl Jaspers erinnert habe (siehe: Die Mohnfrau, S. 120):

„Dann geht der Weg durch die Lebensalter. Die vitale Schönheit der Jugend schwindet dahin. Aber nun, in der lebenswährenden Erscheinung existentiell geprägt, liegt in der Schönheit des Alters mehr als nur die erinnerte Jugend. Es gilt Kierkegaards Satz: Die Frau wird mit den Jahren schöner. Aber es sieht nur der Liebende.“

Es tut mir leid, dass der Freund aus Kapitel 20 sich diese Erfahrung vorenthalten muss. Im Vergleich muss es sich wohl schal und fade anfühlen, wenn die letzte Phase der Leidenschaft, das Fürsorgliche Finale auf einmal in der Luft hängt, weil man sich des Fundaments beraubt und sich der Phasen  der Verzauberung – der dyadischen Verliebtheit – der klärenden Einschlüsse und Ausschlüsse – und der Intimen Dialoge nicht mehr erinnern mag. Die UrParabeln bleiben geborgen im gemeinsamen Weg, und alle Eskapaden verblassen im Zwielicht der Erinnerung.

Das Unfassbare als basso continuo unseres Lebens (24)

„Elias Canetti war ein Todfeind im wahrsten Sinne des Wortes. Mit obsessiver Verbissenheit hat sich der Nobelpreisträger über Jahrzehnte hinweg gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens zur Wehr gesetzt. Er hat den Tod gehasst und gefürchtet wie kein Zweiter. Sein Leben lang schrieb er in Notizen dagegen an, wollte den Tod als etwas Natürliches nicht akzeptieren.“ Mit diesen Sätzen leitet Günter Kaindlstorfer seinen Beitrag/Rezension Lebenslanges Anschreiben gegen den Tod ein.

Ganz gewiss muss man nicht annähernd so besessen sein von der Idee, der Tod sei ein unerträgliches Skandalon, um nicht gleichzeitig in einem langen Leben das memento mori im Sinne Rainer Maria Rilkes gegenwärtig zu haben:

Schlußstück

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Als mein Schwiegervater im März 2010 im Alter von fast 86 Jahren starb, betrachteten wir alle miteinander in der Familie diesen Tod als Erlösung. Auch wenn alles, was lebt, in der Regel leben will, stand uns allen doch überaus deutlich vor Augen, dass Leben als fortgesetztes und nachhaltiges Siechtum in der Dunkelheit des Selbts- und Weltvergessens keinen absoluten Wert an sich darstellen kann. Aber so klar sich auch diese Einsicht einstellen wollte, so klar war andererseits im Rückblick unser aller Bemühen, dieses Geschehen – das Leben zum Tode hin – nicht unbotmäßig zu verkürzen. Die gegenwärtig veränderte Rechtslage mit Blick auf die Erleichterung der Sterbehilfe habe ich herbeigesehnt, und ich habe sie mit herbeigeschrieben. Das Sterben in seinen generativen Abfolgen war mir damals schon auf lebensnahe Weise vertraut. So will ich auch heute im Rückblick betonen, dass mir der Tod meines Vaters im Alter von eben erst 65 Jahren unerträglich verfrüht erschien. Seit diesem Ereignis – 1988 – hat das Leben auf brutale Weise dafür gesorgt, dass das Unfassbare als immer gegenwärtiges memento mori den basso continuo im Konzert des Lebens vorgibt. In Kapitel 9 meiner Aufzeichnungen habe ich mich Elias Canetti am weitesten angenähert, indem ich bekenne, den Tod meines Bruders – wenn auch nicht im Sinne Canettis – als Skandal empfunden habe. Zusammengedrängt auf die letzten Sekunden des Lebens meines Bruders, wage ich die These, dass die freie Willensentscheidung des Flugzeugführers nicht nur für ihn selbst einer Entscheidung über Leben und Tod gleichkam. Und erst die Aufdeckung der Zusammenhänge im Detail erlaubt ja so etwas zu konstruieren, wie Handlungsmotive, deren Ignoranz oder schlichte Unkenntnis in der öffentlichen Wahrnehmung den Heldenstatus des Piloten begründeten. Umso unerträglicher erwiesen sich die Ergebnisse eines nüchternen Faktenchecks, der nicht weniger zutage brachte als folgende, überaus schlichte Sachverhalte:

  • Die Absturzmaschine war nach dem letzten Check und dem Auftanken durch den verantwortlichen Piloten am Abend noch einmal bewegt worden zu einem Schleppflug zu einem benachbarten Flugplatz. Diese Flugbewegung war ordnungsgemäß in das Logbuch der Maschine eingetragen worden.
  • Am frühen Morgen des 21. Juni 1994 verabsäumte der verantwortliche Pilot einen erneuten Check und setzte die Maschine in der Annahme in Bewegung, der status quo ante (also vor erneuter Bewegung der Maschine am Vorabend) sei der faktische Status, der eine kalkulierte Zwischenlandung zum erneuten Betanken der Maschine in Landshut ohne jegliche Probleme oder eintretende Notlage erlauben würde, da er die Maschine abends zuvor eigenhändig voll betankt hatte.
  • Als sich die Maschine bei Kaiserwetter Landshut näherte und der Motor wenige Kilometer vor dem Zielflughafen begann zu stottern, muss dem erfahrenen, pensionierten Bundeswehrpiloten bewusst geworden sein, dass der Spritvorrat zum regulären Erreichen des Flugplatzes möglicherweise nicht ausreichen würde. In dieser Situation – ausgestattet mit nur einem schmalen Zeitfenster von vielleicht einer Minute – musste der Pilot entscheiden, ob er die Maschine auf freien, abgeernteten Feldern zur Notlandung bringen sollte, oder ob er – trotz Spritmangels – den Versuch wagen sollte, die Maschine in Landshut regulär zu landen.
  • Eine Notlandung begründet immer den Tatbestand einer irregulären Landung. Jede irreguläre Landung eines Fluggerätes löst einen festgefügten, unabwendbaren Algorithmus aus: Das Bundesluftfahrtamt mit Sitz in Braunschweig untersucht den Vorgang auf akribische Weise unter Einbeziehung aller relevanten Einflussfaktoren und Umstände.
  • Nun muss man wissen, dass der verantwortliche, pensionierte – überaus erfahrene – Bundeswehrpilot eine Lizenz zur Betreibung einer Flugschule bzw. zur Zulassung als Fluglehrer beantragt hatte.
    In wenigen Sekunden des Rekapitulierens muss dem Piloten klar gewesen sein, dass das Checken des Logbuchs im Zusammenhang mit einer irregulären Landung der Maschine unvermeidbarer Weise zum Nachweis gröbster Fahrlässigkeit seinerseits führen würde. Und gar keinen Umständen wäre infolgedessen seinem Antrag auf Erteilung einer Lizenz noch irgendeine Aussicht auf Erfolg beschieden gewesen.
  • Seiner Erfahrung und seinen Flugkünsten vertrauend hat der Pilot zweifelsfrei die willentliche Entscheidung getroffen, eine reguläre Landung auf dem Flugplatz Landshut zu versuchen. Als ihm überdeutlich wurde, dass dieser Versuch scheitern würde, führte der Versuch einer Kurskorrektur mit beabsichtigter Notlandung zum finalen Absturz der Maschine und dem Tod aller vier Insassen.
  • Flugschulen haben die Rekonstruktion des Absturzes zum Anlass genommen, auf die in der Regel tödliche Konsequenz eines Strömungsabrisses bei zu spät oder zu abrupt erfolgender Kurskorrektur hinzuweisen. Im Abschlussbericht des Bundesluftfahrtamtes Braunschweig wurde auf zwei Fakten hingewiesen, die für die folgenreiche Fehlentscheidung des Piloten sprechen: 1. hat die Absturzmaschine nicht gebrannt – der Tank war leer! 2. Die Kurskorrektur, die zum Strömungsabriss und in der Folge zum Absturz der Maschine führte, kam zu spät. Wäre der Sink- bzw. Gleitflug früher eingeleitet worden, wäre der Versuch die Maschine bei freier Sicht und besten Wetterbedingungen auf freien, abgeernteten Feldern zu landen, vermutlich erfolgreich gewesen.

Ich will nicht so weit gehen, den Tod der vier Flugzeuginsassen als grundsätzlichen Skandal zu verstehen. Skandalös wird er in meinen Augen durch das grob fahrlässige Agieren des Piloten; skandalös, weil sich – wie so oft – die Motive, die zu folgenreichen Handlungen führen, als banal und egomanisch erweisen. Da ist der Preis des Todes dreier unbescholtener Männer – mitten im Leben und im Falle meines Bruders als Vater zweier Töchter im Alter von fünf und acht Jahren – eben ein Skandalon.

Mors certa – hora incerta! So unausweichlich der Tod auch sein mag, ein Tod zur Unzeit grämt uns über alle Maßen. Als die Mutter dann zum Sterben ging, stellte sich ein diffuses, kaum greifbares Lebensgefühl ein, dass erst sichtbar(er) wurde, als in den letzten 10 Tagen ihres Lebens das Bedürfnis in mir nach Lösungen suchte, sie diesen letzten Weg nicht alleine gehen zu lassen. Dieses Bedürfnis führte – im Kontext einer seins- und erst recht todesvergessenen Gesellschaft zu recht obsessiven Konsequenzen. Ich lotete alle Möglichkeiten des medizinischen Apparats aus und erkämpfte mir mit Unterstützung der Klinikleitung und des Personals ungewohnte Freiräume. Der Klinikleiter, Dr. Kreuter – gebürtiger Gülser – ermöglichte mir in das Sterbezimmer meiner Mutter (das bis zuletzt ein Einzelzimmer bleiben konnte) ein Bett einzustellen, so dass ich die letzten Nächte in unmittelbarer Nähe zu meiner Mutter verbringen konnte. Zuletzt – als ich den Sterbeprozess nicht mehr infrage stellte – war Abschied möglich; für mich zivilisationsverwöhntes Glückskind eine singuläre Erfahrung. Am 21.7.2003 findet sich folgender Eintrag in das Sterbetagebuch:

"21/07/03 14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.

Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter! Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.

Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit meiner Schwester Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg! 15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen."

Am 27. Juli ist unsere Mutter gestorben. Im Herbst bin ich mit Leo, meinem Schwiegervater zur Abschiedstour an den Bodensee aufgebrochen. Sein Leidensweg vollzog sich von da an über seinen 80sten Geburtstag hinein in jenen im vorangehenden Kapitel beschriebenen nicht mehr enden wollenden Tunnel des (Selbst-)Vergessens. Auch hier habe ich an den unausweichlichen Wendepunkten die Flucht in die sprachlich verdichteten Formen der Lyrik gesucht. Mindestens zweimal täglich führte mich mein Weg die wenigen hundert Meter von unserem Wohnhaus auf den Heyerberg an Mülltonnen vorbei, von denen mir einige in diesen Jahren von 2007 bis 2010 immer wieder durch ein merkwürdiges Phänomen auffielen:

Was mögen die Müllmänner denken

Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?


Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.


„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.


Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod“.


Wir fallen mit ihnen –
Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.

