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 Ein paartherapeutisches Husarenstück - Ein Nullsummenspiel (20b) 

Zu diesem Gedicht entstand ein Text, mit dem ich unserer gemeinsamen Geschichte eine Wende geben wollte. Der 28./29.2.2008 markiert einen Wendepunkt, an dem sich mit aller Deutlichkeit ein Vorher und ein Nachher scheiden lassen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das Motiv für das gegenwärtige Unterfangen, die Ereignisse aus den Jahren 2007/08 und auch darüber hinausgehend vor allem bis 2012 bzw. 2014 noch einmal durch eine analytische Brille betrachten zu wollen – sine ira et studio – sich primär aus dem Umstand nährt, dass uns keine wirklich erfolgreiche Anknüpfung gelungen ist. Mein Vorsprung in der Einschätzung solcher Dynamiken resultierte ja aus meiner eigenen desaströsen Dreiecksgeschichte aus dem Jahr 1997. Vermutlich ist selten eine Lehre aus dionysisch-erotischen Verirrungen so gründlich und so allumfassend gezogen worden. Meine beiden Mitprotagonisten von vor 14 Jahren haben da leider auf halbem Wege abgebrochen.

Nüchtern zu bilanzieren bleibt – nach einem kurzen Aufschwung – schlicht eine vollkommen zerstörte Beziehung der in der Tat eklatant füreinander ungeeigneten Eheleute (im folgenden Brief – Hera und Zeus), deren Auflösung sich über viele Jahre hinzog. Die Kontrahenten rede(te)n nur noch über Anwälte miteinander. Die beiden seinerzeit innig Verbundenen pflegen – vordergründig betrachtet – nur noch eine distanzierte und abgekühlte Begegnungskultur; es herrscht eine Ernüchterung aller Orten vor. Das hätte man früher haben können. In meinem Brief konnte ich endlich auch meinen Erkenntnissen und den daraus folgenden Argumenten Raum geben – aber aus guten Gründen erst nach der eingetretenen Wende:

                „Liebe Claudia, lieber Freund,

ich konnte es Euch nicht sagen. Verliebte leben auf der Venus – ich lebe auf dem Mars. Eigentlich finden wir da keine gemeinsame Sprache. Dies wir so ungemein deutlich, wenn man betrachtet, worum es eigentlich geht. Zu den vielen aufschlussreichen Studien zu Dreiecksbeziehungen gehört an vorderster Stelle Hans Jellouscheks Standardwerk: Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung. Ich versuche jetzt einmal die letzten Zeilen meines Gedichts zu erläutern und unserem damit verbundenen Dilemma etwas näher zu kommen:

Doch bleibt Dein Weg zu Dir –
er führt Dich hin zu ihr und ihr!

Und dies auf jeweils eigene Weise, denn: Unsere ménage à trois in allen Ehren. Aber in dem primären Dreieck bin ich nicht gemeint, ich habe damit nichts zu tun!!! Und ich will damit auch nichts zu tun haben. Und das konnte ich im Vorfeld des 29. Februar nicht sagen. Aber jetzt ist es an der Zeit tacheles zu reden:

Was Ihr beiden miteinander entwickelt, das ist Eure Sache: Im primären Dreieck gibt es keinen Dritten im Bunde, sondern nur eine Dritte, und das ist Deine Frau. Das ist deshalb so eindeutig, weil das von Jellouschek analysierte Dreieck ein Dreieck ist, in dem Claudia Semeles Rolle hat. Sie ist die heimliche Geliebte (ich möchte hier nicht auf die mails Deiner Frau vom Juli vergangenen Jahres eingehen). Deiner Frau kommt die Rolle der Hera, die der betrogenen Ehefrau zu, und Du, lieber Freund hast die Zeus-Rolle. Ihr beiden kennt dieses Buch. Die Eindeutigkeit dieses Dreiecks ergibt sich schlicht aus der Tatsache, dass Du – aus welchen Gründen auch immer – Claudia als heimliche Geliebte in Deiner Wohnung empfängst („wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“). Du hast keinen Ansatz gemacht, Deine Verhältnisse zu klären. Wenn Ihr in absehbarer Zeit erwachen werdet, werden diese Zusammenhänge auch Euch glasklar erscheinen. Die Haltung der drei Affen – nicht reden, nicht sehen, nicht hören – wird hier nicht wirklich weiterhelfen!

Das ist der auch der Grund, warum ich von Eurer Sache spreche. Das zweite Dreieck ist ein sekundäres, gleichwohl ein brisantes. Es ist umso brisanter, weil das primäre Dreieck überhaupt nicht geklärt ist. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich für mich jetzt auch nachvollziehen, warum Du – mein Freund – ein wirkliches Problem hast, dieses ‚nicht gesellschaftsfähige Dreieck‘ zu Hause auch wirklich transparent zu machen. Du hast noch einen privaten Rückzugsramu und wirst ihn bis auf weiteres haben. Gleichwohl ist da Deine eigene Familie, und natürlich die Beziehung zu Deiner Frau, die völlig ungeklärt ist, die nach wie vor mit dem Prinzip der ‚Heimlichen Geliebten‘ konfrontiert wird. Hinweise auf das, was daran ungeklärt ist, finden sich haufenweise bei Jelllouschek. Und daran möchte ich persönlich nicht beteiligt sein. Claudia ist daran unabdingbar und ohne jedes Wenn und Aber beteiligt, weil sie verstrickt ist in dieses primäre Dreieck.

Und jetzt kommen die Delikatessen – und über die sollten sich alle Beteiligten im Klaren sein:

  1. ‚Wenn wir uns außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros. (Julia Onken, Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag, München 1991).‘
  2. ‚Das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeugt Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt heute nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander kommen – wie Romeo und Julia –, sie liegt vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen (zuweilen) Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen kann (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt 1991).‘

Ich beanspruche für mich, da einen Erfahrungsvorsprung zu haben. Ich muss ihn ja haben mit meiner desaströsen Vergangenheit. Und so habe ich kommen sehen, was da kam seit dem Juni/Juli 2007.

Was mein Dilemma vollständig und ausweglos gemacht hat, hängt damit zusammen, dass ich keinerlei Chance sah – vor der Zeit – auf etwas hinzuweisen, was Hans Jellouschek zur Conclusio seiner Gesamtargumentation macht. In Liebesbeziehungen mit sexueller Ausprägung regiert Dionysos – er verkörpert im Gegensatz zu Apoll, der für das Vernunftprinzip steht, die Leidenschaft und den Eros. Und es war und ist selbstverständlich nicht meine Aufgabe, Euch in dieser Hinsicht zu belehren. Aber es wird Euren gemeinsamen und individuellen Lernprozess fortan begleiten:

„Dionysos ist weder ein Gott der freundlichen Harmonie, der niemandem weh tut, noch ist er ein Gott der schnellen Lösungen, die die alten Ordnungen wieder herstellen. Dionysos ist ein Gott des Leidens und des Sterbens, ein Gott, der immer wieder zugrunde geht. Sich auf ihn einzulassen heißt, mit dem Tod Bekanntschaft zu machen. Semele lernt diesen Tod kennen… Sie lässt die heimliche Geliebte sterben: mit ihrem Wunsch den Zeus in seiner wahren Gestalt zu sehen. Damit gibt sie das heimliche Dunkel auf, lässt den frühlingshaften Anfang los. Sie nimmt Abschied von der strahlenden Kind-Frau (oder von dem Elchkälblein, das gar nichts gemacht hat), in die manche Geliebte ihrerseits so verliebt sind, dass sie sie nicht loslassen können, weil ihre ein besonderer Charme, ein besonderer Zauber, eben der Zauber des Anfangs, zu eigen ist. Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt zugleich damit ihren Vater los und sich als sein Kind.“

Aus all dem folgt, warum unser Dreieck auf Veränderung drängt:

  1. Wir sind – wie zu sehen – nicht das primäre Dreieck, sondern das sekundär-nachgeordnete. Alle therapeutischen Erfahrungen legen nahe, dass nichts gelingen kann, wenn da nicht aufgeräumt wird. Claudia hat dabei die fast singuläre Rolle heimliche (Deiner Frau gegenüber) und unheimliche Geliebte (mir gegenüber) zu sein. Dies ist eine ganz besondere Hypothek, von der ich seit langem weiß; ein Wissen, das Ihr Euch aneignen müsst.
  2. Jellouschek ist mit vielen anderen der Überzeugung, dass Dionysos ebenfalls seine Potentiale nicht entfalten kann, wenn Zeus mit Semele und Hera ein ‚göttliches Dreigestirn‘ bilden, also das Dreieck als offizielle Beziehungsform etablieren würde: ‚Dies ist eine in der Anfangssituation der Verliebtheit oft auftauchende Phantasie: ein friedliches Zusammenleben zu dritt… Ich will nicht bestreiten, dass wir, was Vielfalt der Beziehungsformen angeht, einen sehr eingeengten Horizont haben. Allerdings bin ich sicher, dass ein bruchloser Übergang  von der Zweierbeziehung in einen Dreiecksbeziehung und Vorstellungen von einem friedlichen In-, Mit- und Nebeneinander zum Scheitern verurteilt sind. So, wie ich dieser Vorstellung begegne, ist sie meist eine sehr regressiv-kindliche Phantasie. Es ist der Versuch Dionysos zu verniedlichen. Was durch ihn bei allen dreien (vieren) aufgebrochen ist, ist so tief  und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann. Da, wo es versucht wird, geht es bald mindestens auf Kosten eines der drei, und Eifersüchteleien, offen oder verdeckte Feindseligkeiten machen dem Experiment schnell ein Ende.‘

Und dabei wird hier sogar noch völlig abgesehen von der fortgesetzten Kränkungsgeschichte deiner Frau gegenüber, die endlich ein Recht auf Offenheit hat.

