Wer erzählt, der überlebt!
Ein Beitrag von Werner Siefer in der ZEIT (52/2015, S. 43), der weiß, dass Menschen doch ihre Geschichten sind!
Ein Beitrag über den "allgegenwärtigen Drang der Menschen, Geschichten weiterzureichen" - ein Drang mit langer Tradition und mit Sinn, wie Werner Siefer meint. Einen Tag vor dem Heiligen Abend bezieht er sich natürlich auf die Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas: "Die Gläubigen wollen sich vergewissern, dass es diesen Jesus gab, woher er kam und wie das alles begann."
Lukas - so Siefer - habe dabei den Vorzug, eine richtig gute Story zu erzählen. Und da die Menschen Geschichten liebten, sei seine Geschichte bis heute in aller Munde. Mit Roland Barthes stellt er fest, dass die Menge der Erzählungen unüberschaubar sei und vor allem dass es nirgends jemals ein Volk gibt oder gab - ohne Erzählung. So tauft der amerikanische Philosoph Walter Fisher den Homo sapiens in Homo narrans um, während der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre im Menschen gar das erzählende Tier sehe, ein "storytelling animal". So weit so gut.
Werner Siefer tastet sich darüber hinaus zum Erzählen als einer anthropologischen Konstante vor und fragt: "Ist der Erzähldrang bloß ein Produkt unserer Kultur, oder gehört er zu unserer Natur? Kurz zusammengefasst hält er folgende Thesen und Narrative bereit:
- Mit dem bereits erwähnten Walter Fisher vertritt er die Auffassung, dass Menschen sich selbst und ihre Umwelt weniger durch die Anwendung von Vernunft oder vorurteilsfreie Beobachtung erführen als vielmehr durch das Erzählen glaubhafter Geschichten. Paläoanthropologen gingen davon aus, dass sich in der Konkurrenz der Menschenarten, die durchgesetzt hätten, die im Durcheinander der Lebensverhältnisse (evolutionär) den Überblick behalten hätten. Dies sei allerdings ohne ein besonderes Werkzeug unmöglich gewesen: die Sprache: "Wer gut reden konnte, hatte einen Überlebensvorteil. Bald wurde Erzählen zum Bedürfnis wie sonst nur das nach Essen, Schlafen, Sex oder nach Gesellschaft."
- Den Nachweis für die tiefschürfige Verankerung des "Erzählinstinkts" belegt Werner Siefer u.a. mit einem Experiment von Fritz Heider und Marianne Simmel aus den vierziger Jahren: "Die österreichischen Psychologen zeigten ihren Versuchspersonen in einer kleinen Animation drei sich bewegende Körper - ein großes Dreieck, ein kleines Dreieck und einen kleinen Kreis. Nachdem die Probanden eine Zeit lang beobachtet hatten, sollten sie die Animation beschreiben. Und prompt erzählten sie Geschichten, als hätten sie eine Interaktion selbstständig handelnder Wesen gesehen. Aus den Dreiecken wurden Männer im Streit um den Kreis, also eine Frau. Die Aussagen lassen sich grob so zusammenfassen: Das große Dreieck bedrohte das ängstliche kleine Dreieck, die beide um die Aufmerksamkeit des Kreises konkurrierten - der Beziehungsklassiker Eifersucht."
- Der menschliche Geist - so die Schlussfolgerung von Werner Siefer im Anschluss an Heider und Simmel - erschaffe offenbar Leben, wo keines ist; einhergehend mit der Unterstellung von Absichten und Intentionen. Er knüpfe Bezüge - als besäße er einen göttlichen Odem! Werner Siefer zitiert den amerikanischen Philosophen Daniel Dennett, der von einer "intentionalen Grundhaltung des Menschen" ausgehe: "Immer und überall wirkt der Drang, Absichten und einen Willen zu erkennen."