Mit Elias Canetti verbinden mich die Fassungslosigkeit und eine intuitive Abwehr des Todes als endgültiges Faktum. Gleichwohl finde ich mich dennoch wieder in einer Mischung aus Fatalismus und ungläubiger Hoffnung gegenüber einem Phänomen, das sich unserer Erfahrung gänzlich entzieht:

So gern

Ach, ich hab’s so gerne, wenn sie kommen,
Wenn sie kommen, kommen, kommen –
Dann freu ich mich so sehr,
Ganz still in mir.


Doch alle, die da kommen,
Müssen wieder gehen.
Sie gehen, gehen, gehen –
Und schmerzt dies noch so sehr.


Denn es sind keine Phantasien,
Die Mär vom Werden und Vergehen.
Wo wir heut gehen oder stehen,
Sah unsre Welt einst andre gehen.


Sie gingen uns voraus.
Ich fühle ihre Spuren
In mir selbst vergehen.


Nein, nicht die Zeit,
Der Wind lässt sie verwehen.
Sie sinken in uns ab
Bis hinter das Verstehen.


Und nicht nur Kreuze Sind die Grenzen,
Und nicht nur unter Kränzen
Ruht die Welt.


Wenn Augen nicht mehr leuchten
Und die Erinn’rung innehält,
Dann sind es meine Schmerzen,
An denen meine Welt sich stählt.


Die einen gehen schnell und hart,
Und andre wollen noch im Gehen stehen.
Sie dämmern dann in kleinsten Schritten
Hinein in jene Welt,
Wo jeder Blick in Leere fällt.
Und irgendwann
Verfehlt sie unser Schmerz
Und einmal mehr
Bricht unser Herz.


Dann sehen wir die Grenze
Und bleiben vor ihr stehen.
Den letzten Schritt –
Im Licht der Kränze –
Muss jeder dann alleine gehen.

Der generative Wechsel zur Elterngeneration ist vollzogen. Vor der Zeit sind neben meinem Bruder meine Jugendfreunde gegangen: Jopa, Peter-Georg, Karl-Heinz. In meinem Freundeskreis gibt es einen Bruder im Geiste, dessen Schicksal mich immer wieder berührt; es ist eine Berührung im Modus des Mitleidens und des fortgesetzten Irritiertseins.

Eine kurze Zwischenbemerkung: Gegenwärtig lese ich Anna Haag: Denken ist überhaupt nicht mehr Mode – Tagebuch 1940-1945 (Reclam-Verlag), Stuttgart 2021). Auf Seite 333f. lese ich folgenden Eintrag. Es handelt sich um eine Danksagung: „‘Für die freundliche Anteilnahme, die wir bei dem Soldatentod unseres unvergesslichen Sohnes erfahren durften, danken wir von ganzem Herzen.‘ In einem seiner letzten Briefe schrieb er: ‚An meinem eigenen persönlichen Leben hänge ich nicht. Die Wirkung, der Auftrag ist alles.‘“ Anna Haag kommentiert hierzu: „Wer versteht das? Ich meine: wer begreift die Eitelkeit dieser und so vieler deutscher Eltern, die diese Eigenschaft noch mit dem ‚Soldatentod‘ ihres Sohnes kitzeln? Warum hat der Vater seinen Sohn nicht belehrt (der Vater hat sich uns gegenüber als Anti-Nazi und Kriegsgegner ausgegeben. Er ist ein gelehrter Herr), dass ‚Auftrag‘ und ‚Wirkung‘ nur dann einen großen Sinn haben kann, wenn der ‚Auftrag‘ edel, und seine ‚Wirkung‘ entsprechend ist? Fluch über die Narren, die das Schlachten und Geschlachtetwerden heute noch immer als ‚großen Auftrag‘ feiern! Ich bin erfüllt von Menschenhass und Menschenverachtung!“

Die Selbstverständlichkeit eines Dulce et decorum est pro patria mori („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“) ist für uns heute unvorstellbar. Sie disziplinierte selbst gelehrte Herren mitsamt der Familie zu einer Haltung, die bis zur Selbstverleugnung führte. Sie mündete in einem traumatisierten Nachkriegsdeutschland in eine kollektive Verdrängungshaltung, gepaart mit einer offenkundig unbändigen Energieleistung, die einerseits zur Wirtschaftswunderwelt führte, die aber andererseits Beobachter dazu veranlasste, von einer Unfähigkeit zu trauern zu sprechen (Margarete und Alexander Mitscherlich).

In der postmodernen Gesellschaft gerät Trauer – so könnte man sagen – zu einer latent dynamischen bis virulenten Grunddisposition. Sie nimmt vielfältigste Gestalt an, indem die Einsicht, dass wir alle sterben müssen, die unterschiedlichsten Antworten provoziert: Die traditionellen Milieus der Religionsgemeinschaften erodieren; die Vertreter eines offensiven oder auch diskreten Jugendwahns führen eine letztlich erfolglose Abwehrschlacht, die auch durch gesündeste Lebensführung nicht zu wenden ist; vermutlich kommt es einer fundamentalen Kränkung gleich, wenn man schließlich erkennen muss, dass man – gesund bis ins allerhöchste Alter – dennoch sterben muss. Die übergroße Zahl der Menschen sucht ihr Heil in einer mehr oder wirksamen Verdrängungshaltung und sieht sich irgendeines Tages – vollkommen überrascht – mit Gevatter Hein konfrontiert (Freund Hain lässt sich abwenden nit mit Gewalt, mit Güt, mit Treu und Bitt – ich bevorzuge die Version von Georg Ringsgwandl).

Wie gehen wir also mit unserer Sterblichkeit um, vor allem solange nicht unser eigener Tod gemeint ist? Das Ereignis eines frühen Todes – eines Todes zur Unzeit – schockiert; zumindest das unmittelbare Umfeld. Handelt es sich um einen Unfall – je spektakulärer, desto intensiver – nimmt die Öffentlichkeit daran Anteil.

Kaum jemand hat diese Zusammenhänge deutlicher thematisiert als Jean Baudrillard (Frankfurt 2003) Er fragt:

"Warum hat der erwartete und vorhergesehene Alterstod, der Tod in der Familie - welcher von Abraham bis zu unseren Großvätern als einziger einen vollen Sinn für die traditionelle Gemeinschaft hatte - diesen Sinn heute nicht mehr (a.a.O., S. 94)?

Die Moderne lässt Baudrillard aufscheinen in all ihrer Brutalität und Verachtung des Einzelnen, indem er der Frage nachgeht, warum denn der gewaltsame, zufällige - beispielsweise der Unfall-Tod -, der früher für die Gemeinschaft ein Un-Sinn gewesen sei, bei uns so eine exponierte Bedeutung hat? Vielleicht erkennen wir uns als diejenigen wieder, die sich dem konsumativen Terror der Massenmedien aussetzen - ja ausliefern, und die im "natürlichen" Tod keinen Sinn mehr erkennen können: "Der 'natürliche' Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und er banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist (a.a.O., S. 95)."

Baudrillard stellt in den Raum, dass jeder seine Toten beerdige. Hingegen gebe es bei den Primitiven keinen 'natürlichen' Tod: jeder Tod sei gesellschaftlich, öffentlich und kollektiv und er müsse durch die Gruppe und nicht die Biologie absorbiert werden: "Diese Absorbierung geschieht im Fest und in den Riten. Das Fest ist ein Austausch der Willen (man sieht nicht, wie das Fest ein biologisches Ereignis resorbieren könnte). Böse Willen und Sühneriten werden über dem Kopf des Toten ausgetauscht. Der Tod treibt sein Spiel und er gewinnt symbolisch - der Tote gewinnt seinen Status und die Gruppe bereichert sich um einen Partner (a.a.O., S. 95)."

Bei uns hingegen macht sich der Tote aus dem Staube!

Baudrillard hat vielleicht nicht mehr das massenhafte Verscharren von a-sozialisierten Toten auf den anonymen Grabfeldern unserer Friedhöfe erlebt. Die Vereinzelung zu Lebzeiten führt auch nach dem Ableben immer häufiger zur Bestattung auf anonymen Grabfeldern, die es  inzwischen auf jedem Friedhof gibt. Baudrillard behauptet schon 1976, dass sich die Toten aus dem Staube machen. Am Ende eines Lebens der Akkumulation (von gewonnen Jahren - auf dem Hintergrund rasant ansteigender Lebenserwartung bzw. durchschnittlichen Ablebens) werde er vom Ganzen abgezogen. Er werde zu keiner Erinnerung:

"Das ist ein banaler, eindimensionaler Tod, das Ende eines biologischen Parcours, die Bezahlung einer Schuld: 'den Geist aufgeben', wie ein Reifen, der seine Luft verliert. Welche Plattheit (a.a.O., S. 96)!"

Damit könnte man ja vielleicht noch leben. Damit aber der Tod nicht als vollkommene Inkarnation der Sinnlosigkeit erlebt wird, reicht es nach Baudrillard eben nicht aus, einen Toten "der Natur zurückzugeben". Vielmehr müsse er nach genauen herkömmlichen Riten ausgetauscht werden, damit seine Energie, die Energie des Toten und des Todes, auf die Gruppe zurückwirken und von der Gruppe aufgenommen und verausgabt werden könne, anstatt nur der 'Natur' überlassen zu werden (vgl. ebd., S. 97). Wie fremd ist uns denn diese Einsicht; uns, die wir - wie Baudrillard meint - über keinen wirksamen Ritus zur Absorption des Todes und seiner gewaltigen Energie mehr verfügen. Uns bleibe nur noch das Phantasma des Opfers und des gewaltsamen künstlichen Eingriff des Todes: "Daher die intensive und zutiefst kollektive Befriedigung angesichts des Todes im Auto. Was beim tödlichen Unfall so fasziniert, ist die Künstlichkeit des Todes. Er ist technisch, nicht natürlich, also beabsichtigt (möglicherweise vom Opfer selber), also von neuem interessant - denn der beabsichtigte Tod hat einen Sinn (a.a.O., S. 97)."

Das Jahr 2003 vermittelte mir individuell auf ungewöhnliche Weise die Erfahrung, einer Absorption des Todes und der von Baudrillard angenommenen und phantasierten gewaltigen Energie des Todes. Das unmittelbare und konsequente Einlassen auf die Sterbebegleitung meiner Mutter endete mit dem Übergehen der gewaltigen Energie, die sich in der Lebensleistung und –einstellung meiner Mutter manifestierte, in Art einer Osmose auf meine energetische Ausstattung für ein überschaubares Zeitfenster – etwa ein halbes Jahr – und latent als haltungsbestimmender Einfluss für den Rest meines Lebens. Natürlich hält mich die Mehrheit meines Umfeldes für bekloppt. Was allerdings nach dem Tod meiner Mutter an nachhaltiger, wirkungsmächtiger Verhaltensausrichtung mir selbst beobachtbar und erfahrbar wurde, zeugt von einem Entwicklungspotential und einem Entwicklungsschub gleichermaßen.