Ich hoffe meine moderate Marsperspektive erreicht die Venus-Reisenden irgendwann. Was irreversibel angestoßen worden ist, das hat mit Jellouschek alle krisenhaften Attribute und alle systemisch sattsam bekannten Hintergründe – vom schlichten Wunsch, einmal wieder gut zu ficken bis hin zu Tod und Trauer, ungelösten Bindungen und unaufgeräumten inneren Behausungen. Ich habe vor zehn Jahren angefangen meine Bude zu entrümpeln, zu lüften, basierend auf dem Sturm, der mein/unser Leben 1996/97 durcheinander gewirbelt hat. Emma hat nunmehr das ihrige getan, um auf Augenhöhe aufräumen zu können.

Euer Jupp

Dass uns nach dem Hinwegfegen letzter Loyalitätsreste zunächst das Abrutschen in einen Kriegsmodus drohte, zeigte sich an dem hieran anknüpfenden Briefwechsel. Ungewöhnlich genug hatten wir zu dritt versucht, irgendeine Perspektive zu erkennen, um einen Ausweg aus dem eigetretenen Desaster zu finden. Nach meinem Brief an die beiden Venusmenschen schrieb mir der Freund am 2. März 2008:

               

„Lieber Jupp,

ich hab mir gerade noch einmal das durchgelesen, was du in ‚stürmischer Nacht‘ verzapft hast. Mir ist die Differenzierung primäres/sekundäres Dreieck erst durch diesen bemerkenswerten Brief zugänglich geworden, und ich kann nun sehr wohl nachvollziehen, dass du diese Trennung betonst, dich aus dem primären Dreieck heraushalten willst. Es ist in der Tat

  1. an mir und Claudia gelegen, unsere Beziehung vor dem Hintergrund meiner noch bestehenden Ehe mit meiner Frau zu definieren und
  2. liegt es an mir, den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und meiner Familie das Ergebnis aus 1. Endlich mitzuteilen.

Damit hast du in der Tat nichts zu tun und dennoch ist es dir ein Anliegen ‚Tacheles‘ zu reden, wie du schreibst, als ‚betroffener Zuschauer‘. Das hast du getan mit deinem Brief und in unserem heutigen Gespräch, für das ich mich bedanke. ‚Infantile Regression‘ lautete der terminus technicus für das Spiel, das C. und ich im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt haben. Da sind wir (C. und ich) uns viel zu ähnlich, als dass ich das nun abstreiten könnte oder wollte.

Der heutige Tag, die stürmische Nacht davor, werden tiefgreifende Folgen haben für uns Drei. Das sehe ich, wie du. Nichts bleibt ohne Folgen. Aber ich habe seit der Trennung von meiner Frau keine Angst mehr vor Veränderung, kann diese mehr denn je als Chance begreifen. Was auch immer sich nun als Chance (für jeden von uns Dreien) herausstellen wird – der Käs ist noch nicht gegessen. Die ménage à trois eine Option, die uns ‚in allen Ehren‘ in der eigentlichen Sache nicht wirklich weiter bringt.

Ich habe vor einigen Wochen erst angefangen, ‚Die Rolle der Geliebten…‘ von HJ zu lesen, habe leider nicht die Zeit gefunden, konsequent dran zu bleiben. Das werde ich jetzt nachholen.

Ich danke dir, Jupp,  und natürlich Claudia, für all das, was ihr mir in den letzten Monaten gegeben habt. Das war nicht wenig. Ich frage mich nun, was kann davon bleiben und was ist der Preis??? Kann unsere (J + C + F) Freundschaft weiter bestehen? Das werden die nächsten Wochen zeigen, und ich wünsche mir die Muße, auf die Antworten auf meine Fragen abzuwarten.

Ich fand, es war ein bemerkenswerter Tag heute und sage nun ‚gute Nacht‘.

Ganz liebe Grüße

Der Freund

Viele offene Fragen standen im Raum. Und dennoch blieb mir in meiner Antwort nichts anderes übrig, als die vollkommen verstellte Perspektive des Freundes zu registrieren. Wenn man nur wenige Zentimeter vor dem eigenen Spiegelbild steht, lassen sich keine Konturen erkennen; eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden:

               

„Lieber Freund,

ich habe deinen Brief mit Interesse zur Kenntnis genommen und das meiste – wie ich hoffe – auch verstanden. Was ich nicht zu deuten weiß, vielleicht ist es einfach ein Versehen, möglicherweise auch das Gegenteil, ist der einleitende Satz: ‚… was du in stürmischer Nacht verzapft hast‘. ‚Verzapfen‘ wird, egal wo du nachschaust, immer nur pejorativ/negativ konnotiert: Unsinn, wirres Zeug, Mist verzapfen, Unfug erzählen!

So ganz passt das, was sich anschließt, nicht dazu. ‚Ich danke euch für diese Nacht‘, die Nacht, die ich unter etwas anderen Prämissen durchlebt habe, als sie sich dann am Samstag darstellten, ist ein Eingeständnis meiner Betroffenheit. Und ich wiederhole noch einmal: Keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, keine Stunde, keine Minute länger hätte dieser Schwebezustand, der seine ‚kritische Masse‘ erreicht hatte, andauern können. Dass mir diese Situation die Gelegenheit verschafft hat, genauer hinzuschauen und etwas zu erkennen, was bis zu diesem Zeitpunkt niemand sehen konnte/wollte, ist rein logisch und argumentativ der eigentliche Gewinn. Das primäre vom sekundären Dreieck zu unterscheiden, hat den Durchbruch und die rasante dynamische Veränderung ermöglicht, die seit Freitag, dem 29.2.2008 eingetreten ist. Was es mir möglich macht, dir heute zu antworten und die Form, die ich dabei wähle, hängen damit zusammen, dass du dich in einer vergleichbaren Situation befindest, wie ich 1997. Und dabei bin ich der festen Überzeugung, dass die Rangfolge, der du folgst, anders aussehen wird:

Ich habe am Samstag u.a. gesagt, dass du jetzt im Kontext des primären und des sekundären Dreiecks zum ersten Mal wieder deine Frau sehen kannst. Du kannst überhaupt jetzt erst sehen, dass du auf einem Weg warst – bevor du auch nur ansatzweise die Beziehung zu deiner Frau geklärt hattest –, dir eine andere Frau an die Seite zu stellen, die heimliche Geliebte. Alle, aber auch alle nur erdenklichen Attribute einer klassischen heimlichen Liebe sind erfüllt. Du hast dich in eine Beziehung(sphanatasie) hineingesteigert, die du bis zum vergangenen Wochenende vor deiner Frau verborgen hast.

Deine Frau hat mir am 28. Juni 2007 geschrieben: ‚…schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Er hat mir jedesmal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich also die ganze Zeit angelogen. Das ist, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob der Brief richtig ist an dich, aber da ich weiß, dass du schon was ahnst, ist es vielleicht ganz gut. Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war so in brass, da ist es eben passiert. Was mich schrecklich verletzt, ist eigentlich, dass ich belogen wurde und dass er mich direkt eintauscht gegen eine neue…‘

Die in deiner mail mir gegenüber aufgemachte Prioritätenfolge sehe ich nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht an dir und Claudia, erstens eure Beziehung ‚vor dem Hintergrund deiner noch bestehenden Ehe mit Bärbel zu klären‘ und dann zweitens den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und deiner Familie das Ergebnis aus Punkt eins endlich mitzuteilen.

Wenn du jemals wieder einen Arsch in die Hose bekommen willst, dann kann es nur um die umgekehrte Reihenfolge gehen. Es tut mir sehr leid, dass du das zumindest in deiner mail, die du mir zugegebenermaßen sehr früh, nämlich schon am 2. März um 00.20 Uhr gesendet hast, noch nicht sehen konntest. Für dich kann’s ums Verrecken nur darum gehen erstens endlich mit deiner Frau zu klären, was dich im letzten ¾ Jahr umgetrieben hat, damit ihr endlich die Chance bekommt, das zu betrachten, was euer gemeinsames Leben von fast 30 Jahren ausmacht; auch die Momente und Ressourcen, die einem noch einmal deutlich machen, wen man geliebt hat und liebt, wirklich liebt – ohne die tausend Sonnen eines wunderbaren Frühlings. Vielleicht ist es ja doch der Mensch, der einem drei Kinder geboren hat, und von dem man weiß, dass es einen schier umgebracht hätte, wenn er dabei zum Beispiel auf der Strecke geblieben wäre. Es ist sicherlich an der Zeit, mit all den Demütigungen aufzuräumen, die eine fortgesetzte Missachtung des Menschen zur Grundlage hatte, den man geheiratet hat, mit dem man drei Kinder in diese Welt gebracht hat, von denen das jüngste mal eben vierzehn ist,  und von denen der Sohn eine Bedürftigkeit an den Tag legt, die einen unter Umständen an die eigene Bedürftigkeit aus Kindertagen erinnert, und von denen das älteste gerade gut genug ist, es zu belügen, um die heimliche Liebe nicht zu gefährden und preiszugeben.

Nein, mein Freund, Tacheles wird aus alledem, wenn du spürst, dass die von dir vorgegebene Reihenfolge geradezu absurd wirkt. Du wirst sehen und erfahren müssen, was Vorrang beansprucht. Das Ergebnis aus deinem ersten Punkt  ist doch längst eindeutig: Der Frühling ist vorbei. Vielleicht wirst Du Claudia irgendwann dafür dankbar sein, dass ihr diesen Frühling haben durftet, so wie sie dir dafür dankbar ist! Aber Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt ihren Vater endlich los und sich als sein Kind. Claudia hat die große Chance, diesen Entwicklungsschritt für sich zu nutzen. Für deine weitere Entwicklung gibt es Semele nicht mehr! Du wirst künftig Claudia als eine erwachsene Frau sehen. Und dieses Wissen und diese Intuition hat ganz offensichtlich ihr Handeln am Freitag geleitet.

