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Apologie des Zufälligen - Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl

Basislektüre vor allem auch für alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer

Beim Wiederlesen fiel mir auf, wie sehr doch Reinhold Niebuhrs Aphorismus einen Lernprozess erfordert, der unsere Einstellung zum Leben fundamental prägt:

"Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."

Weil es keine schriftliche Fassung der Freiburger Vorträge (1999) zum Gedenken an Niklas Luhmanns Tod (1998) gab, habe ich sie aus Not und Interesse selbst transkribiert (Komm in den totgesagten Park und schau - Ich sehe was, was du nicht siehst, S. 371-430). 2010 hat sich Wolfram Burckhardt als Herausgeber der "Luhmann Lektüren" (Kulturverlag Kadmos Berlin) verdient gemacht. Eine Textstelle aus Peter Sloterdijks Vortrag fällt mir aus gegebenem Anlass spontan ein. Sloterdijk argumentiert, dass von augustinischen Tagen an die christliche Anthropologie von einer gravierenden Tendenz zur Überkulpabilisierung gezeichnet sei. Und in der Folge:

"Wenn man neben all den bekannten Gründen für die Loslösung der Moderne von der alteuropäischen Tradition einen weniger beachteten und doch sehr triftigen angeben sollte, so läge er ohne Zweifel in dem Umstand, dass die seit dem 18. Jahrhundert sich selbst so nennende Aufklärung ein permanentens Referendum zur Dekulpabilisierung des Menschen angestrengt hat - oder doch zumindest so etwas wie eine generationenübergreifende Unterschriftensammlung initiiert hat, die auf eine neue Abstimmung über die menschliche Fundamentalschuld hinarbeitet, eine Sammlung, die wir inzwischen als die moralkritische Bibliothek der Moderne überblicken - mit Beiträgen, die von Montaigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann reichen. Es sei en passant notiert, dass es Odo Marquard ist, der die Logik dieser Sammlung formuliert hat (Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981)."

Odo Marquard steht schon lange auf meiner Leseliste. Odo Marquard würde sagen, das Beliebigkeitszufällige hat heute morgen dafür gesorgt, dass mir seine Philosophischen Essays als 2015 neu aufgelegtes und erweitertes Reclambändchen unter dem Titel "Zukunft braucht Herkunft" in der Buchhandlung Reuffel in die Hände gefallen sind. Henning Mankells "Treibsand" hatte aus gegebenem Anlass Priorität. Auf ihn - Mankell - bezieht sich einer meiner letzten Beiträge (Hamed Abdel-Samads Islamischer Faschismus - Droemer-Tachenbuch-September 2015 - steht ebenfalls ganz oben auf der Leseliste).

Von den 17 Essays Marquards interessiert mich zuvorderst die "Apologie des Zufälligen" und darin vor allen der dritte Abschnitt "Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl". Odo Marquart geht in seiner Ausgangsthese geht davon aus,

dass es ein Zeichen mangelnder Freiheit wäre, wenn der Mensch unwürdig über seine Verhältnisse lebte: "über die Verhältnisse seiner Endlichkeit. Will er das nicht, so muss er das Zufällige anerkennen: durch Apologie des Zufälligen (146)."

Eine wesentliche Unterscheidung erweitert bei Odo Marquardt den aus der christlichen Schöpfungstheologie kommenden Endlichkeitsbegriff des Zufälligen (Kontingenten):

"Entweder nämlich ist das Zufällige 'das, was auch anders sein könnte' und durch uns änderbar ist (z.B. kann man Wurst essen oder es lassen und statt dessen Käse essen, und dieser Vortrag könnte ihnen auch Wurst sein, weil er Käse ist, oder er könnt auch gar nicht oder oder auch anders gehalten werden)."

Dieses Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige.

"Oder das Zufällige 'ist das, was auch anders sein könnte' und gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.)." So geht Marquard davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Zur Philosophie Odo Marquardt gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre:

"Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (158)."

Hildes Geschichte ist eine solche Erzählung. Ihr Drehbuch wird vom Schicksalszufälligen entscheidend geprägt und ihre Partitur ist eine Mischung zwischen Sphärenklängen und nicht enden wollender Kakophonie. Und Odo Marquard betont - ebenso wie Niklas Luhmann in seiner "Lebenslauftheorie" -, dass dies bereits mit unserer Geburt beginne. Man kann sich dies auch - darauf weist Odo Marquard hin - auf einer Stufe der dritten Ironie mit viel Humor klarmachen: "Dass die Geburt ein Schicksalszufall ist, beleuchtet Alfred Polgars Kommentar zu Silen: 'Das Beste ist es, nicht geboren zu sein: doch wem passiert das schon?'" Summasumarum wird der kontingenzgeschwängerte starting-point durch jenen Zufall komplettiert, den Marquard als den schicksalhaftesten bezeichnet - falls man ihn nicht als den Trost betrachte, endlos weiterturnen zu müssen:

"Wir sind - aus Schicksalszufall - durch Geburt zum Tode verurteilt, d.h. zu jener Lebenskürze, die uns nicht die Zeit lässt, uns aus dem, was wir zufällig schon sind, in beliebigem Umfang davonzumachen; unsere Sterblichkeit zwingt uns, jener Schicksalszufall, der für uns unsere Vergangenheit ist, zu 'sein', d.h. überwiegend zu bleiben. Zu dieser Vergangenheit gehören - entscheidend und wesentlich - jene Zufälle, die unsere Üblichkeiten sind, die wir nicht erst wählen, sondern in denen wir stecken. Sie könnten ganz andere sein, aber wir - vita brevis - können sie überwiegend nicht ändern. Es ist ja nicht so, dass wir sie erst sozusagen aussuchen müssten, sondern wir haben sie stets schon und können sie - und brauchen sie - überwiegend nicht loswerden: sie sind Schicksalszufälle...(158f.)."