Das Unfassbare wurde sowohl vertrauter als auch in seiner Vertrautheit weniger bedrohlich. Als 2016 Andreas tödlich verunglückte, sahen wir alle uns einmal mehr konfrontiert mit einem Tod zur Unzeit. Der Tod trat ein infolge eines vermeintlich selbst verschuldeten bzw. verursachten Autounfalls, dessen Umstände – wie Baudrillard es beschreibt –, zu Spekulationen Anlass gab. Andreas war nicht nur der Sohn eines engen Freundes, er war über mehr als zwei Jahre die erste Liebe unserer jüngsten Tochter – Anne – mit all den Höhen und Tiefen, die den singulären Charakter der ersten Liebe ausmachen. Die Trennung der beiden lag bereits mehr als sechs Jahre zurück, als uns der Anruf erreichte, dass Andreas bei einem Autounfall gestorben sei – im Alter von 29 Jahren. Die bedrängenden Bilder aus 1994 im Nachgang zum plötzlichen Unfalltod meines Bruders glichen sich ab mit einer Tragik, die sich aus einem einzigen Grund noch düsterer und schockierender ausnahm. Fast genau vor 20 Jahren hatte der Vater Andreas' seinen Sohn aus erster Ehe durch Suizid verloren. Mit Andreas' Vater verbindet mich eine lange Freundschaft, die der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Institut an der Uni und der Tatsache, dass er lange die Leitung dieses Instituts innhatte, entwachsen war. Die Umstände, die Andreas‘ Tod begleiteten, ließen auch hier böse Ahnungen zu. Dass sich diese Annahme eher als Trugschluss herausstellte, hatte wenig Tröstliches.

Mein Freund hatte die Leitung des Instituts, an dem ich offiziell zum 1. Juli 1994 meinen Dienst aufnahm, erst wenige Monate zuvor übernommen. Die erste Amtshandlung mir gegenüber bestand im Kondolenzschreiben, mit dem er mir sein Beileid zum Unfalltod meines Bruders bezeugte; 1997 schrieb ich dem Freund einen langen Brief zum Tod seines Sohnes Björn, der noch im ausgehenden 20. Jahrhundert auf bedrückende Weise die Nöte und die Einsamkeit eines jungen – eben auch erst 29jährigen Mannes offenbarte, der (auch) an der Tatsache seiner schwulen Identität zerbrochen war.

Dieses brutale dejà vu konnte nur wie eine Heimsuchung erscheinen. Ich halte meine Eindrücke hier fest, weil es eine doppelte tiefe Verwobenheit der Geschichte meines Freundes und seines Sohnes mit meinem Leben gibt. Dies schließt die tiefe Betroffenheit und den nachhaltigen Schock ein, der meine ganze Familie und mein Umfeld – selbstredend Anne in besonderer Weise – erfasste. Der Freund, der in diesem großen Unglück das kleine Glück hatte, inzwischen eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihn stützte, die ihm Kraft und Besonnenheit vermittelte, suchte den Kontakt zu einem im Leiden und Mitleiden Erprobten. In dessen Erinnerungsflut mischten sich die Eindrücke auf surreale Weise:

Die Tatsache, dass mein Freund eine Frau an seiner Seite hatte, die ihm Rückhalt und Kraft vermittelte, die aber nicht Andreas‘ Mutter war, bedeutete eine der Gegebenheiten auf der schiefen Ebene, auf der sich der Freund bewegte. Die Metapher Dirk Beackers (siehe Kapitel…) beschreibt vielleicht unser aller Lebensrahmen auf mehr oder weniger eindrückliche Weise. Das nunmehr grell aufscheinende Blitzlicht, beleuchtete das Spielfeld, auf dem sich der Freund als Mitspieler bewegte und auf dem mehrere Tote verteilt waren. Hier zeigte sich – vielleicht ausgeprägter als üblich –, dass die Leute das runde Spielfeld betraten und verließen, wie sie wollten. Immer war unklar, wer gerade den Ball hat und wer welches Tor zu seinem erklärt. Auf der abfallenden Fläche schien das Bemühen um Kontrolle aussichtslos.

Das Zeitfenster für ein ritualisiertes Trauergeschehen ist begrenzt. Die Trauerfeier und die Beisetzung zwingen dem Geschehen eine enge Taktung auf. Die Trauerfeier für Andreas offenbarte zur Gänze das verworrene Chaos, das Andreas selbst noch in den Tod begleitete. Die Trauerfeier selbst habe ich unter den unmittelbaren Eindrücken des Geschehens für mich erinnert. Heute – mit einem Abstand von fast fünf Jahren – mischen sich die Zutaten noch einmal neu. Mir erscheint im Rückblick der Schmerz als diffuser und ausgefranster Nebel, in dem die Trauernden nicht zueinander finden konnten. Die Mutter Andreas‘ saß isoliert für sich, der Freund saß für sich und seine Tochter bildete ein drittes Schwerkraftfeld, in dem sich Abstoßung und Anziehung neutralisierten.

Der Freund hat zuweilen resigniert registriert, dass seine Kinder Abstand zu ihm suchten. Peter Sloterdijk hat die beobachtete Einkrümmung der Subjekte in sich selbst – jene incurvatio in se ipsum – primär in Zusammenhang gebracht mit einer Operation des Sündigens, die man heute als „Kommunikationsabbruch in bezug auf ein gesprächsuchendes oder bittendes Gegenüber charakterisieren würde“. Bitterer noch, dass Sloterdijk sich bemüßigt sieht zu ergänzen: Sie – diese Einkrümmung – beziehe sich auch auf das „habitualisierte Resultat einer solchen Abwendung, eine hartnäckige Fehlstellung des moralischen Sinns, die sich sogar bei gutem Willen vom Subjekt nicht mehr kompensieren ließe“.

Mehrfach habe ich Karl Otto Hondrich erwähnt, der uns Erwachsene darauf aufmerksam macht, dass Kinder ihren eigenen intuitiven Umgang mit den wechselseitig ausgelebten Konflikten und Idiosynkrasien ihrer Eltern pflegen. Die Abschiedsworte des Freundes an seinen Sohn offenbaren im Rückblick für mich den verzweifelten Versuch, den nun eingetretenen finalen Kommunikationsabbruch nicht nur zu ertragen, sondern ihn ein Stück weit auch abzuwehren. Die Anknüpfung an eine frühe Geste seines kleinen Sohnes Andreas, der seinem Vater ein Schäfchen zudachte mit den Worten: „Ein langes Leben, lieber Papa, dein Andy“ stellt den Lebensfluss auf den Kopf und bezeugte nun zum zweiten Mal, dass ein Vater seine Söhne ziehen lassen muss.

Ich verdanke dem Freund mehr als nur die Intervention, mit der er 1997 – in der Zeit meines Wütens in dieser Welt – versucht hat, Claudia zu besänftigen und ihr zu einer Haltung der Geduld riet. „Bewahre die Ruhe, der Jupp wird sich eines Besseren besinnen – mit der nächsten Frau wird nichts besser.“ Den weiten Weg dieser Besinnung bin ich (auch mit Hilfe von guten Freunden – siehe Kapitel…) gegangen. Dass es insbesondere für ihn - den Freund aus so vielen freudvollen wie leidvollen Tagen - anders kommen musste, erscheint mir bitter und versöhnlich zugleich mit Blick auf die Tatsache, dass ihm die letzte Liebe wohl doch noch ein fürsorgliches Finale vergönnt.

Man kann sich nun fragen, was mich wohl dazu legitimiert fremde Familiendynamiken zu thematisieren und nicht nur welche zu erfinden. Was hier zu lesen ist, ist meine Erfindung im Sinne eines Nachspürens. Die Tatsache, dass Andreas nicht nur der Sohn meines besten Freundes war, sondern um ein Haar unser Schwiegersohn geworden wäre, mag ein hinreichender Grund sein zu erinnern – auch über unserer gemeinsame Zeit hinaus.

Lautverschiebung (22)

Über die Jahre I

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Komm in den totgesagten Park und schau
Wie alle Kräutlein wieder blühn.
Sie blühen rotgelblilablau
Und alles ist voll Hoffnungsgrün!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Vertreib mit mir die Trübsal und das Grau!
Ich bin so selbstbewusst und kühn
Und weder trunken, blind noch blau,
Die Liebe soll auf’s Neu erblühn.

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Nimm’s Leben leicht, nicht so genau!
Die Last, das Leid und auch die Mühn
Sind Mörtel im Familienbau,
Worüber nachts die Sternlein glühn!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Zur Welt gehörn der Eber und die Sau!
Die Frau ist keine platte Fläche,
Sie hat Kontur und Vorderbau,
Den ziert sie auch mit Wäsche!

K(l)eine Trauer

Alle Frauen werden Nonnen
– Jung und alt!
Mein heißes Blut ist nun geronnen
Und mein Herz wird kalt.

Erbärmlich fleh ich um ein bisschen Zeit.
Der Kopf denkt: Nein!
Die Seele schreit –
Und alle sind allein.

Erde, Wasser, Luft und Sonne,
Alles schien schon dein/mein.
Kosmisch diese Wonne,
Ach du/ich armes Schwein.

Leben ist auch Pflicht!?
Gewiss mein Kind –
Adel durch Verzicht,
Wo Astern Rosen sind.

Wo Sommer Winter bleiben.
Hör doch Bruder:
Lass das Schreiben,
Geh ans Ruder!

Lass es rollen
Durch die Welt!
Du musst wollen,
Wo und wann es hält.

Draw a distinction! 

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.

Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!

Paarlauf

Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
Während ihre Spuren ritzen

Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen. Wie Seismographen zeichnen sie Eruptionen auf; in der Regel orientiert an wendepunktrelevanten Ereignissen und Geschehnissen. Die weiter oben wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachtungsqualität zweiter Ordnung. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand von den Dingen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naive-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reifen und realistischeren Perspektive weicht.

Darin spiegelt sich vielleicht mehr und mehr die von Reinhold Niebuhr  in einem Aphorismus empfohlene Haltung, mit Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, mit Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, und mit Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu  können. Diese Weisheit wird einem aber ganz offensichtlich nicht in den Schoß gelegt. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung in diesem Zusammenhang übernehme ich von Odo Marquard: Das Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. Davon unterscheidet Marquard das Zufällige, das zwar auch anders sein könnte, aber gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.).  Marquard geht also davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Kleine Randbemerkung zur Philosophie Odo Marquardts: Dazu gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003/2015, S. 157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre: "Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (ebd., S. 158)."