Und bitte: Der Begriff der ‚regressiv-kindlichen Phantasie‘ ist Jellouscheks Bezeichnung eines Verhaltens, das etwas retten will, was nicht zu retten ist. Und insofern ist es eben nicht der terminus technicus für ‚das Spiel, das C. und du im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt habt‘. Nein, die ‚regressiv-kindliche Phantasie‘ bezieht sich einzig auf den Versuch etwas von dem zu retten, was diesen Frühling ausgemacht hat. Und es ist mit Jellouschek der Versuch, ‚Dionysos zu verniedlichen‘. Und er gibt uns eine richtungsweisende Perspektive an die Hand: ‚Was durch ihn (Dionysos) bei allen dreien (und ich sag bei uns allen vieren) aufgebrochen ist bzw. aufbricht, ist so tief und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann.‘

Also nochmals, es tut mir leid, deine Reihenfolge ist absurd. Insofern ist der Käse, der zu essen ist, mehr als reif: Das ganze Krisenszenario, das mit Kränkung, Verlust, Tod und Trauer, alten Eltern und um ihre Perspektiven ringenden Kinder aufgebrochen ist, das ist überhaupt nicht eines, bei dem es darum geht – wie du sagst –, die Beziehung zwischen Claudia und dir vor dem Hintergrund der noch bestehenden Ehe mit deiner Frau zu definieren und ihr das dann endlich mitzuteilen. Das ist absurd – das ist Absurdistan in galaktischer Dimension. Wenn überhaupt, kann es nur um das Umgekehrte gehen. Aber du hast Claudia diesbezüglich gar nichts mitzuteilen. Du kannst nur endlich die Beziehung zu DEINER Frau klären. Ansonsten ist es so, dass ihr – Claudia und du – jetzt damit konfrontiert werdet, euch zu überstehen. Und ich hoffe für euch, dass dies in einer wertschätzenden Weise möglich sein wird. Aber der Frühling ist vorbei. Und nur derjenige wird jemals wieder einen Arsch in seiner Hose haben, der die damit angestoßenen Entwicklungschancen zu nutzen weiß. Der Baustellen sind genug!

Nachdem ich mir die Mails deiner Frau noch einmal durchgelesen habe, verspüre ich das unbändige Bedürfnis, ihr die Mailwechsel und Briefe der letzten Tage zukommen zu lassen. Sie hat es an erster Stelle verdient, eine Perspektive und Klarheiten zu bekommen. Sie ist das eigentliche Opfer des letzten ¾-Jahres. Aber ich werde das nicht tun. Das ist deine Sache, wenn du begriffen hast, wie die Prioritäten liegen.

Dein Freund Jupp

Bei diesem Chaos drängt sich Dirk Baeckers Lebensgleichnis geradezu auf:

 „Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

In den Tagen um den 29. Februar 2008 herum noch von Spaß zu reden, käme einem recht zynischen Blickwinkel gleich. Hier waren sich einige Menschen viel zu nahe gekommen, einige Tote lagen auf dem Spielfeld, der Ball war schon lange nicht mehr zu kontrollieren und ständig wechselnde Torpositionen trugen nicht eben zu einer halbwegs verlässlichen Orientierung bei, ein vertrauenswürdiger Schiedsrichter nicht in Sichtweite – eine Situation zum Verrücktwerden.

Um zu entscheiden, was sich nun in den nächsten gut vier Jahren zutrug, kann man pendeln zwischen Schmierenkomödie und Tragikomödie. Gänzlich auf der Strecke blieb die Frau des Freundes. Der hatte ich noch im März 2008 geschrieben:

         „Meine Liebe,

das ist eine zweite, späte Antwort auf deine mail vom 28. Juni2007. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Das, was ich dir am 29. Juni 2007 geschrieben habe, entspricht nach wie vor meiner Überzeugung. Aber es war zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht die angemessene Antwort auf deine mail. Sie beruhte vor allem, was deinen Mann anbetrifft, auf einer irrigen Voraussetzung. Ich habe damals geschrieben, der Unterschied zwischen ihm und mir sei, dass ihn keine andere Frau blockiere. Wie dumm!!! – auch mich hat 1997 keine andere Frau blockiert, sondern ich bin in eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Frau gegangen und wollte mir dazu eine andere Frau an die Seite stellen. Wie dumm, könnte man jetzt sagen. Aber es war – bezogen auf die lange Sicht und jetzt aus dem Rückblick von elf Jahren – überaus klug. Es hat mich in eine Krise hineingeführt, die alle unbewältigten Konflikte, alle Baustellen, die ich nicht zu Ende geführt hatte, zum Vorschein brachte. Und die Frau, die mich wirklich ‚blockiert‘ hat und die alle Freiheit meines Handelns so über die Maßen eingeschränkt hat, war Claudia.  Das Weggehen war der Beginn eines langen Weges zurück zu ihr.

Deinem Mann ist es haargenau so ergangen. Nicht Claudia hat ihn blockiert oder blockiert ihn. Nein, sein Versuch, sie sich an die Seite zu stellen, entspricht genau dem, was ich 1997 gemacht habe. Es sind auch bei ihm die alten, die uralten Baustellen, und es ist vermutlich eure ungeklärte Beziehung, die ihn wirklich blockiert für alles entschiedene und freie Aufbrechen in eine neue Welt. Ich glaube, das kann er jetzt zum ersten Mal wirklich sehen, genau wie ich damals. Claudias ‚Job‘ ist erledigt. Die beiden können dankbar sein für das ¾ Jahr, das sie miteinander hatten. Das, was sie hatten, ist definitiv vorbei und jetzt beginnt etwas Neues.

Ich möchte dir von meiner Geschichte nur so viel erzählen, dass es sich so unendlich gelohnt hat, die seinerzeitige tiefe Krise zu einer wirklich neuen Orientierung zu nutzen. Das war ein langer Weg, der Claudia und mich wieder zusammengeführt hat. Ohne das, was in den letzten zehn Jahren gewachsen ist, hätte ich das letzte ¾ Jahr nicht überstanden. Die Welt ist für mich jetzt wieder klar. Sie ist so klar, wie sie nie war.

Eure Zeitrechnung in dem Sinne, dass ihr jetzt tatsächlich gleichermaßen zurück, aber vielleicht doch auch nach vorne schauen könnt, die beginnt erst jetzt; jetzt, nachdem dein Mann definitiv erfahren hat, dass es keinen Weg mit Claudia oder irgendeiner anderen Frau geben kann, wenn er nicht mir dir tatsächlich das anschaut, was euer gemeinsame Geschichte über so viele Jahre/Jahrzehnte ist. Dazu braucht er Zeit. Er muss und wird seinen unendlichen Schmerz verkraften und verarbeiten. Das ist nicht allein und vielleicht am wenigsten der Schmerz um die ‚verlorene‘ Claudia, sondern so, wie ich ihn erlebt habe, der Schmerz über so viel Versäumtes, Verpasstes, der Schmerz über so viele Verletzungen, die für ihn schon in der Kindheit beginnen (ich kenne kein vergleichbares Elternhaus, wie das deines Mannes, in dem die Kinder in ihrer Bedürftigkeit so allein gelassen worden sind). Und euer Sohn droht(e), was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, vielleicht in eine ähnliche Situation zu geraten. Aber dein Mann ist so anders. Er ist ein toller Mann – und ich kann Claudia verstehen. Und ich kann dich verstehen: Ich hoffe sehr für euch, dass du deinen Mann wieder sehen kannst und dass du all die tollen Seiten an ihm entdecken kannst. Und ich hoffe inständig, dass dein Mann dich wieder sehen kann und all die tollen Seiten an dir wieder und neu entdecken kann.

Ich wünsch euch einen langen Atem – ich selbst weiß nur, dass es sich lohnt und ich grüße dich sehr herzlich Jupp

Die Frau unseres Freundes hatte keinen Einblick in mein schuldenbedingtes heilsökonomisches Defizit. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ich in unserem gemeinsamen Seelengrundbuch eine beträchtliche Grundschuld hatte eintragen lassen, deren Löschungsbewilligung nicht in Aussicht stand. Nur die Erfahrung, wie man selbst zu einem ansehnlichen Schuldenkonto gelangt – mit anschließender Privatinsolvenz, konnte hier die Voraussetzungen für einen annähernden Schuldenerlass begünstigen. Und nur so ist ihre – die Antwort der Frau unseres Freundes zu verstehen, die vor allem ein gewisses Unverständnis für meine Haltung signalisierte. Dass auch das Ehekonto unserer Freunde offene Rechnungen beinhaltete, war mir genauso wenig klar:

„Lieber Jupp,

es ist in meinem Inneren ein heilloses Durcheinander. Meine erste Frage an dich ist, wie konntest du damit ein Dreivierteljahr leben? Zu wissen, die Frau, die ich liebe, nähert sich einem Freund an in meinem eigenen Haus? Bist du ein Heiliger? Oder wie kann man damit leben? Ich war am Anfang wahnsinnig eifersüchtig. Das alles ist nun leider passiert. Warum haben beide das alles heimlich gemacht? Es wusste doch jeder! Warum hat mich mein Mann teilweise beschimpft, ich wäre all dem intellektuell nicht gewachsen, und ich müsste endlich was aus meinem Leben machen. Heute weiß ich natürlich, warum er das gemacht hat. Ich war total verletzt, und da hatte er mit deiner Frau im Rücken leichtes Spiel. Er war stark, so wie ich damals mit Michael. Du weißt sicher davon.

Es ist schlimm zu sehen, dass es meinem Mann dreckig geht. Aber er hat das auch als schlimm empfunden, als es mir so ging, als er im vergangenen Jahr auszog. Ich bin doch ziemlich blöd, dass es mir nahe geht, dass er leidet. Eigentlich müsste ich doch Schadenfreude haben. Aber die habe ich weiß Gott nicht. Ich müsste mich eigentlich freuen, dass er mir wieder ein bisschen näher kommt, aber ich habe sooooooo furchtbare Angst. Und ich weiß nicht, ob ich das schaffe, dass wir wieder ein Paar werden, das sich liebt. Ich weiß auch, das liegt nicht nur an mir. Ich stehe vor einem riesigen Berg.

In deinem Brief schreibst du, ich bin froh, dass die beiden sich hatten. Es hört sich für mich so an, als ob du Claudia für solche Zwecke schon einmal verleihst. Ich weiß, das ist Quatsch, aber es hört sich so an.