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dieser Aphorismus von Reinhold Niebuhr drückt die Klemme aus, die für viele entsteht, wenn Marquard behauptet, unsere Üblichkeiten seien stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl, und vor allem seien sie nicht beliebigkeitszufällig, sondern schicksalszufällig.

Höchst interessant erscheinen mir die Deutungen Odo Marquards in der Auseinandersetzung von Menschen sowohl mit dem Beliebigkeitszufälligen (Kunst) als auch mit dem Schicksalszufälligen (Religion):

"Sicher gehört zum Umgang mit dem Beliebigkeitszufälligen die Kunst: die Beliebigkeitsersparung durch Form; und sicher gehört zum Umgang mit dem Schicksalszufälligen die Religion: die Verwandlung von Grenzsituationen in Routinen. Beide - Kunst und Religion - sind Kontingenzbewältigungsversuche; jene - die Kunst - bewältigt (vielleicht) Beliebigkeitskontingenz; diese - die Religion - bewältigt (vielleicht) Schicksalskontingenz (159)."

Odo Marquard attakiert in der Folge die (Mainstream-)Philosophie, indem er ihr vorhält, dass sie über dem Beliebigkeitszufälligen das Schicksalszufällige vergessen habe - eben, um leicht mit dem Zufälligen fertig zu werden und es leicht "entfernen" zu können. Er sensibilisert für eine weitere Unterscheidung, indem er darauf hinweist, dass es eine wesentliche Modifikation des Blickes auf das Zufällige gebe, die mit der Alterslage zusammenhänge:

Die Angst vor der Beliebigkeit sei eine optische Täuschung der Jugend, die nur andauere weil mit Malraux gelte, "dass es keinen Menschen gibt, der erwachsen wäre:

"Die Erfahrung des Überwiegens und der Lebensbedeutsamkeit jener Zufälle, die uns prägen, obwohl sie gerade nicht in unserem Belieben stehen (also nicht der Beliebigkeitszufälle, sondern der Schicksalszufälle), ist eine Alterserfahrung, die man schon früh im Leben machen kann, weil ebenso gilt: jeder - auch der jüngste - Mensch ist schon alt, d.h. so nah dem Tode, dass er jedenfalls nicht die Zeit hat, die Zufälligkeit der Zufälle, aus denen sein Leben besteht, in nennenswerter Weise zu löschen (160)."

Daraus folgt für Marquard - und auch einen im Alter vorgerückten Leser seiner Überlegungen:

"Wir können unser Leben und seine Wirklichkeit auch niemals überhaupt in wesentlicher Weise wählen oder gar absolut wählen, so dass es auch und vor allem im Sinne des Schicksalszufälligen zufällig bleibt. Wir kommen mehr als durch Wahl - also über Pläne - durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht - wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will - ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine misslungene Absolutheit, sondern - sterblichkeitsbedingt - unsere geschichtliche Normalität. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle, ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl, und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich. Eine Philosophie, die - skeptisch - diese Untilgbarkeit des Zufälligen geltend macht, ist, insofern, die Apologie des Zufälligen (160f.)."

Ein weiter Weg von der jugendgeschwängerten Philosophie eines Jean-Paul Sartre mit der Absolutsetzung des Menschen hin zu einer kontingenzgewärtigen Grundhaltung, die zur Bescheidenheit und zur Begrenzung einlädt und nötigt. Nur ein kleiner Schritt hingegen von der Luhmannschen Lektion hin zur Apologie des Zufälligen!

Im Vorwort betont Odo Marquard, dass es sich bei der Zusammenstellung der Texte um philosophische Essays handele. Ihr Verfasser verstehe sich als endlichkeitsphilosophischer Skeptiker; als solcher allerdings sei er "Modernitätstraditionalist" - der liberalen bürgerlichen Welt verbunden, zu der es keine historisch erreichbare Alternative gebe, die für uns wünschenswert wäre. Sie sei mehr Nichtkrise als Krise. Hierüber und seine folgende Definition von "konservativ" würde ich gerne einmal mit meinem Neffen, Michael, diskutieren. Denn Odo Marquards Definition von "konservativ" erscheint mir gleichermaßen bemerkenswert wie speziell:

"'Konservativ' ist dabei ein ganz und gar umemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob der Zahn, die Niere oder der Darm herausmüsse oder ob 'konservativ' behandelt werden könne. Lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles. Es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung, denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden; und wer es trotzdem versucht, wird töten. Darum gilt: die Beweislast hat der, der von der konservativen Behandlung abweicht, also der Veränderer. Und darum gilt als - sterblichkeitsbedingte - Regel des konservativen Skeptikers: mehr als die Herkunft Zukunft benötigt, braucht die Zukunft Herkunft. Das führte zum Titel des Buches (8f.)."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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