Ja, gewiss ist dies wohl auch zu meinen Urmotiv geworden Geschichten zu erzählen – nunmehr unter der Maßgabe einer maßgeblichen Lautverschiebung, die eine behutsame, aber markante Verschiebung der Sinnkoordinaten zur Folge hat. Die von Odo Marquard angebotene Unterscheidung wird auch von dem bereits mehrfach erwähnten Paartherapeuten Detlef Klöckner aufgenommen. Dabei ist zunächst für ihn deutlich, dass sich im Kontext einer Langzeitperspektive quasiautomatisch Klippen auftürmen, „an denen das Paar scheitern oder wachsen kann“. Und ebenso deutlich sind für ihn die Unterschiede, die sich mit Blick auf lebenslange Monogamie auf der einen Seite und serielle Monogamie auf der anderen Seite ergeben:

„Manche persönliche und manche gemeinsame Transformationen sind nur erfahrbar, wenn man in einer Beziehung verbleibt, andere nur, wenn man immer wieder wechselt oder sich fern von Beziehungen aufhält. Um diese Unterschiede kommt niemand herum. Man wird im Leben also einiges oft, anderes weniger und vieles nicht erleben, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, und natürlich, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 100).“

Wer im Sinne des Phasenmodells, das Detlef Klöckner entwirft, bis zur letzten Phase – bis zum Fürsorglichen Finale – durchhält, weiß, dass man eine Ehe so wenig planen kann, wie Geschichten; also bleibt im Grunde genommen – sofern man sich selbst auf der Spur bleiben will – nur die Möglichkeit, zu erzählen: Phase I  –  VERZAUBERUNG – bildet den Auftakt meiner Erzählungen, genauso, wie Detlef Klöckner sie charakterisiert, als singulare Verliebtheit, die vom mentalen Ausnahmezustand bis zur Lust-Angst-Ambivalenz reicht. Phase IV – INTIME DIALOGE – geht ein in die Kapitel 20 und 21. Klöckner spricht von Gewohnheiten und Umbrüchen und Freundschaft; von Wiederverzauberung versus unromantischer Fixierung. Sieben Liebesbriefe – geschrieben zwischen März und Juli 2008 – belegen die Wiederverzauberung (in der Mohnfrau, Seite 109-133). Gemeinsam haben wir - Claudia und ich, je auf unsere Weise - versucht unser Schiff durch hohen Seegang zu steuern, nachdem wir beide erfahren haben, welche Weichen das Leben zufällig anbietet und uns auch aufbürdet. Mehrfach schon habe ich erwähnt, dass wir auf ein gemeinsames FÜRSORGLICHES FINALE hoffen; Phase V nach Klöckner; im besten Falle geprägt von einer komplementären Vertrautheit und dyadischer Dämmerung. Hier geht es noch einmal und zuletzt um existentielle Erfahrungen, Vermächtnis und in der Regel unvermeidbare Degeneration. Was uns jetzt schon hilft – und warum ich diese Aufzeichnungen auch als Vermächtnis betrachte – hängt mit unserer starken generativen Verankerung zusammen. Detlef Klöckner schreibt dazu:

"Phase V ist ein Spagat des abnehmenden Lebens. Das Paar steht vor der Bilanz seiner zurückliegenden Aktivitäten. Es braucht selbst Stütze und hat die Aufgabe, seine Lebenserfahrung und Werte an Nachfolgende zu vermitteln. Die leidenschaftlichen Wendungen der Altersbeziehung gehen über das Individuelle hinaus. Es ist eine Suche nach Versöhnung, Weitergabe und spirituellem Halt (S. 232f.).“

Ein Aspekt der Bilanz unserer zurückliegenden Aktivitäten lässt sich lyrisch verdichten, indem die Rückschlüsse aus Phase IV – Intime Dialoge – eine andere Klangfärbung annehmen als die von mir – vor allem in Phase I – Verzauberung – angebotene Liebeslyrik:

Überstehn

Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Doch streben wir nicht zu den Sternen,
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide,
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia
Doch nicht für uns.


So können wir bewahren,
Was andern früh im Feuer schon verbrennt,
Wenn Alter blind in Ego rennt.


Wir lindern unsre Schmerzen,
Bewahren uns in unsren Herzen
Und mischen die Essenzen neu.


Wir bleiben auf der Hut,
Und finden immer neuen Mut,
Und werden nicht das Höllenfeuer sehn,
Wir werden unverzagt uns überstehn.

Wie ich lernte zu wollen, was ich soll (23)

Ich habe gelernt, dass Sollensvorstellungen immer zusammenhängen mit Erwartungen, die jemand an uns richtet. Mir hilft es zunächst einmal ein wenig abstrakter anzunehmen, dass das Leben Erwartungen an uns alle richtet. Dass die Eltern den Kindern das Leben geben, hört sich zunächst einmal trivial an – Bert Hellinger spricht vom Geben und Nehmen des Lebens. Geht ein Leben seinen geordneten Gang, kann man sagen, dass aller Anfang sich so zuträgt, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen. Dazu gehört wohl die Einsicht, dass die Eltern sich den Kindern so geben, wie sie sind. Und die Schlussfolgerung, die ebenso so trivial daherkommt, meint, dass die Kinder die Eltern dementsprechend nur nehmen können, wie sie sind. Sie können dem weder etwas hinzufügen noch etwas weglassen oder etwas davon zurückweisen. Vermutlich machen diese Schlussfolgerungen Bert Hellinger in den Augen emanzipierteraufgeklärter Menschen so schwer verdaulich. Es wird sogar noch heftiger, wenn Hellinger meint, das ganze habe eine besondere Qualität, weil die Kinder die Eltern nicht nur haben, „sie sind ihre Eltern. Die Eltern geben ihren Kindern, was sie selbst vorher von ihren Eltern genommen haben, und auch von dem, was sie vorher als Paar, der eine vom anderen, nahmen. Zusätzlich zum Geben des Lebens sorgen die Eltern noch für ihre Kinder. Dadurch entsteht zwischen Eltern und Kindern ein riesiges Gefälle von Nehmen und Geben, das die Kinder, selbst wenn sie es wollten, nicht ausgleichen können.“

Im kommenden Jahr hoffe ich meinen siebzigsten Geburtstag feiern zu können. Mein Vater ist 1988, meine Mutter 2003, mein Schwiegervater 2010 und meine Schwiegermutter 2020 gestorben. Die Sorge und das Sorgen für die alten (Schwieger-)Eltern haben die letzten nahezu zwanzig Jahre geprägt. In Zweierlei Glück – In Gunthard Webers Dokumentation der Arbeit Bert Hellingers – steht der Satz, dass das Kind für seine alten Eltern sorgt, wenn sie in Not und alt sind: „Das letzte ist etwas ganz Wichtiges für den Abschied: Die Eltern können das Kind ziehen lassen, wenn das Kind ihnen versichert, dass es für die Eltern da ist, wenn sie es brauchen.“

Motiv und Motivation liegen vordergründig betrachtet auf der Hand. In der Konfrontation mit den alten Eltern liegt eine große Herausforderung. Die besteht offenkundig darin nicht als Kind zu reagieren, sondern als Erwachsener, der das macht – wie Weber und Hellinger betonen –, was richtig ist. Es erfordere einen Bewusstseinswandel. Dann lasse sich das, was richtig ist, meistens auch tun; zuletzt und nach meinen Eindrücken allumfassend – hat sich dieser Bewusstseinswandel in mir mit dem Begleiten meiner Mutter in ihren letzten Lebensmonaten von Februar bis Juli 2003 vollzogen.

Da der Aufforderungscharakter des Wollens allein, d.h. das bloße Erheben eines selbstadressierten Sollens- und Veränderungsanspruchs, keineswegs automatisch zu motivationaler Wirksamkeit führt, bleibt zu überlegen, wie eine solche Wirksamkeit in erreichbare Nähe rückt und nicht nur dazu führt, dass ich auf diese Aufforderung irgendwie reagiere, indem ich ihr entweder nachkomme oder eben nicht. In meinem Fall liegen die Dinge klar: Alles, was mir meine Eltern gegeben haben, die Art und Weise, wie sie für mich gesorgt haben, kommen aus einem Füllhorn. Und da ist es wohl so, dass Kinder das damit entstehende Gefälle von Nehmen und Geben nicht ausgleichen können, selbst wenn sie es wollten. Wie leicht hingegen war ein Ausgleich von Nehmen und Geben meinen Schwiegereltern gegenüber. Hier erst zeigte sich in einem vollen Umfang, dass ich aus vollem Herzen wollen konnte, was ich sollen durfte. Mein über die Maßen privilegiertes Leben in materieller Hinsicht verdanke ich zu wesentlichen Anteilen meinen Schwiegereltern, die mir im Übrigen auch in allen anderen Lebenslagen – trotz meiner Abdrift 1997 – gewogen blieben.

Erzählenswert bleibt die Abschiedsreise mit meinem Schwiegervater 2003 in seine Heimat. Diese Reise in die Vergangenheit beinhaltete alle im Alter von 79 Jahren noch möglichen Köstlichkeiten, eingewoben in einen schmerzensreichen Abschied von Kindheit, Jugend und Alter: Im September 2003 – wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter – bat mein Schwiegervater, Leo, mich darum, ihn auf einer Reise in seine alte Heimat an den Bodensee zu begleiten; rund 450 Kilometer entfernt von Koblenz. In Ittendorf – etwa 8 Kilometer nördlich von Meersburg im Hinterland gelegen – hatte er Kindheit und Jugend verbracht.

Er und seine Geschwister – der ältere Bruder Ernst und die ältere Schwester Klärle – waren früh Halbwaisen geworden. Der Vater starb Ende der zwanziger Jahre und hatte mit Leonie noch eine Halbschwester hinterlassen. Nach seinen Schilderungen war Leo ein äußerst aufgewecktes, umtriebiges Kind. Seine eigenen Erzählungen erinnerten immer an die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma. Selbst wenn man gewaltige Abstriche vornimmt, verfestigt sich ein Eindruck, für den allein schon deshalb Vieles spricht, weil sich ganz offenkundig eine starke Kontinuitätslinie von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter offenbart. Sein Habitus als Bodenseeschwabe, gepaart mit unbändiger Lebenslust und dem, was man den Schalk im Nacken nennt – eine verschmitzte Art, die sich mit Schnelligkeit im Denken und Handeln paarte, macht ihn unter den behäbigen Rheinländern und Moselanern zu einer in jeder Hinsicht zu einem Solitär. Nimmt man nun die rosarote Brille ab, dann zeigt sich freilich auch ein bauernschlauer, knochiger Lebenskünstler, der nie (!) – bei allem was er tat, plante und ins Werk setzte – den eigenen Vorteil oder den Vorteil der ihm Nahen aus dem Blick verlor. Seine self-made-Qualitäten habe ich in Kapitel (8) bereits hervorgehoben. Diese außergewöhnlichen Eigenschaften gründen wohl in den Umständen einer Kindheit auf dem Land – ohne Vater – und dem früh ausgebildeten, unbändigen Willen, das Beste und Extremste aus sich herauszuholen. Davon zeugen so viele objektive, faktisch nachvollziehbare Mosaiksteine, deren bedeutsamster wohl darin aufscheint, eine Lehre zum Maschinenschlosser bei Maybach zu absolvieren. Kaum vorstellbar, unter welchen Umständen Leo dieses Vorhaben bis zum Gesellenbrief realisierte: Jeden einzelnen Tag seiner Ausbildung fuhr er mit dem Fahrrad von Ittendorf nach Friedrichshafen – 17 Kilometer hin und 17 Kilometer zurück. Leo hat sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Ähnlich wie Heinz Otto Fausten hat er diesen Schritt damit begründet, sich dadurch die Waffengattung aussuchen zu können und – nebenbei – habe die Annahme eine Rolle gespielt, der Krieg stehe unmittelbar vor seinem erfolgreichen Ende. Die Kalkulation ging nicht auf; mehr noch wurden viele Angehörige der Luftwaffe zuletzt – nachdem der Flugbetrieb aufgrund von Spritmangel fast zum Erliegen kam – ihren Dienst bei der Infanterie aufnehmen – so auch Leo. Er wurde von Oktober an in den erbitterten Kämpfen im Hürtgenwald schwerstverwundet. Nach seinen Schilderungen verlor er als Zugführer alle seine Leute durch kanadische Scharfschützen. Sein eigenes Überleben verdanke er lediglich – nach eigenem Bekunden – einem intuitiven, ruckartigen Herumreißen des Oberkörpers, so dass der seinem Kopf geltende Schuss seine rechte Schulter zertrümmerte. Leo gelang es, sich bis zu den eigenen Linien zurückzuschleppen; ihm drohte zunächst die standrechtliche Erschießung wegen wehrkraftzersetzender Aufgabe von Positionen – außerdem habe er keinen seiner Leute zurückgebracht. Die Intervention seines Kompaniechefs wendete das Blatt. Aufgrund der schweren Verwundung wurde Leo in das Lazarett Nordhausen/Thüringen verlegt. Diese Geschichte erwähne ich, weil ein weiterer entscheidender Mosaikstein in Leos Selbstbild damit zusammenhängt, dass seine Schwester Klärle seine Verlegung von dort nach Ravensburg erreicht hat. Er wurde von einem Spezialisten erfolgreich operiert, so dass das rechte Schultergelenk – zwar mit erheblichen motorischen Einschränkungen – erhalten werden konnte (Leos Kriegsversehrtenausweis liegt mir vor).