So, eine Nacht ist jetzt zwischen den Briefen. Mein Mann ist wieder aus Frankfurt zurück, und wir haben uns für Samstag mit den Kindern zum Essen verabredet. Ich glaube, ich werde ihm den Vorschlag machen, noch einmal mit den Leseabenden weiter zu machen. Ich weiß, er hat genau so viel Angst davor, was jetzt kommt. Kann man jemanden eigentlich noch spüren nach so vielen Verletzungen, ist da tatsächlich noch etwas? Wie ist so etwas möglich? Wie gehst du jetzt mit der Situation um? Ich weiß, du kannst mir all diese Fragen nicht beantworten, aber es tut gut, jemandem zu schreiben, der in der gleichen Situation war.

Ich muss noch hinzufügen, ich habe auch Bekanntschaften mit Männern geschlossen. Es waren auch wirklich nette dabei. Aber irgendetwas war immer in mir, das mir sagte: Das ist ja alles ganz nett, aber eben nur ganz nett! Ich glaube, man braucht das auch, um sein Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren; war ja bei ihm auch so. All das hat vielleicht auch mit der langen Zeit zu tun, mit den Höhen und Tiefen, die ich mit ihm erlebt habe. Auf jeden Fall will ich den Kampf um unsere Ehe wieder aufnehmen. Jetzt, wo ich weiß, dass er auch mit mir kämpfen will.

So, lieber Jupp, das waren nur Ausschnitte aus meinem Kopf. Ich habe erst überlegt, ob ich dir schreibe. Aber ich glaube, es war richtig. Es gibt noch so viel Ungeklärtes, aber ich, oder besser wir, haben ja noch viel Zeit alles aufzuarbeiten. Ich bin ganz zuversichtlich-

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende“

Mir rutscht noch heute das Herz in die Schuhe, wenn ich auch über meine Rolle in der nun folgenden – ja ich weiß nicht: Schmieren- oder Tragikomödie – nachsinne. Außer Frage steht, dass wir alles in allem bis zum Jahr 2012 tatsächlich in den vielen gemeinsamen Unternehmungen, Urlauben, Zusammenkünften – überhaupt in einem sehr gediegenen Netzwerk von Bekanntschaften und Freundschaften – eine Menge Spaß hatten; vermutlich wird keiner der Beteiligten die Zeit wirklich missen wollen! Und dennoch: Mit Abstand betrachtet ist es doch zum einen eine ausgewachsene Schweinerei, die hier jemand inszenierte, bis er endlich 2012 die Reißleine zog – seine ganz persönliche Reißleine! Diese Reißleine hat ganz gewiss zwei Auslöser. Und es wäre vollkommen unangemessen, hier jemandem das Schuldenkonto über Gebühr vollzuladen. Zwei eklatant füreinander ungeeignete Menschen haben sich schließlich und leider  auf ungute Weise auseinanderdividiert. Schadenfreude ist  nicht angezeigt. Lediglich die Frage, ob man selbst auch hier wieder viel zu lange zugeschaut hat!?

Ich schrieb der Freundin auf ihren Brief folgende Antwort:

„Liebe Freundin,

ich danke dir für deinen Brief und dein Vertrauen. Um mich zu verstehen, gibt es ein paar wichtige Mosaiksteine. Ich will sie dir gerne schildern:

  1. Der erste und sicher folgenreichste liegt mehr als elf Jahre zurück. Wenn ich mir alles noch einmal vor Augen führe, dann glaube ich, hat es selten einen Mann zuvor gegeben, der seine Frau so sehr verletzt hat, wie ich das getan habe. Um mein Handeln zu verstehen, muss man das einfach wissen. Ich bin alles andere als ein Heiliger. Am wichtigsten ist mir dabei, dass Claudia das erkannt hat und zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben sehr konsequent nicht die Rücksichtnahme auf mich in der Vordergrund gestellt hat.
  2. Aber auch dazu muss man wissen, dass Claudia mir immer glaubhaft vermittelt hat, dass sie mich nicht verlassen würde. Bis zuletzt ist Claudia in diesem Punkt immer eindeutig geblieben. Sie hat deinem Mann nie in Aussicht gestellt, es könne sozusagen ein neues Leben mir ihr geben.
  3. Zuletzt habe ich vielleicht eher die Reißleine gezogen. Ich habe ganz klar gesagt: Keinen Monat, keinen Tag, nicht einmal eine Stunde länger möchte ich die zuletzt zugespitzte Situation weiter so haben. Wenn ich dir geschrieben habe, dass die beiden froh sein sollen für die Zeit, die sie hatten, dann schreibe ich das in dem klaren Bewusstsein, dass diese Zeit jetzt unwiederbringlich vorbei ist. Auch für Claudia und mich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt, auf den ich mich freue.
  4. Und es gibt zum vierten noch etwas klarzustellen, was ich dir jetzt im Vertrauen sage, und von dem ich weiß, dass es so und nicht anders war. Dein Mann und meine Frau sind nicht in ‚meinem‘ Haus fremdgegangen. Dass sie sich final aufeinander eingelassen haben, ist Tatsache, und es hat letztlich den Kipppunkt herbeigeführt und den Weg freigemacht für eine neue Entwicklung.

Alles, was du zum Verhalten deines Mannes schilderst, die Beschimpfungen und die Abgrenzungen, all das kommt mir so vertraut vor. Und du hast Recht: So wie dein Mann geblendet war von der Welt, in die er sich im Hinblick auf Claudia hinein phantasiert hat, genau so war ich 1997 eingenommen von der Idee, mit einer anderen Frau eine neue Welt haben zu können. Es war seinerzeit ein ähnlicher Punkt, der dieses merkwürdige Luftschloss zum Platzen gebracht hat.

Auch dass der Berg, vor dem du stehst riesig ist, kann ich nachvollziehen. Dass es mir heute so gut geht, verdanke ich einerseits Claudia, die 1997 sicherlich einen ähnlichen Berg vor sich gesehen hat. Ich bin ihr dankbar für die unendliche Geduld, die sie gehabt hat. Aber ich bin heute auch so unendlich froh, dass ich mich getraut habe, diesen gemeinsamen Weg zu gehen. Nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt. Vermutlich hat mir das auch die Kraft gegeben, dieses letzte Dreivierteljahr unbeschadet zu überstehen und sogar gestärkt aus ihm hervorzugehen.

Es kann sicherlich nur eine langsame Annäherung sein, die sich da jetzt vollzieht. Aber du schreibst, dass du keine ‚Schadenfreude‘ empfindest. Das ist sicherlich schon ein sehr gutes Zeichen, obwohl: ein kleines bisschen Schadenfreude dürfen wir uns auch zugestehen, denn so wie man den Genuss hat, von dem, was man tut, so muss man sicherlich auch den Schaden ertragen, der mit einem solchen Handeln verbunden ist – es gibt halt eben nichts umsonst im Leben.

Claudia und ich haben das damals auch über die gemeinsamen Leseabende herausgefunden. Und wir haben uns dabei auch harte Kost zugemutet. Deinen Mann und Claudia habe ich in den letzten Tagen (vor dem 1. März) noch einmal mit dem Buch von Hans Jellouschek (Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung) konfrontiert. Uns hat das damals geholfen, eine Menge von dem zu verstehen, was so schwer zu verstehen ist. Und mit einem wachsenden Abstand zu dem, was alles passiert ist, glaube ich auch, dass dein Mann sich/und euch die Chance geben wird, noch einmal genauer hinzuschauen. Und ich glaube auch, dass er noch einmal beginnt, um eure Ehe, die ja auch eingebettet ist in eine Familie, zu kämpfen.

Ich bin froh, dass wir auf diese Weise noch einmal Kontakt aufgenommen haben, wobei ich ganz sicher glaube, dass es dafür jetzt genau der richtige Zeitpunkt war.

Ein schöneres als all die letzten – und vor allem ein erstes auch schon mehr befreites Wochenende wünsche ich auch dir“

Während ich mit der Frau des Freundes diesen Briefkontakt aufnahm – sie erwähnt, dass ihr Mann geschäftlich Anfang März in Frankfurt war –, schrieb der Freund seiner Semele einen Brief, mit dem er das Blatt tatsächlich noch einmal zu seinen Gunsten wenden wollte. Dieser Brief verfolgte eine perfide Strategie, die schlicht damit zu tun hatte, dass ich nicht nur in der Schuldenfalle saß, sondern dass ich mir – wie zu Beginn geschildert – im Sinne eines Manifestes die Verpflichtung auferlegt hatte, den Schierlingsbecher mit meinem Schwiegervater bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Auch im letzten Dreivierteljahr war ich kein Jota von dieser Haltung abgewichen. Alle Heiligen gehen mir am Arsch vorbei. Meine Position war schlicht: Es gibt im Leben nichts umsonst – alles hat seinen Preis; wird der Preis aus Dankbarkeit und Liebe entrichtet, dann ist/wird alles gut. In seinem Brief versuchte der noch im Kampfmodus argumentierende Freund Claudia zu verdeutlichen, sie müsse sich endlich von ihrem Vater befreien, dessen Stelle ich längst eingenommen hätte. Der Schuss ging indes nach hinten los. Vermutlich hatte er da sein Blatt endgültig überreizt, da Claudia über eigene therapeutische Anstrengungen das schwierige Tochter-Vater-Verhältnis längst hinreichend beackert hatte.

Und es ist mehr als redlich, wenn zwei Venusmenschen nach ihrem Frühlingserwachen die Kraft und den Anstand haben, auch noch einmal gemeinsam zu betrachten, was denn da in einem – gewiss auch traumhaften – Dreivierteljahr geschehen ist. Dass unser gemeinsamer Freund in seinem Survival-Package über einen hoch wirksamen Verdrängungsmechanismus verfüge, das war allen engeren Freunden offenkundig in all den Jahrzehnten nicht verborgen geblieben. Dennoch wunderte sich der/die ein oder andere nicht schlecht, in welchem Schweinsgalopp sich die Annäherung an die Familie in der Folge vollzog. Das gab Anlass zu einer durchaus gediegenen und berechtigten Hoffnung. Dass redliches Bemühen zweier Venusmenschen um Kontenklärung auch einen geschützten Raum benötigt, vor allem dies soll hier konzediert sein. Und dennoch bleiben eher die Enthüllungsszenarien legendär.