Evolutionär sei dies sowohl vertretbar wie plausibel. Die Beobachtung der anderen erscheint überlebensnotwendig, denn schließlich beträfen uns die Wünsche, der Zorn oder die Angst realer Personen ganz unmittelbar. Erzählen sei also nichts anderes, als Schauspieler mit innerem Antrieb auf die Bühne des eigenen Bewusstseins zu stellen.
Anfang und Ende, Niederlage, Flucht, Aufbruch und Erlösung - das, so Werner Siefer, seien die Motive fast aller großen Erzählungen. Und hier beginnt auch mein Dank an Werner Siefer für die kompakte Darstellung eines offenkundig menschlichen Urantriebs, der mich seit einigen Jahren - ja man könnte sagen - nahezu manisch erfasst hat. Denn in der Folge beschäftigt sich Werner Siefer mit einer gleichermaßen faszinierenden, wie oft genug auch konsternierenden Perspektive:
- Die Erzählung vermittele und versöhne. Sie werde berichtet, um zu klären, wie es um das Verhältnis zwischen dem Kanon und dessen Bruch, zwischen dem Alltag und Ausscheren daraus bestellt sei. Sie sei das wichtigste Instrument, um Abweichungen vom Kanon zu verhandeln. Sie konfrontiere den Einzelnen mit seiner Kultur und seinen Konventionen.
Werner Siefer zitiert an dieser Stelle den Erzählforscher Jérome Bruner (Initiator der Kognitiven Wende in der Lernpsychologie). Er liefert mir persönlich natürlich das Urmotiv für "Hildes Geschichte", indem ich genau diese Brüche bis hinein in mein eigenes gegenwärtiges Erleben verspüre. Mir selbst wird bewusst, wie die "großen Narrative menschlichen Denkens" auch mein eigenes Denken und Schreiben beherrschen: "Die Mutter oder Weiblichkeit", "der Held auf seinem gefährlichen Weg", "das Aufgehen in der Gemeinschaft".
Und zum Abschluss noch ein wenig psychohygienische Einordnung des Ganzen mit verlockenden Aussichten:
- Auch für das Individumm - so Werner Siefer - könne das Narrativ der Erlösung eine enorme Strahlkraft entwickeln. Es könne helfen, große Schwierigkeiten zu überwinden. Ärzte und Psychotherapeuten hätten dieses Potential längst erkannt: "Wer schlimme Episoden erzählerisch verarbeitet, empfindet weniger Schmerz, nimmt weniger Arzneimittel ein und weist ein geringeres Risiko für Depressionen auf." Nein, ich zitiere weiter, weil einer der profiliertesten Erzählforscher inzwischen nicht mehr belächelt wird: "Das fand der Psychologe James Pennebaker von der University of Texas in Austin heraus. Wie kaum ein anderer hat sich Pennebaker mit Erzählwirkungsforschung beschäftigt und wurde anfangs dafür belächelt. Doch er fand harte Belege für die Wirkung von Erzähltherapien. Zum Beispiel verbesserten sich die Immunwerte, insbesondere die Zahl der T-Helfer-Zellen im Blut stieg an."
Wenn das keine Ermunterungen sind! Und mehr noch werde das Wohlbefinden des Einzelnen offenbar unmittelbar dadurch beeinflusst, wie (viel) er erzähle. Ohne jeglichen Anflug von Ironie oder auch Resignation greife ich einen Kerngedanken aus Siefers Beitrag auf und würdige ihn mit folgendem abschließenden Zitat:
"Das ist entscheidend für das Ende. Geschichten befördern die Versöhnung, den persönlichen Abschluss mit Ärger. Die Bewertung am Schluss einer Geschichte machte (in Pennebakers Studie) quälenden Grübeleien ein Ende und der Wiederkehr immer gleicher negativer Gedankenkreise: Dies Happy End ist selbst wieder eine Erlösungsgeschichte: Mag die Vergangenheit unangenehm bleiben, der erzählende Mensch kommt zur Ruhe."
Ich schreibe mich hineine in eine Haltung der Gelassenheit und der Ruhe mit diesem BLOG und vor allem miit:
und gegenwärtig vor allem mit dem endlich auf den Weg gebrachten