Mein Schwiegervater ging gar so weit anzunehmen, dass er seiner Schwester, die er als braune Schwester bezeichnete (sie hatte Karriere bei den sogenannten braunen Schwestern gemacht) sein Leben verdankte (in Thüringen wäre er unter Umständen in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hätte dies mit Blick auf seine Verwundung gewiss nicht überlebt). Die Tatsache, dass Leo die geliebte Heimat verlassen musste, hängt nun wiederum mit einem anderen markanten Mosaikstein seiner Biografie zusammen. Leo bestand nach Kriegsende und Genesung die Aufnahmeprüfung am Konstanzer Technikum und beendete dort 1949 eine Ausbildung zum Maschinenbauingenieur. Zweifellos hätte er am See auch beruflich Fuß fassen können, hätten ihn private Turbulenzen nicht zur Flucht ins Rheinland gezwungen. Angeblich ging die Schwangerschaft einer Ittendorferin (mit zweifelhaftem Ruf) auf sein Konto. Da sich dies seinerseits nicht wirklich entkräften ließ, musste er vom See weg. Seine Mutter (und seine Schwester) rieten/drängten ihn zu dieser Flucht, die ihn nach Koblenz zu einem Bruder seiner Mutter führte. Hier beginnt nun das zweite oder dritte Leben Leos, das schließlich mit der Eroberung meiner Schwiegermutter einen ersten Höhepunkt erfuhr; die beiden heirateten am 21. Februar 1952, an dem Tag, an dem ich selbst das Licht der Welt erblickte. Manch einer könnte dabei an Vorsehung denken.

Dieser schnelle Parforce-Ritt durch Leos Frühgeschichte ist unentbehrlich, will man nun unsere Abschiedsreise im Jahr 2003 verstehen: Leo zeigte bereits erste Anzeichen einer beginnenden Demenz. Ein ärztlicher Kurzbericht aus dem Januar 2001 – erstellt im Krankenhaus der Stadt Bludenz vom behandelnden Arzt und Leiter der „Internen Abteilung“, Dr. Striberski – spricht von „hochgradiger V.a. li.-hirnige TIA mit passagerer Dysphasie – hypertensive Encephalopathie bei arterieller Hypertonie“! Im Klartext ging es damals – bei Leos letzter alpiner Exkursion am Arlberg schon um signifikante Durchblutungsstörungen des Gehirns mit neurologischen Ausfallerscheinungen; Hintergrund war jahrelange Vorschädigung durch Bluthochdruck. Was hier Dysphasie heißt, bedeutet eine Störung bei der Sprachverarbeitung, die mit Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses oder anderer geistiger Fähigkeiten zusammenhängt. Als abschließendes Procedere steht in diesem Kurzbericht: „Dringend weitere neurologische Abklärung mit EEG und eventl. MRT. Bis zur endgültigen Abklärung Lenken eines KFZ, gefährliche Tätigkeiten etc. verboten.“ All dies wird sich auf unserer Abschiedsreise auf mehr oder weniger eindeutige und beklemmende Weise zeigen.

Gemeinsam mit Leo habe ich viele Stunden zu zweit bei Urlaubsfahrten oder auch anders motivierten Reiseaktivitäten verbracht. Die früheste diesbezügliche Erinnerung rühren aus den Jahren 1992 bis 1996. Legendär war unsere Tour nach Zürs bzw. Stuben. Claudia erwarb ihre Ski-Lehrerinnen-Lizenz. Leo musste das aus der Nähe beobachten und sorgte dafür, dass ich als relativer Ski-Anfänger meine Feuertaufe am Arlberg erfuhr – von morgens bis abends (am Abend die letzte Liftfahrt, um dann tatsächlich als allerletzte die Albona schon in der Schattenlage und schon wieder vereisend zu bewältigen). Hier stieß Leo an seine physischen Grenzen und entschloss sich noch im selben Jahr zu einer ersten Hüftgelenksprothese an der renommierten Endo-Klinik in Hamburg. Bei all diesen Touren an den Arlberg, nach Hamburg war ich Zuhörer. Ich hörte Leos Geschichten zum wiederholten Mal – immer verbunden mit leichten Variationen, aber einem festen unverbrüchlichen Kern. Ich hörte aufmerksam und sehr genau zu, so dass Leos Skript sich mit seinen Essentials und Kernbotschaften tief in meinen Erinnerungsvorrat einkerbten. Die mehr als fünf Stunden auf der Fahrt nach Ittendorf verbrachten wir mehrheitlich schweigend, Leo auch teils schlafend. Wir hatten uns im einzigen, gleichwohl alteingesessenen und gediegenen Landgasthof „Adler“ eingemietet. Der „Adler“ bildete in einem Quadrat – an der Hauptstraße gelegen – das Eckhaus. Diagonal, etwa 100 Meter Luftlinie entfernt,  steht/stand Leos Elternhaus. Er entstammte einer bäuerlichen Kleinwirtschaft. Nach seinem Weggang aus Ittendorf hatte seine Schwester den Hof übernommen und nach ihrer Heirat mit Emil Lang bis zu ihrem Tod 2001/02 (?) bewirtschaftet. Mit derselben Schwester, der Leo – nach eigenem Bekunden – sein Leben verdankte, hatte er sich im Zuge von Erbauseinandersetzungen und der Frage nach dem Verbleib der Mutter im Alter heillos zerstritten. Auf seine Veranlassung und Bitte der Mutter verfügte er 1971 die Übersiedlung der Mutter in ein Altersheim in der Nähe – nach Wespach. Diese im Einvernehmen mit der Mutter, aber letztlich einseitig herbeigeführte Entscheidung führte zu einem erbitterten und letztlich unversöhnlichen Streit der beiden Geschwister. Hintergrund waren exakt dieselben Überlegungen und Vorbehalte, wie ich sie im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen in der mir in den siebziger Jahren zuwachsenden Beinahe-Schwiegerfamilie in Kapitel 5 beschrieben habe. Eine spießbürgerliche, erzkatholisch unterfütterte Enge ließ auch gegenüber einer vollkommen zerrütteten und (für die Mutter nach eigenem Bekunden immer unerträglicher werdenden Zwangsarrangement auf dem eigenen Hof keine Alternative. Jenseits der Frage nach Wohlergehen und Wohlsein der Beteiligten beanspruchte der äußere Schein nach einer vorgeblich heilen und verantwortungsvollen Fürsorge der Mutter gegenüber – selbstverständlich in den eigenen vier Wänden – absoluten Vorrang. Leo wurde von seiner Schwester und ihrem Ehemann, der über viele Jahrzehnte als Ortsvorsteher die Geschicke der Gemeinde verantwortete, eine unerträgliche Bloßstellung der Familie vorgehalte. Erste die dritte Generation – die Kinder der Kontrahenten – versuchten innerhalb der Familie wieder einen Frieden zu finden und zu begründen.

Leo hatte 2003 noch einen besten Freund in Ittendorf, den wenige Jahre älteren Edi Widemann, einer der vielen Apfelkönige vom Bodensee. Die Reise trug durchaus noch seine planerische Handschrift. Leo überließ ungern etwas dem Zufall und hatte für den Nachmittag unseres Ankunftstages ein Treffen bei den Widemanns (Edi und Priska) vereinbart. Bevor wir zu den Wiedmanns fuhren, die einen Aussiedlerhof mitten in den Apfelplantagen auf dem Weg von Ittendorf nach Immenstad bewohnten, musste ich Leo gewissermaßen ums Eck fahren; im engeren Sinne vom Adler aus am Schloss vorbei, dann links abbiegend am Haus seines Neffen Bernd vorbei. Das Annegärtle, das Leo versprochen war, war – wie das gesamte Erbe an seine Schwester gefallen. So hatte Bernd irgendwann sein Haus auf’s Annegärtle gebaut, hatte geheiratet, drei Kinder bekommen, zeitweise am Rad gedreht, vielleicht weil die Erbgänge irgendwie doch quer saßen. Leo hatte seiner Mutter zuliebe die Salamitaktik seiner Schwester hingenommen und Scheibe für Scheibe den Erbverzicht ausgesprochen. All dies gewann noch einmal besondere Brisanz, als Leo seine Mutter in der Nähe von Salem (in Wespach) in einem Altenheim unterbrachte, wo sie immerhin von 1971 bis 1976 – ihrem Sterbejahr – gelebt hat. In all diesen Jahren hat aus der Familie Lang niemand die (Schwieger-)Mutter oder die Oma (Klärle hatte zwei Söhne, Bernd und Wolfgang) auch nur noch einmal besucht. Sie starb völlig vereinsamt im Altenheim, und auch nach ihrem Tod fanden die Geschwister – Klärle und Leo – nicht die Kraft zur Versöhnung. Die letzte Chance blieb ungenutzt als Klärle ihren Bruder samt Familie zu einer Feier einlud. Leo hatte die Zimmer im Adler bereits reserviert, dann aber – als ihn offensichtlich der Mut verließ – wieder storniert.