Claudia begann endlich, ihre ureigensten Interessen und Potentiale zu bergen und zu entfalten. Im Juli 2008 belegte sie einen Malkurs im Allgäu – die Freude darüber war allerseits; vor allem auch darüber, dass sie nicht versuchte, mich in Schlepptau zu nehmen. Unterdessen pflegte ich weiterhin e-mail-Kontakt zu der Frau des Freundes, ermunternd, begeistert von den Fortschritten im ehelichen Wiederbelebungsversuch. Als sie mir dann Mitte Juli schrieb, wie begeistert sie von der Verwandlung ihres Mannes sei, und dass er es ich verdient habe, mit seinem geliebten Motorrad durch die Alpen zu düsen, hörte ich wieder einmal die Nachtigall trapsen.

Das Treffen des Freundes mit Claudia – dieses Mal in den sommerlichen Bergen – war zwar konspirativ, aber es galt zweifelsfrei dem Versuch einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit; es hatte also nicht mehr ganz die Qualität des „Spiels“ das die beiden Venusmenschen – wie der Freund sagt – „gerne gespielt haben“, weil sie sich nun eben einmal so über die Maßen ähnlich seien. Seine Frau hat davon nie erfahren – ich war auch damals nicht gewillt, das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen Neubeginns schon wieder im Keim zu ersticken.

Auf dem Hintergrund der dann letztlich eingetretenen Entwicklung war das sicherlich ein Fehler. Die beiden waren schon versierte, mit allen Wassern gewaschene Spieler – Zocker aus Leidenschaft. Am 14.07.2008 erhielt eine Postkarte in Südtirol ihren Poststempel, adressiert an Familie Witsch-Rothmund mit ganz lieben Grüßen von unserem gemeinsamen Freund. Aus den Dolomiten kommend habe er Livigno erreicht und mache sich morgen über die Schweiz auf den Heimweg – ganz weit weg vom bayrischen Allgäu. Claudia erzählte nach ihrer Heimkehr natürlich auch nichts von dem konspirativen Treff, der zum sogenannten Rütli-Schwur der beiden Hauptprotagonisten führte. Er beinhaltete im Grunde genommen die Übereinkunft, sich die Butter auch künftig nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen.

Ich werde ja sicher in meinen folgenden Aufzeichnungen auch noch einmal verdeutlichen, warum ich jedem sein Butterbrot von Herzen gönne. Gleichzeitig räume ich auch gerne ein, dass ich an Achterbahnfahrten kein gesteigertes Interesse mehr hatte. So war es einerseits durchaus folgerichtig, dass im Herbst die Ski-Exkursionen wieder aufgenommen wurden; die erste gemeinsam mit des Freundes Sohn – eine gute Entscheidung, auch für den Sohn!? Die einen sagen so – die anderen so; viele weitere Ski-Unternehmungen erfolgten dann in wechselnden Konstellationen, sogar als gemeinsame Familienunternehmungen.

Das wäre auch alles nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht im Rückblick so umfassend klar und deutlich zeigen würde, dass die Wiederbelebung der ehelichen Gemeinschaft unserer Freunde einer Totgeburt glich, dem Versuch einen toten Gaul zu reiten. Warum? Weil der Freund nicht ansatzweise erkennen ließ, dass er bereit gewesen wäre, seiner Frau auch nur einen zarten Schimmer dessen angedeihen lassen zu wollen, was Peter Fuchs mit einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz so prägnant beschreibt. Im Gegenteil ließen die neuen Prioritäten nach einem anfänglichen Aufschwung sehr schnell erkennen, dass das glatte Gegenteil der Fall war.

Intriganten sind wir alle!

„Die Paarbeziehung als Liebesbeziehung ist nun mal das Herzstück jeder Familie und wahrscheinlich auch das Beste für die Kinder, denn: Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann, ist ihre Mutter zu lieben (Wolfgang Hantel-Quitmann, Liebesaffären – Zur Psychologie leidenschaftlicher Beziehungen, Gießen 2005, S. 9)!“

Den „Ordnungen der Liebe“ Bert Hellingers (Heidelberg 1994) – diese These stelle ich hier einmal in den Raum – ist nicht von vorne herein ein normatives Konzept, sondern eines, was auf die Bindungsdimensionen (-qualitäten und –unterschiede) in familiären und intimen Beziehungen aufmerksam machen will.

Der Rütli-Schwur im Juli 2009 war das eine. Im Oktober desselben Jahres ergaben sich dann neuerliche – ich möchte es einmal – Irritationen (nennen). In meinem Tagebuch ist folgender Vermerk.

„Aus den neuerlichen Irritationen der letzten Tage ergibt sich dem Freund gegenüber – wenn überhaupt – der Hinweis, endlich einmal, vielleicht über eine Aufstellungsarbeit, zu einer Einsicht bzw. einem Überblick zu gelangen im Hinblick auf die merkwürdige Fortsetzung einer Konstellation, für die im Februar/März 2008 der Höhe- bzw. Wendepunkt markiert war. Das gilt natürlich auch für Claudia. Vor drei Wochen waren die Freunde zuletzt bei uns; unsere Freundin hatte Claudia um ein klärendes Gespräch gebeten – ausgelöst durch eine e-mail, die Claudia irrtümlich ihr statt dem Freund zugesandt hatte. Für mich eine Bagatelle, in meiner Haltung zwischen Toleranz und Ignoranz. Dann wenige Tage darauf – mit extrem hohen Aufforderungscharakter ein Papierkorb vor der Türe zum Garten hin; unsere Papiersammeltonne steht in der Garage. Den Papierkorb nehme ich mit, zerlege wie immer – in Raumnot – Kartonage und entleere zuletzt das Restpapier. Was bleibt zu oberst liegen und springt mir ins Auge? ‚Ich liebe dich – KEINER LIEBT DICH SO, WIE ICH!!!“ Ich traue meinen Augen nicht. Was soll das??? Ich puzzle mails zusammen und bekomme eine eindrucksvolle Bestätigung der Irritiationen der Freundin. Die anschließenden Gespräche mit Claudia, in die auch unsere gemeinsame Lektüre der Familienaufstellungen Gunthard Webers (einschließlich meiner eigenen) einfließen, bringen immerhin als ein Ergebnis zu Tage, wer hier die Supernova, und wer hier die 25-Watt-Birne ist. Ich fordere lediglich, dass die Rütli-Gang sich besinnt und endlich ihre Hausaufgaben im Sinne des Höchstrelevanzkriteriums (Peter Fuchs) erledigt.

Immerhin reagiert der Freund am 12. Oktober 2009 mit einer mail, in der unter anderem zu lesen ist:

„Nun hoffe ich, dass ich mit meinen Zeilen, die Claudia zerrissen hatte und die du ohne Kontext zufällig gelesen hast, bei dir nicht so viel Wut und Verunsicherung freigesetzt haben, wie ich ganz sicher niemals wollte und wie sie der ganzen Situation auch nicht angemessen wären. Verstehen würde ich das allemal. Vielleicht haben wir beide aber jetzt auch wieder die Chance, besser ins Gespräch zu kommen.“

Damals wie heute war längst klar, dass es natürlich nicht primär um mich ging. Der Vergleich Supernova – 25-Watt-Birne trifft es auf den Punkt, und ich will die ganze Chose hier in konzentrierter Form zu einem Abschluss bringen: Der Freund betrieb nach dem Tod seines Vaters 2010 – er ist exakt drei Wochen nach Claudias Vater verstorben – mit Vehemenz die Rückkehr ins elterliche Haus; ein weiterer harter Konfliktpunkt zwischen den beiden Eheleuten. Seine Frau sperrte sich lange und letztlich auch final gegen diese Bestrebungen. So kam es denn 2012 zum Schlussstrich durch den Freund. Nach einem abgebrochenen Urlaub auf einer Mittelmeer-Insel, in dessen Zug der Freund aufgrund eines Unfalls einen mehrtägigen Klinikaufenthalt in Kauf nehmen musste, erklärte er die finale Trennung von seiner Frau. Die Scheidung ist mehr als sechs Jahre später nach endlosen Streitereien rechtskräftig geworden. Von 2012 bis 2014 – das Jahr, in dem wir Weltmeister geworden sind –,  verlagerte der Freund seinen Wohnsitz endgültig wieder in die Heimat. Die Entrümpelung seines Elternhauses erlebten wir – als fleißige Helfer und mit der Unterstützung des inzwischen gediegenen Freundes- und Bekanntenkreises – vordergründig betrachtet als Befreiung.

Die Freundschaft zwischen dem Freund und Claudia hatte sich in ruhigem Fahrwasser etabliert, es folgten viele Ski-Unternehmungen in wechselnden Konstellationen. Der Freund wuchs nun vollends und alternativlos in unseren gewachsenen Freundeskreis hinein.

Es sind Allerweltsweisheiten, dass ein Ehepartner dem anderen – mit Blick auf den kruden Alltag, die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen respektierend – nicht alles sein kann. Im Lob der Vernunftehe hat Arnold Retzer die Bedingungen und Hilfestellungen bei der Kultivierung einer liebevollen Partnerschaft überzeugend vertreten. Wir hatten uns alle miteinander arrangiert. Claudia ließ sich weiterhin den Pelz waschen, ohne W a s s e r. Die Zeit von 2012 bis 2014 habe ich als vollkommen entspannte Zeit in Erinnerung.