All dies mag Leo möglicherweise erinnert haben. Er weigerte sich stur und konsequent aus dem Auto auszusteigen, das Elternhaus in Sichtweite – dort lebte sein Schwager Emil noch bis ins hohe Alter von 97 Jahren; er ist 2015 verstorben. Ittendorf bedeutete für Leo offensichtlich verbrannte Erde. Frei atmen konnte er erst, als wir am Kaffeetisch bei seinen ältesten Freunden, den Widemanns, auf dem Hundweilerhof saßen. Auf dem Weg dorthin musste ich auf einer Anhöhe anhalten. Wir stiegen aus. Wir sahen den See und am Horizont die Berge. Leo war für seine Art ungewohnt still. Auch beim Kaffee und schließlich bei Heinzlers in Immenstad – das waren ja alles Heimspiele – blieb den Gastgebern nicht verborgen, wie sehr sich Leo verändert hatte. Auch ich selbst hatte in den letzten 25 Jahren meinen Schwiegervater immer als Dominator erlebt; ob kleine oder große Gesellschaft – zu seiner Lebendigkeit und Präsenz gab es selten ein Pendant auf Augenhöhe. Seine Art war nicht nur dominierend, sie war in der Regel auch mitreißen und unterhaltend. Seine Frau hat immer wieder betont, dass er unter all den Vielen, die ihr den Hof gemacht haben, vom ersten Tag an nie Langeweile hat aufkommen lassen, er hat mit seinem Humor und seiner Beredsamkeit all anderen aus dem Feld geschlagen (legendär – seine Geschichte, wonach er bei der allerersten Einladung gebetet hat, Lisa möge nicht mehr als ein Glas Wein trinken, für zweie habe er kein Geld gehabt – seine Ängste waren unnötig, Lisa hat immer nur ein Glas getrunken!).

In der Nacht (im Adler) müssen Leo Albträume gequält haben, er wirkte verwirrt und orientierungslos – seine Lebenszeitalter bedrängten ihn vermutlich in einem heillosen Durcheinander. Auf dem WC unterlief ihm ein Malheur; er war schwer zu beruhigen und fand kaum in einen heilsamen und beruhigenden Schlaf. Wohl wissend, dass er sich seiner Tochter in diesem Zustand nicht hätte zumuten können, bestand er wohl auf meiner Begleitung. Anderntags kehrten wir Ittendorf den Rücken. Unweit war aber ein fester Haltepunkt vorgesehen, der mich einigermaßen verwunderte. Zwar wusste ich aus Leos Erzählungen, dass er als Chefmessdiener eine mehr als fragwürdige Karriere absolviert hatte, dass er aber darauf drängte Station an der Birnau zu machen, gehört zu den nachhaltigsten Erinnerung an unsere Bodenseetour. Die Wallfahrtskirche Birnau ist eine an der oberschwäbischen Barockstraße gelegene Barockkirche. Die beeindruckt durch ihre barocke Ausstattung – vor allem mit Fresken, Stuckaturen und Skulpturen, deren bekannteste der sogenannte Honigschlecker ist; eine Putte, die recht verschmitzt dreinschaut und ihren honigbedeckten Finger zum Mund führt.

Leo führte mich zu diesem Wonneengel und zeigte auf ihn mit den Worten: „Das ist mein Schutzengel, der hat mir den Weg durchs Leben gewiesen und mich auf all meinen Wegen begleitet.“ Ich registrierte diesen Hinweis mit Humor und nahm ihn als eine typische Geste meines Schwiegervaters. Als er sich dann in eine Bank in die Nähe des Altars setzte und seinen Tränen freien Lauf ließ, wurde mir überdeutlich, wie ernst er dies wohl meinte und wie sehr ihm diese Begegnung als die Quersumme seines Lebens vorkommen musste. Heute würde man wohl von einem zentralen Skript oder einem beherrschenden Narrativ sprechen, in dem die Bilanz eines Lebens auf den Punkt kommt. Leo hatte seine Heimat verlassen müssen und hatte sich Heimat in der Fremde geschaffen. Die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend musste ihm final und irreversibel vorkommen; ein Abschied für alle Zeiten – und vor allem, Zeit sich auf den Heimweg zu machen

Die sechseinhalb Jahre, die ihm noch blieben, führten in das schon beschriebene tiefe Tal des (Selbst-)Vergessens (siehe Demenztagebuch). Um noch einmal an das zentrale Ausgangsmotiv anzuknüpfen: Wie ich lernte zu wollen, was ich soll – die Willensfreiheit in den nun kommenden sechseinhalb Jahren das zu tun, was ich tun würde, basierte immer auf der Idee des Anderskönnens (siehe dazu: Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt 2001, S. 430): Ich hätte auch anders handeln können. Ein zweites Moment beruhte auf der Idee, aus guten Gründen, nicht aber aus Zwängen zu handeln. Das dritte Moment ist mir heute am wichtigsten, insofern ich die Urheberschaft für mein Handeln beanspruche; selbst da noch, wo äußere Faktoren und Bedrängnisse mich unter Umständen eines Besseren hätten belehren können (siehe Kapitel 20a).

Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich unbedingt einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)

Ja, unsere Nachbarin auf dem Heyerberg. Von unserem Wintergarten sehe ich  das Wohn- und Arbeitszimmer meiner überübernächsten Nachbarn. Dort wohnt R.B.K. mit ihrem Lebensgefährten. Räumlich trennen uns nicht einmal einhundert Meter; ein Vierteljahrhundert liegt zwischen unserer aberwitzigen Romanze. Ich schreibe und arbeite ja in der Regel mit Blick auf den Heyerberg – ein neugieriges Plätzchen, von dem aus ich auf die steile Zufahrt zu den letzten Häusern schaue. Ein bis zweimal am Tag sehe ich jene Frau, wenn sie zur Arbeit fährt oder nach Hause zurückkehrt. Wir begegnen uns heute völlig unbefangen und haben zur gegebenen Zeit unseren Abschied voneinander genommen. Mir ist eine vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Hilfe Gunthard Webers für mich selbst schon 1998 gelungen; durch jene Intervention, die Gunthard im Rahmen einer Aufstellung mit mir erarbeitet hat; jene Intervention, die in meinen Brief an den Freund und an meine Frau auch die Perspektive für einen respektvollen Abschied voneinander hätte weisen können.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren begegneten sich zwei erwachsene Menschen in völlig unterschiedlichen Ausgangslagen. Da war zum einen ein Mittvierziger, seit 16 Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Drei Jahre zuvor war er vom Schuldienst in den Hochschuldienst versetzt worden und arbeitete als Akademischer Oberrat in der LehrerInnenausbildung. Im Lehramtsbereich – insbesondere für den Grundschulbereich konnte man getrost von Lehrerinnenausbildung sprechen; zwischen 80 und 90 Prozent aller Studierenden waren weiblich. Im Zuge der Versetzung häuften sich die Unkenrufe und seiner Frau wurden nahegelegt ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Hinter verdeckter Hand war die Rede von einem Richard-Gere-für-Arme. Und auf der anderen Seite war da eine Quereinsteigerin, die allein schon durch ihr fortgeschrittenes Alter auffiel; Mutter zweier nahezu erwachsener Söhne, lebenserfahren, polyglott und auf eine durchdringende bis geheimnisvolle Weise attraktiv - solche Zuschreibungen sind das folgerichtige Ergebnis einer verblendeten Wahrnehmung, wie sie vermutlich nur Verrückte und Verliebte – wo ist der Unterschied? – in die Welt zaubern.

1996/97 hatte sich mein Privatleben zu einer stillen, ins Chaos abdriftenden Veranstaltung entwickelt. Ich verlor jede Empfindung für eigenen Schmerz. Meine inneren Nöte und meine Orientierungslosigkeit fanden weder eine Sprache noch einen Spiegel. Was ich sollte, und was ich wollte, was ich konnte und was mir an Erwartungen vor Augen stand, umgab mich wie ein zäher, diffuser Nebel. Dieser Nebel und eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Weiter oben habe ich relativ hilflos darauf hingewiesen, dass mir auch 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, verbunden mit dem Tod meines Bruders, die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Es drängt sich einerseits die Selbstbildfacette einer gediegenen Hybris auf! Mir kommt die aufgeklebte Fassade eines omnipotenten, überheblichen Arschlochs in den Sinn, das auf der anderen Seite, nichts konnte, nichts zustande brachte, um mit seinen eigenen Bedrängnissen halbwegs angemessen und heilsam umzugehen. Es gab so Vieles, woran man seine eigene Überheblichkeit erproben konnte. Auf die Frage, ob ich mir eine Habilitation vorstellen könne, hatte ich im Vorfeld der Ereignisse um den 21. Juni 1994 selbstredend beim finalen Einstellungsgespräch mit einem klaren: „Ja, selbstverständlich!“ geantwortet.

Es verbietet sich – allemal aus meiner heutigen Perspektive mit Blick auf das Paar, dass wir darstellten – unmittelbar vor meinem Einstieg in die Achterbahn – von zwei eklatant füreinander ungeeigneten Menschen zu sprechen. Gleichwohl waren wir mit unseren jeweiligen Grundausstattungen nicht annähernd in der Lage, uns selbst und einander zu helfen. Und ich gehe bereits an dieser Stelle von der Hypothese aus, dass die überwiegende Zahl von Trennungen vollkommen unangemessen bliebe, verfügten die Trennungswilligen über die Grundausstattung, die mir erst drei Jahre Heidelberger Interventionskultur vermittelt hat.

So aber waren wir den Einflüssen und Dynamiken, die von 1994 an  unser Leben bestimmten, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Meine Frau war willfährige Projektionsfläche meiner ungelösten Klemmen, gewissermaßen Opfer wider meinen Willen, allein meinen Kindern begegnete ich mit blinder Liebe und maßloser Milde. Streit stand immer in Aussicht, und für meine grundaggressive Stimmung fand ich keine andere Adresse als die meiner Frau. Man kann so etwas tragisch nennen, weil die Weichen und Ausfahrten zu einer Kurskorrektur demjenigen verborgen bleiben, dem die Welt nur noch ein Nagel ist, auf den es einzuschlagen gilt. So funktionierte ich vordergründig betrachtet mit Blick auf die mir auferlegten Pflichten. All meine Bedürftigkeit und alle meine Zuwendungsfähigkeit pulsierten über meine Kinder. Jede Differenz, die es zuhauf gab, jedes Missverständnis, das zu ignorieren ich nicht willens war, befeuerte meinen Unwillen und meine Aversion. Wenn ich heute Fotos oder Filme ansehe aus diesem Zeitfenster inmitten der 90er Jahre, überkommen mich gleichermaßen Trauer und Scham – vielleicht auch ein völliges Unverständnis demjenigen gegenüber, der begann wie ein Berserker den privaten Raum umzupflügen.

George Steiner spricht von den Verrückten, die gleichzeitig der Gnade Gottes teilhaftig werden und die gleichzeitig bereit sind ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz auf’s Spiel zu setzen; die aber vor allem bereit und fähig sind, sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Ich habe hinzugefügt, dass sich diese Schmerzen, diese Kränkungen einschreiben in das Seelenpergament der Handelnden und Betroffenen gleichermaßen. Dies allein ist der Grund, warum ich nach einem Schuldenerlass gierte. Zehn Jahre später zeichnete sich am Horizont die kleine Chance ab, meine heillos überzogenen Konten auszugleichen und aus der abgrundtiefen Schuldenfalle zu entkommen. Dass mir dies umfänglich gelungen ist, vermittelt den fatalen Eindruck, ich sei doch nichts anderes als eine erbärmliche Krämerseele. Gleichwohl glaube ich nach all den Erfahrungen zutiefst, dass man Schulden zurückzahlen muss, dass man überzogene Konten ausgleichen muss. Den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, muss auch die eigene Seele, die eigene Haut ritzen und verletzen,  um überhaupt auch nur nachempfinden zu können, was man angerichtet hat auf dieser Welt und wofür man Verantwortung trägt. Es mag darüber hinaus mein Alter sein, das mich milde stimmt und unterdessen dem Verstand mehr Gewicht einräumt als dem Herzen – zumindest mit dem Blick auf das Paar, das wir heute noch sind. Völlig anders stellt sich das Schuldenkonto mit Blick auf die eigenen Kinder dar. Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos, meine Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos. Würde ich meinen Kindern etwas schulden, fände ich schlichte Lösungen. Die Schuld, die mir alleine gegenwärtig bleibt, liegt in dem, was Karl Otto Hondrich folgendermaßen zu bedenken gibt (Karl Otto Hondrichs „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“, erschienen 2004 in der edition suhrkamp, Band 2313 gehört zu meinen absoluten Schlüssellektüren). Ich danke Gott und den Umständen, dass ich 2004 nicht auf ein Geborgenheitsdesaster zurückblicken musste, sondern mit Hilfe meiner Frau und Gunthard Webers das genaue Gegenteil bis heute erfahren darf:

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchen, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben  (Hondrich 2004, 164)."

Was steckt denn eigentlich dahinter, wenn „zwei Menschen ihre Bindung auflösen“? Die Folgen können wir sehen. Viele bringen sich selbst um Geborgenheit! Ist es der freie Wille – eine freie Willensentscheidung – eine bestehende Bindung aufzulösen? Die einen sagen so, die anderen so. Unbedingte Willensfreiheit vermag selbst als Idee nicht  zu überzeugen. Geht man von bedingter Willensfreiheit aus, gewinnt man zumindest eine Vorstellung davon, dass jemand seinen Willen nach persönlichen Motiven und Neigungen ausrichtet und dann möglicherweise das tun kann, was er will. Eine darauf gründende Idee von Handlungsfreiheit muss dann aber immer noch konzedieren, dass sich Willensentscheidungen erst in der Abwägung konkurrierender Wünsche und Sehnsüchte herausbilden. Und wir geraten in eine kaum noch auflösbare Verstrickung, wenn wir weiterhin konzedieren, dass Willensentscheidungen eingebunden sind und abhängen sowohl von Persönlichkeitsattributen (Habitus – Haltung – Charakter - Wertorientierung) als auch zeitgeistbezogenen – eben auch sozial und kulturell geschuldeten äußeren Einflüssen.

Der Berserker, der da Anfang 1997 auf die Bühne tritt, vertrat tatsächlich um Ostern herum die Auffassung, er benötige einen Neustart und sein – und das Leben – aller könne eine Neuausrichtung finden, indem man ganz einfach die Reset-Taste betätige. Im Rückblick kann von einer freien Willensentscheidung noch nicht einmal im Entferntesten gesprochen werden. Und es ist hier nicht nur fair, sondern auch ein Gebot der selbstkritischen Besinnung einzugestehen, dass zuvorderst die als Ehesanierungsinstitut Erwählte diesen Zusammenhang sehr schnell begriffen hatte -  lange bevor der gefühlstaube und realitätsblinde Berserker dessen gewahr wurde! Wie es dennoch zu dieser unsäglichen Affäre kommen konnte? Alle Zutaten zu einer Soap ersten Ranges waren angerichtet:

  • Der männliche Hauptprotagonist hatte sich schlicht ganz für sich in eine tiefgreifende Krise hineingelebt. Das Rüstzeug für eine Bewältigung der komplexen Krise fehlte gänzlich. So sehr hier jemand jene berühmte incurvatio in se ipsum – die trauma- und schuldbedingte Einkrümmung in sich selbst – betrieb und befeuerte, so wenig vermochte er genau dies zu durchschauen und machte – mehr noch – sein soziales Umfeld zum Schlachtfeld der eigenen Katastrophe. Andererseits agierte da jemand auf einer Bühne, die der Selbstdarstellung und jeder Form des Narzissmus einen nahrhaften Humus bereitete. Auf dieser Bühne konnte man sich selbst (als Hochschullehrer) in feinst ziselierten Zeithäppchen inszenieren und dabei gänzlich absehen von allen katastrophalen Begleitchören, die im Verborgenen auf der Hinterbühne agierten.
  • Die weibliche Hauptprotagonistin, der ich hier nicht zu nahe treten möchte (das habe ich ja 1997 grenzüberschreitend getan), kam sowohl meinen narzisstischen als auch den in mir üppig ausgeprägten Kümmerer-Anteilen entgegen. Und: Nur wenige Jahre jünger als ich selbst verkörperte sie als reife, schöne, attraktive, welterfahrene, polyglotte Frau im Übermaß eine erotisierende Melange im Format einer kritischen Masse. Mein alter ego zehn Jahre später, der gute Freund, wird Worte wählen, die – cum grano salis – den Nagel auf den Kopf treffen: Ein guter Wein, der mit zunehmender Reife in seiner Geschmacksfülle und –tiefe immer noch attraktiver wird und ein Phänomen, bei dem man leicht das Wasser unter dem Kiel verlieren kann!

In der Mixtur perfider Verführungsszenarien ausreichend vorgebildet, spielte mir der Zufall eine Karte in die Hände, die ich bereit war tatsächlich bedenkenlos zu spielen. Was ich in den folgenden Zeilen berichte, widerspricht jeglicher Professionalität und hätte mich seinerzeit –schon zu Beginn meiner akademischen Laufbahn – bereits nachhaltig disqualifiziert. Nebenbei bemerkt bietet vermutlich kein zweiter Ort in so vorzüglicher Weise die Bühne für theatralische Inszenierungen und Selbsthysterisierungen wie die Universität. Dietrich Schwanitz hat entsprechende Zutaten in seinem Schlüsselroman Campus in Szene gesetzt .

Profession und Professionalität sind nicht das gleiche. Den ersten Akt der nun folgenden Tragikomödie inszenierte ich mit Hilfe eines guten Freundes. Eine eher beiläufige Bemerkung, mir sei da eine studentische Quereinsteigerin aufgefallen, die lange im Ausland gelebt habe, Mutter zweier Söhne sei und in Scheidung lebe, führte bei ihm zu der unverzüglichen Namensnennung der so spärlich attribuierten Person. Er kenne die sehr gut. Bei nächster Gelegenheit brachte er mir ein Kinderfoto mit, auf dem er einem etwa gleichaltrigen Mädchen einen Kuss auf die Wange gab. Einigermaßen verblüfft bat ich ihn um Verwendung des Fotos in noch unklarer Form. Das Wintersemester 1996/97 neigte sich dem Ende zu. In einem Abschlussseminar ließ ich gegen Ende das Foto umlaufen mit dem Hinweis, wer sich auf dem Foto wiedererkenne, sei zu einem Kaffee in die Vorhölle (der Name der Studentenkneipe auf dem Campus Oberwerth) eingeladen. Die Höllenfahrt, die damit für das nächste halbe Jahr eingeleitet wurde, begann sanft und unter dem überstrapazierten Motto: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

In den folgenden spärlichen Schilderungen verenge ich die Perspektive extrem auf meinen eigenen beschränkten Blickwinkel. Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen. Dazu ein kleiner Ausflug in eine mir fremde, aber zunehmend vertrauter werdende Weltsicht:

Die ersten fünf Bücher, die in meiner Verantwortung veröffentlich worden sind, hat ein Freund lay-outet, der mir – vor allem auch nach Kopfschmerzen und Herzflimmern sowie der Mohnfrau – die Frage gestellt hat, wie man denn so leben  und denken könne. Auf die Gegenfrage, wie es denn anders ginge, hat er geantwortet: Herzensfragen, wenn sie erotisch aufgeladen sind, entscheidet man ausschließlich mit dem Kopf! Das hat mich seinerzeit verblüfft. Heute habe ich mir mit der partiellen Umkehrung der Pascalschen Devise, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, eine weitaus pragmatischere und lebenstauglichere Haltung zu eigen gemacht.

Was sich jedenfalls vom Februar bis in den Juni 1997 in mir und um mich herum zugetragen hat, das ist gewiss kein Heldenstück, und es taugt auch nicht zur Romanze, sondern es reicht schlicht an die Grenze des Erträglichen. Das Ergebnis spiegelt sich in den Monaten Juni, Juli, August und September wider, die ich meinen ganz persönlichen Knast nenne. Dem voraus ging im Februar bis hinein in den Mai der Höhenflug, der zu einem Blindflug mutierte. Als ich der Sonne zu nahe kam, erfolgte der Absturz in einer Weise, wie sie nur griechische Tragödienstoffe aufzubereiten vermögen.

Nur so ist im Übrigen auch Ich danke Euch für diese Nacht zu verstehen – zehn Jahre später entstanden, als ich in der Rolle des mörderischen Beobachters mich all der süßen und bitteren Erfahrungen entsinnen konnte, die ich ja selbst am eigenen Leib erfahren hatte.

All die Verrücktheiten und Zumutungen, die mit meinem zuerst berserkerhaften und zuletzt in Agonie versiegenden Agieren verbunden waren – so bin ich heute noch der Überzeugung – müsste sich ein versierter Schriftsteller ausdenken; er müsste sie erfinden, denn ich sehe mich außerstande, sie hier aufzuschreiben. Für mich ist es  im Nachhinein keine Frage, dass mir die Fremdbeobachtung ungleich leichter fällt als die schonungslose Selbstbeobachtung. Darin liegt die große Schwäche meiner Aufzeichnungen, die ich erst dort wieder konkretisiere, wo sich die Wende andeutet und schließlich auch ereignet:

Der Zufall wollte es, dass jene Wohnung in der Teichstraße, in der wir 1979 unseren Hausstand begründet hatten, 1997 im Sommer einen Leerstand aufwies. Ostern bin ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, weil Claudia (zu Recht) darauf bestand. Wie ein Dieb habe ich mich schon da aus dem Haus geschlichen – durch ein Seitenfenster im Souterrain. Jedes Buch, selbst jeder Bleistift hatte plötzlich das zehnfache an Gewicht. Zum Schluss standen in der Teichstraße ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Warmwasserbereiter, ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Telefon. Gegessen habe ich in der Mensa.

Hier erfolgten nach griechischen Maßstäben Peripetie und Katharsis – man kann von einem Wendepunkt im Wendepunktgeschehen sprechen. Dafür gibt es im Übrigen eine Zeugin – weit entfernt in Kempten, eine enge Freundin meines verstorbenen Bruders aus seiner Ausbildungszeit am Brüderkrankenhaus in Koblenz Mitte der siebziger Jahre. Jene Claudia aus Kempten hat mir in mehreren langen nächtlichen Telefongesprächen den Kopf und die Seele gewaschen. Über meine suizidalen Phantasien seinerzeit - im Knast -  habe ich bis heute mit niemandem gesprochen (Gunthard Weber gegenüber und dem Teilnehmerkreis bei der IGST - im Frühjahr 1998 - habe ich mich geöffnet). In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder. Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie war. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – er – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen. Die Ahnung wurde zur Gewissheit, dass mit der nächsten Frau nichts besser würde – im Gegenteil. Allein das Leben der geschiedenen Mutter, der ich da begegnete, führte mir vor Augen, worum es eigentlich ging. George Steiners Botschaft/Mahnung, dass es nicht Gründe sind, die das Herz bevölkern, gewann Einfluss, lange bevor sie mich in den letzten Monaten erreichte: „Es sind Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sind.“

Ich habe mehrfach auf den Zeithaufen von nahezu 380.000 Stunden hingewiesen, der sich hinter 42 Jahren auftürmt (gemeint sind die 42 Jahre unseres gemeinsamen Weges). Ein Leben muss gelebt werden, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und Stunde für Stunde. Wenn Assimilation an Grenzen stößt, dann müssen wir neu lernen; und lernen funktioniert nicht mit der Reset-Taste. Alles nur schlicht auf Anfang zu setzen, reicht nicht hin.