Der Wendepunkt trat ein, als der Freund dann 2014 Weltmeister wurde und im Zuge dieser Euphorie erstmals eine andere Frau an seiner Seite erscheinen ließ. In einer Frühphase – im Oktober 2014 verabredeten wir uns zu einer gemeinsamen Wanderung. Schon auf den ersten Metern vermittelte Claudia der Frau, dass niemand den Freund besser kenne als sie. Es entstand eine Frontstellung, die sich aus Oberflächlichkeiten nährte, die aber alle Qualitäten eines gediegenen Machtkampfes aufwies. Vermutlich war ich hier aufmerksamer und höchstsensibilisiert, weil ich mir andauernd die Frage stellen musste: „Warum in aller Welt gebärdet sich meine liebe Frau in dieser Weise?“ Ich habe mich nie für meine Frau geschämt, musste nun aber fortgesetzt erleben, dass sie sich über Monate und Jahre nicht entblödete, ihrem allerallerersten Freund gegenüber, der für kurze Zeit wieder ihr Freund geworden war, mit unübersehbaren Eifersuchtsgebärden zu begegnen. Der wiederum bestand irgendwann auf der Position: „Mit ihr, oder gar nicht.“ Dazu hatte ich ihn ermuntert mit dem schon leidlich bemühten Hinweis, er solle endlich mal wieder – neben Schwanz - auch Arsch in der Hose zeigen. Wenn er sich sein Leben nicht von seiner Wasch-mir-den-Pelz-Freundin diktieren lassen wolle, dann müsse er ihr die Stirn zeigen.

Das tut der Freund bis heute. Die neue Frau wohnt seit geraumer Zeit in seinem Haus. Der Kontakt zwischen dem Freund und meiner Frau ist inzwischen freundlich aber distanziert. Apropos Freunde: So ziemlich alle Freundschaftsbeziehungen der letzten 15 Jahre haben sich weitgehend auf das Niveau eines lockeren Miteinanders reduziert; man spricht da – statt von Freundeskreis sicher angemessener von einem durchaus gediegenen Bekanntenkreis, bis auf wenige Ausnahmen, die dem steten Wandel standgehalten haben. Das komplette Desaster, das ich auf meine Weise abzuwenden versuchte, offenbart sich in zwei relativ späten Briefen an den Freund und meine Frau. Auch 2015/16 war es für mich ein Leichtes meine Argumentation gedeckt zu sehen von der Hypothek, die aber inzwischen lange aus unserem Seelengrundbuch gelöscht war. Delikat in dieser Hinsicht, der Hinweis, mit wem ich/wir seit unserer Heyerberg-Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft lebe:

Güls, den 5.1.2015 (Teil 1) bzw. den 18.5.2016 (Teil 2)

Teil 1 vom 5.1.2015

Liebe Claudia, lieber Freund,

es wird Zeit für einen Brief. Es hat öfter Briefe zwischen uns gegeben. Seit 2008 galt dabei die Aufmerksamkeit immer Aspekten des Aufbruchs. Wir haben zuerst versucht, intime Paarbeziehungen und Freundschaft miteinander zu vereinbaren. Das ist misslungen. Keine Frau duldet die Konkurrenz sozusagen im eigenen Haus (mit kränkenden Provokationen, Schiurlaub über den Hochzeitstag oder intime briefliche Kommunikation). Die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz – wie Peter Fuchs sagt – ist alternativlos. Ich argumentiere gerne damit, dass Claudia dies im umgekehrten Fall nicht geduldet hätte. So ist es irgendwie logisch und auch folgerichtig, dass die Paarbeziehung zwischen Dir – dem Freund – und Deiner Frau letztlich definitiv gescheitert ist und eine „Revitalisierung“ ausgeschlossen erscheint. Jedes Wort darüber ist gesagt.

Der zweite Versuch, den Respekt vor intimer Paarbeziehung und Freundschaft miteinander zu vereinbaren, scheitert nun ebenfalls:

  1. Als Freund und Freundin – so kann man es auch in klugen und allzu klugen Erörterungen über Freundschaft (z.B. bei Arnold Retzer) nachlesen – ist es angemessen und kommt nahezu einer Verpflichtung gleich, den Freund vor erkennbaren Gefährdungen zu warnen. Die Sorge um den Freund ist eines der stärksten Indizien für wahre
  2. Diese Sorge und die Formen ihrer Mitteilung unterliegen den Kriterien einer vertrauensvollen, nahezu intimen Diskretion, die jederzeit die Beteiligten vor Bloßstellung und Brüskierung schützt.

Wählt man davon abweichende Formen der (öffentlichen) Kommunikation, die einer Brüskierung und Bloßstellung der Beteiligten gleichkommt, gefährdet und belastet man Freundschaft zutiefst. Vor allem setzt man sich der Vermutung aus, erneut den Machtkampf zu suchen, um Fragen der Höchstrelevanz zum Entscheidungskriterium für künftige Freundschaftsbeziehungen zu machen.

Noch einmal: Bedenken gegen eine neu entstehende intime, höchstrelevante Beziehung des Freundes (die das Ausmaß der einem selbst entgegen gebrachten Aufmerksamkeit relativieren) kann und darf man äußern: Dies aber nur diskret und wertschätzend (dem Freund gegenüber).

Sucht man den Machtkampf, setzt man sich zwangsläufig anderen Vermutungen aus und gefährdet das gesamte Beziehungsumfeld:

  1. Die Motive sind eigennützig und bangen um die eigene Höchstrelevanz.
  2. Die eigene Handlungsweise brüskiert Freund und Intimpartner gleichermaßen, einmal abgesehen von der Brüskierung der Intimpartnerin des Freundes.

Warum ist dies so folgenreich?

  1. Der Freund wird neuerlich in eine Entscheidung hinein gezwungen, in der es um die Klärung von „Höchstrelevanz“ geht. Er muss sich letztlich entscheiden für eine höchstrelevante, paartaugliche Form der Intimbeziehung und gegen die Freundschaft.
  2. Der eigene Intimpartner fühlt sich brüskiert und gekränkt, weil er die eigene Partnerin nicht als Freundin eines inzwischen selbst geschätzten Freundes erlebt, sondern als jemand, der wiederum Konkurrenz auslebt in Fragen der Höchstrelevanz.

Gibt es für die Nachvollziehbarkeit dieser äußerst knappen Form der Analyse hilfreiche Kriterien und Anhaltspunkte? Im Grundsatz folge ich der nüchternen – man könnte hier, im vorliegenden Zusammenhang, auch sagen – der resignativen Einsicht, dass nie irgendeine Frau wissen wird, wie sich irgendein Mann fühlt, dass sie nicht einmal wissen kann, wie sich irgendeine andere Frau fühlt (vice versa). Wir behelfen uns mit Konstrukten, die wir Empathie nennen oder Perspektivenübernahme, sollen dies unseren Kindern oder auch schon den Kindern in der Grundschule vermitteln.

Kann man das heilen? Man kann, aber – wie meist – nur um den Höchstpreis: Man kann sich entschuldigen – so wie es Bert Hellinger in allen ausweglos erscheinenden Situationen empfiehlt. Eine ernsthafte Entschuldigung in der Folge einer demütigen Selbstüberwindung ordnet das Feld neu. Hält man dies für aussichtslos, vermag man hier nicht zu folgen, verliert man den Freund und gefährdet die eigene Paarbeziehung (siehe Anhang vom 18.5.2016).

Und noch ein letztes Mal: Man kann über jemanden, der neu hinzukommt – wie im Falle unseres Freundes  – d e n k e n, was man will, man darf und muss diese Bedenken vielleicht zum fortgesetzten Gesprächsanlass in der Beziehung zum Freund nehmen, aber dies immer diskret und wertschätzend; ansonsten verliert man den Freund. Man lässt ihm sozusagen keine Wahl!

Selten in unserer fast achtjährigen gemeinsamen Freundschaft – von Eurer (vermeintlichen) Freundschaftsdimension (in der Zeit) mag ich gar nicht reden; sie war in der Tat bislang fast singulär (berücksichtigt man den immer wieder einmal einsetzenden Moduswechsel zwischen intimer und freundschaftlicher Beziehung), wie gesagt, selten war ich so sehr von Resignation eingenommen, wie gegenwärtig. Allerdings hatten wir früh schon die Einsicht im Sinne des Kölschen Grundgesetzes: „Et kütt, wie ett kütt“ und: „Et hätt noch immer jot jejange“ – ach ja,nicht zu vergessen: „Nix bleiv, wie et es!“

Euer Jupp

 

Teil 2 vom 18.5.2016

Liebe Claudia, lieber Freund,

nachdem ich – vor Wochen, wie oben schon betont, aus Resignation und Müdigkeit – begonnen habe, „unsere“ Geschichte noch einmal gründlich aufzuarbeiten, fiel mir heute obiger Brief in die Hände; immerhin aus dem Januar 2015. Was ich in diesem Brief versäumt habe, das hole ich in diesem Anhang nach. Ich erinnere mich, dass Claudia Euch beiden schon 2008 (ich meine mit „Euch beiden“ natürlich Dich, mein Freund, und Deine Frau) „Zweierlei Glück“ von Gunthard Weber empfohlen hatte. Auf S. 143f.  findet sich zu paartypischen Verstrickungen folgende Passage:

„Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld.“

Zum Ende solcher Verstrickungen schreibt er:

„Meist geht es zu Ende, ohne das einer Schuld hat, sondern es geht zu Ende, weil jeder in einer für ihn eigenen Weise verstrickt ist oder weil jemand auf einem anderen Weg ist oder auf einen anderen Weg geführt wird. Sobald ich aber eine Schuld ausmache, habe ich die Vorstellung oder Illusion, ich könnte etwas tun oder andere oder ich bräuchte sich nur anders verhalten, und alles wäre gerettet. Dann wird die Größe oder Tiefe der Situation verkannt und verlagert sich auf die Schuldsuche und Vorwürfe, die sie sich gegenseitig machen.“

Mit der seinerzeit aufgetauchten, zumindest aber in die Welt gebrachten Vorstellung, man müsse etwas zu Ende bringen, was vor 35 oder 40 Jahren begonnen habe, ist das verbunden, was bei Hellinger als „Größe und Tiefe der Situation“ verstanden wird. An dieser Größe und Tiefe kann man – nach allem, was geschehen ist – ganz sicher nicht zweifeln. Um hieraus aber tatsächlich einen  W e g   zu finden, empfiehlt sich nach Hellinger folgende Intervention mit schlichten, aber fundamental bedeutsamen und lösenden Sätzen:

„Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, den ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Meine Aufarbeitung dient allein dem Zweck, auf die seit zwei Jahren ausgelebte Verstrickung hinzuweisen. Nachdem der Freund endlich (!!!) wieder bereit war, einer anderen Frau als Claudia Höchstrelevanz und damit  V o r r a n g  einzuräumen, ist das Feld bereitet für eine Lösung der nie wirklich aufgelösten Verstrickung. Das hat schon die Frau des Freundes ihre 30 Jahre andauernde Paarbeziehung gekostet (mit der Konsequenz der nun endlich anstehenden – auch juristischen – Auflösung dieser Ehe – vice versa) und bedroht(e) auch des Freundes Neuorientierung in der Welt der Frauen; mich hat es zunehmend belastet, Claudia hat es belastet und letztlich auch unser beider Paarbeziehung, die uns kostbar ist!