Claudia agierte souverän und besonnen. Sie fixierte schriftlich den Minimalkatalog an Pflichten, die sich aus unserer gemeinsamen Verantwortung vor allem für die Kinder ergaben. So riss der Kontakt nie wirklich ab. Ich erinnere mich noch, wie wir im Pühlchen abends Inliner gefahren sind. Die trüben Schleier, die eine neue Liebe über die alte Liebe deckt, verzogen sich nach und nach. Wir aßen wieder häufiger gemeinsam zu Abend, bevor ich mich in die Teichstraße zurückzog. Über Wochen und Monate näherten wir uns zaghaft wieder an. Meine einsamen Nächte vermittelten mir auf untrügliche Weise, dass ich der Hilfe bedurfte. Dies registrierte auch mein Umfeld. Meine Freundschaft mit Reinhard Voß geht in das Jahr 1996 zurück. Unmittelbar nach Antritt seiner Professur auf dem Uni-Campus Koblenz fanden wir zueinander – eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Er vermittelte den Kontakt nach Heidelberg zur IGST. Gemeinsam mit Rudi Krawitz – seinerzeit Leiter des Instituts, an dem ich arbeitete – legte er den Grundstein für meine dreijährige Weiterbildung zum Familientherapeuten. Als ich die ersten Schritte auf dem Weg dorthin beschritt – zuerst durch einen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber im Frühjahr 1998 – hatte sich das Desaster meiner Affäre verlagert. Mir war unmittelbar klar, dass es hier nicht um Ausbildung, sondern, schlicht um meine ganz persönliche Therapie ging. Und natürlich hatte ich meinen maßgelbichen Anteil an dieser aberwitzigen AffäreAffären in der Lebensmitte drängen zumeist irgendwann auf Entscheidung. Erst mit der Vorstellung, aus dieser Affäre tatsächlich eine neue Lebensperspektive abzuleiten, baute sich vor mir die Betonmauer auf, gegen die ich seit Wochen anrannte. Ich war dabei mir das Hirn aus dem Schädel zu rammen. Und die Schmerzen drangen nach und nach in jene Regionen vor, in denen Herz und Seele beheimatet sind. Zum Schluss war es eine Form von Panik und Angstattacken, und ich kam den Erkenntnisschüben nicht mehr hinterher.

Auch im Rückblick überwiegt die Melange aus Schuld und Scham; Schuldgefühle einerseits Claudia gegenüber, Schuldgefühle aber auch R. gegenüber, deren Rolle im klassischen Dreieck mir mehr und mehr deutlich wurde. Scham verspürte ich meinen Kindern gegenüber – genauso, wie sie von Karl Otto Hondrich weiter oben so eindrücklich begründet wird.

Aber erst der Weg nach Heidelberg zur IGST führte zu einer nachhaltigen Durchdringung des angerichteten Chaos, dass nur noch Verlierer zu produzieren schien. Im März 1998 besuchte ich den einwöchigen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber. Gunthard Weber hatte fünf Jahre zuvor Zweierlei Glück publiziert und damit die systemische Psychotherapie Bert Hellingers einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ich werde mich auch hier zunächst einmal beschränken – auf’s Wesentliche:

In der Einleitung zu Zweierlei Glück schreibt Gunthard: „Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte.“

Nach dem Einführungskurs – eine intensive Aufstellungswoche in Wiesloch – absolvierte ich auch das erste Jahr bei Gunthard Weber, bevor ich dann das zweite Jahr bei Uli Clement und das dritte Ausbildungsjahr bei Andrea Ebecke-Nohlen besuchte. Bereits der Vorbereitungskurs veränderte alles! Der Blick auf Familiensysteme und die wertschätzende Herangehensweise an die unterschiedlichsten Familiendynamiken begann die mächtigen Blockaden aufzulösen, die schlicht aus einem nicht vorhandenen Abstand zu den eigenen Bedrängnissen und Nöten herrührten. Gunthard schreibt über Bert Hellingers Art:

„Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfaßt, weil er bei jedem einzelnen Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.“

Dies ist eine treffliche Selbstcharakterisierung mit Blick auf Gunthard Weber. So und nicht ein Jota anders habe ich ihn in seiner Aufstellungsarbeit erlebt. Man lernt in einer intensiven Woche zuvorderst Geduld, Selbstdisziplin, gewiss auch eine Ahnung von der Luhmannschen Haltung der sogenannten Selbstdesinteressierung. Als Stellvertreter in Aufstellungen zu agieren, heißt von sich selbst abzusehen und dennoch den Impulsen zu folgen, die sich aus der Ausgangslage und der Dynamik einer Aufstellung ergeben. Jeder der Teilnehmer hatte im Laufe der Woche Gelegenheit seine Herkunfts- und seine Gegenwartsfamilie zu stellen. Die Teilnahme an über dreißig Aufstellungen stellte eine außerordentliche Herausforderung dar. Die emotionale Beanspruchung war enorm. Die Wochen nach diesem Auftakt waren gleichermaßen geprägt von einer radikalen Konfrontation mit der eigenen Geschichte wie von nachhaltiger Durchlüftung eines moralinsauren Klimas.

Es gab zwei entscheidende Schlüsselerfahrungen in meinen Aufstellungen. Wenn Hellinger/Weber zum einen die Unausweichlichkeit im Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit betonen und zum anderen Fragen der Zugehörigkeit, der Bindungsliebe und des Gelingens und Scheiterns von Beziehungen in den Vordergrund stellen, lässt sich leicht erahnen, welche Schlüsselmomente in meinen Aufstellungen zum Tragen kamen:

  • Von enormer emotionaler Bewegung war der Abschied von meinem Bruder Willi geprägt. Als Beobachter – außerhalb des Aufstellungsgeschehens – wurde ich mit dem Weg meines Bruders konfrontiert. Dass mein Bruder final aus dem Feld geht – den Lebenden, die er zurücklässt, den Rücken zugewandt – löste im Feld selbst und auch bei mir einen solch gewaltigen akuten Schmerz aus, als vergegenwärtige sich das Geschehen mit einem Mal erneut. Die lösenden Sätze berührten zwei Felder intensiv: Die Verantwortung innerhalb der Familie, die mir zufiel einerseits und die Bindung, die zwischen uns Bestand hatte andererseits. Mich schließlich sagen zu hören: „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch!“ berührte mich so, wie es mich gleichzeitig schockierte und schließlich als memento mori tief in mir verankerte.
  • In einer Aufstellungsdynamik theoretische Begriffe wie Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit in konkrete Hinbewegungen übersetzt zu sehen, zu erleben, wie Stellvertreter alternative Beziehungsformationen ertasten; schließlich zu sehen, was es bedeutet, die neue – die fremde – Frau in diesem Feld agieren zu sehen, konkret an ihrer Seite zu stehen, deiner Frau und deinen Kindern gegenüber, brachte schlagartig die Absurdität zum Vorschein, die mit dieser Alternative verbunden war. An den richtigen Platz zu rücken, erschien wie eine Erlösung nach einem Leben in der Diaspora. Verbunden mit diesen Auslotungen war schließlich eine Intervention, die meinem gesamten künftigen Leben eine entscheidende Wende vermittelte. Es folgte jenes Ritual, das ich so gerne zehn Jahre später den Venusmenschen - meiner Frau und dem guten Freund - nahegebracht hätte und das mich in meinem künftigen Leben wie ein Schutzmantra begleitet:

Gunthard Weber bot – ähnlich wie Bert Hellinger – als Lösung für Verstrickte in ausweglosen Dreiecksbeziehungen eine Intervention an, die mich der Geliebten gegenüber in eine neue, lösende Position brachte. Sie legt nahe, dass man sich der Trauer überlässt, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei Trennungen ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Sowohl Gunthard Weber als auch Bert Hellinger betonen, dass man Aufzeichnungen zu Aufstellungen nicht dazu hernehmen kann, sich sozusagen Wissen anzueignen. Die Arbeit und die Aussicht auf Lösungen ergeben sich aus der konkreten Aufstellungsarbeit. Mit Blick auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Rezepturen hat Hellinger wohl einmal geäußert: „Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.“ Im Rückblick auf mein destruktives Driften seit 1994 kann ich eine weitere Metapher Hellingers heranziehen, insofern sie meine Situation bis zur Aufstellungswoche recht präzise beschreibt:

„Man tappt im Dunkeln, tastet die Wände entlang, bis man eine Tür findet. Kommt eine ‚Lichtung‘, sucht man das, wovon man erleuchtet wird, in einem vollen Wort zu sagen… Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß wieso.“

Wer so sehr geprägt war und ist von einer traumatisierenden Trennung in frühen Jahren, und wer – dennoch – mitten im Leben, aus der Familie heraus alles tut, diese Familie in Schutt und Asche zu legen, der geht im besten Fall geläutert aus diesen Irrungen und Wirrungen hervor. Unter den vollkommen veränderten Vorzeichen suchte ich behutsam den Kontakt zu R., die sich früh – so erfahren sie war – und in nachvollziehbarer Wut und Enttäuschung zu verwahren suchte als Ehesanierungshilfe missbraucht zu werden. Es hat eine Reihe von Treffen gegeben, über die es tatsächlich gelungen ist, sowohl die Hitze als auch die Wut zu besänftigen. Man mag zweifeln an der Richtigkeit und Angemessenheit meiner Vorgehensweise. Tatsache war hingegen, dass die überschaubare Bühne unserer kleinen Universität keine andere Wahl ließ, als meine Rolle in dieser maßgeblich auch von mir zu verantwortenden Affäre zu klären. Dass es gelungen ist, lag an der in Heidelberg gewonnen Grundhaltung auf das Geschehene sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Demut zurückzublicken. So wie wir beide jeweils unseren Anteil daran hatten, so ist es uns auch gelungen die Tür zu finden, durch die wir gemeinsam gehen konnten, um danach unserer Wege zu gehen.

Am Ende des vorausgegangenen Kapitels sowie zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass R. heute unsere Nachbarin ist. Geblieben ist gegenseitige Wertschätzung und Achtung. Ich sage das heute mit einem gewissen Stolz und einer satten Genugtuung. Zweifellos hängt diese Bewertung auch damit zusammen, dass es mir 2001 gelungen ist, mit meiner ersten langjährigen Lebensgefährtin endlich jenen Frieden zu finden, den wir uns über zwanzig Jahre nicht gestattet haben.

   
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