So bin ich überzeugt (ich habe es in Heidelberg erleben dürfen, und ich habe es vor allem an Leib und Seele erleben dürfen, wie befreiend die von Hellinger empfohlene Intervention ist), dass damit endlich ein Weg in die Freiheit geebnet werden kann. Was Freiheit in diesem Sinne bedeutet, das wird Claudia mir zutiefst attestieren. Denn sie erlebt, wie sich R.B.-K. (meine Verstrickung aus 1997) und der Jupp in letzter Zeit häufig – rein zufallsbedingt – begegnen: vollkommen unbefangen, ohne jede Häme, ohne jede Spitze (Kränkung, Beleidigung, Herabsetzung); denn R. ist unsere neue Nachbarin auf dem Heyerberg!

Das dürfte doch endlich auch uns allen einen ersten unbeschwerte(re)n Blick in die Zukunft erlauben!

Der Euch nach wie vor gewogene Jupp

Ein paartherapeutisches Husarenstück - Zwischen Durchreise und Landnahme (20a)

„Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft – Emotionale Entwicklungen in Paarbeziehungen, Stuttgart 2007, S. 214).“

Als meine Mutter am 27. Juli 2003 starb, bewegte sich mein Schwiegervater zunächst behutsam, dann mit zunehmender Dynamik in die Demenz. Von 2006 an wurde er zuletzt – immerhin drei Jahre andauernd – zum bettlägerigen Schwerstpflegefall. Im März 2010 wurde er von seinen Leiden erlöst. Meine persönliche Lebensführung und –planung war umfassend an diese Entwicklungen gekoppelt; Dirk Baeckers Leitkriterium „das ist nahe genug“ schrumpfte auf ein Minimum an Abstand, weil ich es so – genauso – wollte. Was ich meinem Schwiegervater – meinen Schwiegereltern – verdanke, ist in den vorgeschalteten Aufzeichnungen ansatzweise angedeutet worden. Eine materiell begründete Asymmetrie habe ich im Modus der Dankbarkeit in eine emotional-fürsorgliche Komplementärhaltung übersetzt, die es mir erlaubte, von dem, was sie mir zugedacht haben, etwas zurückzugeben. Der 19. April 2007, von dem im nächsten Abschnitt die Rede ist, bedeutete in mehrfacher Hinsicht in gewisser Weise so etwas wie einen Wendepunkt im System Rothmund – in meinem Tagebuch findet sich unter dem 19.4.07 folgender Eintrag:

„Die Urinflasche nimmt Leo (mein Schwiegervater) nicht an, und seine nächtlichen Eskapaden führen langsam aber sicher zur völligen Auszehrung und Überforderung meiner Schwiegermutter. In der Nacht von Sonntag auf Montag kam eine Eskalationsstufe hinzu, die größten Anlass zur Sorge gibt: Lisa, meine Schwiegermutter, fühlte sich von Leo bedroht. Zum ersten Mal in all den Monaten rief sie mitten in der Nacht – um 2.45 Uhr – an mit einem dringenden Hilferuf. Ich war zehn Minuten später auf dem Heyerberg – einen Schlüssel hatte ich vorsorglich schon seit Monaten. Als ich aufschloss und eintrat, sah ich Leo in der Schlafzimmertüre stehen; meine Schwiegermutter war nicht zu sehen. Offenkundig erkannte er mich sofort. Ich ging auf ihn zu und beruhigte ihn durch beharrliches Zureden. Wir gingen gemeinsam ins Esszimmer und setzten uns dort an den Tisch. Leo versuchte mir zu vermitteln, dass er sich gegen böse Menschen zur Wehr setzen müsse. Erst zehn Minuten später kam Lisa – noch immer blass und zittrig – hinzu. Sie hatte ihren Mann ausgetrickst, ihn ins Wohnzimmer gelockt und dort das Licht ausgelöscht. Geistesgegenwärtig hatte sie das Telefon gegriffen und hatte sich dann über die Küche und die Diele in das rettende, abschließbare Gäste-WC geflüchtet. Anscheinend war Leo aus einem Traum erwacht, aber dabei nicht wirklich wach geworden. Er begann Lisa zu beschimpfen und handgreiflich zu werden: ‚Mach, dass du rauskommst, du dreckiges Luder!‘ Jedenfalls habe ich dann die restliche Nacht auf dem Heyerberg verbracht, meine Schwiegermutter zum Schlafen ins Bett geschickt und mit Leo die Zeit vertrieben. Zum Schluss lagen wir beide in den Liegesesseln im Wohnzimmer und haben die Dämmerung und den Sonnenaufgang über der Karthause erlebt – zeitweise selbst im Dämmerzustand.“

Im Frühjahr 2007 – an diesem 19.  April 2007 – erreichte mich eine e-mail, mit der ein alter Freund aus längst vergangenen Zeiten den Kontakt suchte. Eigentlich hätte die mail an Claudia gerichtet sein müssen, da es sich um ihren ersten langjährigen Freund – ich nenne ihn Freund – handelte. Der Freund – gut zwei Jahre jünger als ich – bewegte sich seinerzeit auf dem Höhepunkt jener Krisendynamik, die als Krise in der Lebensmitte in der Regel nicht eine Individualkrise bleibt, sondern auch in der Paarbeziehung und in der Familie für Turbulenzen sorgt. Wir hatten uns als Familien gegenseitig jeweils einmal besucht in den letzten 25 Jahren. Dass zwei Menschen eklatant ungeeignet füreinander sein können, stand bei den beiden immer außer Zweifel, zumal der Freund diese Lesart selbst bevorzugte und die Heirat erklärte aus einer frühen ungeplanten Elternschaft. Die kleine Familie lebte zunächst am Studienort des Freundes. Die Hochzeit selbst wurde seinerzeit bereits von den Eltern des Freundes boykottiert, weil sie aus ihrer Sicht nicht standesgemäß erschien. Der ältere von zwei Söhnen hatte eigentlich das Zeug dazu, elterliche Erwartungen zu erfüllen. Er schloss sein Studium mit einer Promotion ab und arbeitete zur Zeit unserer Kontaktaufnahme bei einem Global-Player im Management. In einem aufstrebenden Rheinstädtchen hatte man eine alte Villa gekauft und so renoviert, dass sich die Familie – mit inzwischen drei Kindern – ein standesgemäßes Refugium geschaffen hatte. Der Freund hatte auf dem ersten Höhepunkt der manifesten Krise keinen anderen Weg gesehen, als sich eine eigene, kleine Wohnung zu nehmen, um mit Abstand herauszufinden, wohin die Reise gehen könnte. Seine Wurzeln lagen in Neuwied, wo seine Eltern und sein Bruder mit Familie aktuell auch noch lebten. Die Eltern hatten es mit einem gediegenen Bimshandel zu Vermögen gebracht, begannen aber nun – ähnlich wie Claudias Vater – zu kränkeln und waren mit der Organisation des Alltags zunehmend überfordert. Hinzu kam die lebensbedrohliche Krebserkrankung des jüngeren Bruders, dessen berufliche und familiäre Probleme die elterliche Aufmerksamkeit und Fürsorge nahezu vollständig beanspruchten.

So stand der Freund eines Tages im Frühjahr 2007 vor unserer Haustüre. Es beginnt nun eine wunderschöne, über die Maßen romantikträchtige Geschichte, deren Verlauf – eingeschlossen das Handeln der Hauptakteure – nur verständlich wird, indem ich mir gestatte gewissermaßen rückwärts zu erzählen und das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn viele haben mich für verrückt erklärt – oder doch zumindest meine Rolle in diesem Stück nicht verstehen können, weil diese Geschichte nur mit meinem Zutun und gewissermaßen mit meiner Duldung sich so und nicht anders vollziehen konnte. Es ist gewiss ein glücklicher Zufall, dass 2007 Detlef Klöckners „Phasen der Leidenschaft“ (Stuttgart 2007) erschien. Seine Hinweise wirken wie eine Blaupause der Geschehnisse. Er schreibt:

„Die Einhaltung der Treueregel ist oft genug ein Pyrrhussieg der Liebe über die Leidenschaft …] Verlangt ist ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebt und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziert, das sich als Paar fördert, ohne sich persönlich zu vernachlässigen. Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (S. 216).“

Bei unserer ersten Begegnung hatte von uns dreien keiner eine Ahnung, was das nächste Dreivierteljahr uns bescheren würde. Dass wir alle reich beschenkt worden sind, kann sozusagen als Prämisse vorweggenommen werden. Auch fast vierzehn Jahre später begegnen wir uns freundschaftlich, weil wir alle miteinander unsere Lektionen gelernt haben. Ich teile die Auffassung Detlef Klöckners im Hinblick auf den Vergebungswillen vollständig. Dass wir unter dem Strich und auf lange Sicht miteinander eine win-win-win-Bilanz erreicht haben, mag eine gewagte Behauptung sein – und in einzelnen Nuancen von den Beteiligten auch unterschiedlich bewertet werden. Zu verstehen ist meine Annahme nur unter zwei Maßgaben: Erstens beruhte mein Vergebungswille auf einer Vergangenheit, die mich heilsökonomisch – so würde Peter Sloterdijk es ausdrücken – ins Defizit gebracht hatte und zwar in einem so gewaltigen Umfang und aussichtsloser Überziehung aller Konten, dass ich selbst ohne eine Schuldenerlass-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus meiner Schuldenfalle heraus hätte gelangen können. Zugegeben, dies ist meine ganz und gar subjektive Sichtweise – nicht jeder würde sie uneingeschränkt teilen –, aber meinem Lebens- und Schuldgefühl entsprach sie zur Gänze. Dies ist im Übrigen der Grund, warum ich so sehr darauf aus bin, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die Lernkurven, die wir genommen haben, insgesamt im Saldo einen außerordentlichen Reifeschub ausgelöst haben. Gewiss sind die Kurvenverläufe unterschiedlich steil. Ich hatte schlicht einen unlauteren Vorsprung, so dass ich schon intensiv im Lerngeschehen war, als die beiden anderen noch träumten.

Es ging alles sehr schnell – vielleicht zu schnell, so dass wir denkenden, fühlenden, kommunizierenden Menschlein gar nicht hinterherkamen: Denkwürdig das Pfingstwochenende Ende Mai 2007. Ich notierte in meinem Tagebuch:

„Ein intensives (verlängertes) Pfingstwochenende – zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen besucht uns der Freund; Samstag, Sonntag, Montag. Am Samstagabend gemeinsames Essen mit Rudi, sonntags bei angenehmem Wetter (obligatorische) Wanderung nach Winningen mit traditioneller Rast an unserem Lieblingsplatz und Einkehr in der „Hoffnung“; montags bei Regenwetter immerhin Hundespaziergang bis zum Ausblick „Überm Rath“ hoch über der Mosel. Der Ertrag? Enorm und exorbitant!!! Warum? Es sind Orgien der Selbstvergewisserung in schwierigem Gelände. Der Freund befindet sich auf dem Weg aus der Familie – am 27.6. wird er eine eigene Wohnung beziehen. Er sucht die räumliche Distanz und will versuchen in Verantwortung für die Familie Haus und Lebensstandard zu erhalten bzw. zu garantieren. Er reduziert sich auf gut 50qm. Das hat Rudi vor Jahren bereits realisiert. Er ist ein excellenter Gesprächspartner. Da stimmte die Chemie buchstäblich ohne Fremdeln. Er ist darüber hinaus geübt in der Praxis von Dreiecksbeziehungen. Und wir? Nun, bezogen auf das vergangene Wochenende ist Ergebnis und Befund nahezu eindeutig: Mosaikstein 1 – die Konstellation beflügelt uns! Mosaikstein 2 – In der Nacht von Sonntag auf Montag, nach einem schönen Abend im Landgasthaus Höreth in Kobern gehe ich müde und zufrieden gegen 0.30 Uhr ins Bett. Claudia und der Freund verkosten bis 4.00 Uhr in der Frühe Rieslinge. Sonntags in der Frühe, während ich zum Fußball gehe, absolvieren Claudia und der Freund ihre Einheiten im Kieserstudio. Das finde ich angenehm. Ich finde es entlastend – frage mich immer, wie exklusiv sind da meine Vorstellungen, insbesondere auch bezogen auf die von mir selbst beanspruchten Freiräume? Mosaikstein 3 – Angenehm, von viel Zustimmung getragen, die ‚Männergespräche‘ mit dem Freund; weitgehende Übereinstimmung in Fragen, unter welchen Bedingungen denn Beziehungen überhaupt ‚funktionieren‘ können. Mosaikstein 4 – Recht angenehm, jetzt schon ritualisiert die Vierer-Konstellation unter Einschluss von Rudi: erlaubt das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen und Vertrautheit bei gleichzeitiger Desillusionierung.“

Mitte Juni bricht der Freund einen geschäftlichen Aufenthalt in Dubai vorzeitig ab, weil sein Bruder nach einer OP das Krankenhaus nicht mehr verlässt und innerhalb weniger Tage verstirbt. Die Eltern sind überfordert. Der Freund kümmert sich und bittet uns um Asyl, weil er sich unter den gegebenen Umständen im Elternhaus unwohl fühlt. Die Mail-Kontakte zeugen schon nach wenigen Wochen von einer außerordentlichen Vertrautheit. Es ist ein Schweinsgalopp, der da einsetzt. Der Freund bedankt sich überschwänglich für die gemeinsamen Unternehmungen und ist vor allem gewillt, die Energie und die Erkenntnisse aus unseren nächtelangen Gesprächen in die Reparatur des familiären Desasters einzubringen. Legendär eine der ersten Mails mit dem Auftakt: „Ich bin gegen 16.00 Uhr mit wenig Stau um Köln – die geile Mucke von Van Morrison hat mich da entschädigt – und kleinem Umweg – musste mich zunächst beim Kieser entspannen, bevor ich in die ‚Höhle der Löwin‘ bin.“ Der Tenor ist positiv und zukunftsoffen.

Schon im Juni erreicht mich eine erste mail, mit der die Frau des Freundes das Feld sondiert und in Erwägung zieht, dass es vielleicht wirklich das beste sei, wenn man sich räumlich trenne, um mal Abstand und Ruhe zu bekommen. Aber es wird auch deutlich, warum es zwischen unseren Familien nicht funktionieren konnte. Seine Frau schrieb Ende Juni:

„Schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Was mich nur an der ganzen Sache ziemlich schmerzt ist, dass er in Claudia eine besonders gute Freundin gefunden hat. Er hat mir jedes Mal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich die ganze Zeit angelogen, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe… Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das tut man nicht, aber ich war so in Brass, da ist es eben passiert.“

Wenn ich die Schlüsselpassage meiner Antwort lese, ist mir sofort klar, dass dies für mein Gegenüber den Eindruck erweckt haben muss, ich sei komplett übergeschnappt. Ich habe aus Susanne Gaschkes ZEIT-Artikel zur Begrüßung eines neuen Jahrtausends der Paarkultur zitiert unter anderem, dass es verboten wäre, dass Partner sich gegenseitig ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten, und ebenso verboten sei natürlich das Kreuzverhör – einmal ganz zu schweigen davon, dass es ein absolutes No-go sei, das Tagebuch des Partners zu lesen. Und zum Schluss der Totschlaghammer:

„Ich weiß, das ist starker Tobak. Der zwingt uns, dass wir uns unserer Eifersucht und unserem Besitzdenken stellen. Mit einer ausgeprägten Haltung der Kontrolle und des Misstrauens gibt es keinen Weg zurück. Wir sind zwar verheiratet, aber wir sind nicht das Eigentum unseres Partners.“ Das simple Geheimnis unseres Neubeginns liege in einer völlig neuen Bedeutung der Verantwortung, die wir jeweils für uns selbst tragen. Sie solle weder Mut noch Geduld verlieren! Ich wünschte ihnen beiden, dass sie im Gespräch miteinander blieben.

So gänzlich ist mir nicht klar, ob hier ein absolut cooler – und vielleicht auch unterkühlter – Stratege schon akribisch Regie führte, oder ob nicht doch irgendeine Art von Hybris dafür sorgte, dass hier zwar jemand intuitiv, aber doch auch ziemlich unberechenbar an Fäden zog, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie die Akteure im einzelnen (re-)agieren würden. Schon am 15. Juli unterbreitete der Freund Claudia das Angebot ein kombiniertes Köln-Düsseldorfer Kulturpaket zu buchen. Wenn sie wolle, könne sie bei ihm („ich nehm die Matratze im Wohnzimmer) oder auch sonstwo übernachten: „Ist das ein Angebot?“ Sie solle doch einmal mit mir darüber sprechen. Kurzum: Claudia nahm das Angebot an. Am Horizont winkte in der Tat die von Detlef Klöckner avisierte „lustbetonte und verantwortungsfreie Zeit – frei von aktuellen Belastungen“. Schon am 20. Juli signalisierte der Freund Schlagseite. „Nach zwei für mich wertvollen Tagen mit Claudia ist sie inzwischen wieder wohlbehalten nach Koblenz zurückgekehrt. Darüber bin ich froh.“

Ich war auch froh und wurde Zeuge einer zarten, aber sehr konsequenten Annäherung. Ich erfuhr das außerordentliche Privileg, meine Frau durch die Augen unseres Freundes sehen zu dürfen:

„Du hast eine Frau, die mich fasziniert – wohlmöglich heute mehr als früher. Mir scheint, sie ist wie ein guter Wein, wird mit zunehmender Reife immer noch attraktiver. Aber was erzähle ich Dir? Du weißt das alles selbst, hast mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, was Claudia Dir bedeutet. Ich mache das an dieser Stelle genauso und kann nur sagen, ich empfinde mehr als Freundschaft, wenn ich mir ihr korrespondiere, telefoniere oder wenn wir zusammen sind.“

Zieht man an dieser Stelle bereits die Reißleine? Nichts lag mir ferner! Nun dachte ich zwar nicht primär an das weiter oben erwähnte heilsökonomische Defizit. Gleichwohl war mit latent permanent gegenwärtig, hier lauere eine Chance aus meiner Schuldenfalle herauszugelangen. Mit Interesse und Faszination las ich das vorläufige Resümee des Freundes:

„Ihr Interesse an meiner Person empfinde ich als sehr angenehm und aufbauend. Nach Paracelsus macht die Dosis die Wirkung. Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht schon anfange unter den Folgen einer Überdosis zu leiden, denn nach zwei Tagen Claudia geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Das ist der Grund, wenn ich Dir jetzt sage, ich werde am Wochenende nicht nach Güls kommen, die Quadriga muss ohne mich starten. Ich will meine Entwicklung weiter so positiv fortsetzen und habe das Gefühl, ich muss dazu wieder mehr Wasser unter den Kiel bekommen, brauche Abstand zu Claudia. Ich weiß, was jetzt kommt, Abstand erzeugt Nähe… wirst Du denken. Ich habe aber kein Rezept, als die Droge abzusetzen. Mit allen Nebenwirkungen …] Noch einmal, ich würde liebend gerne kommen, mag Euch alle – Claudia im Moment etwas zu sehr. Jetzt muss ich den Kopf wieder frei bekommen. Da kann es nur gut sein, wenn wir uns am Wochenende nicht sehen.“

Die coole Socke ist hin und weg und zieht selbstverständlich nicht die Reißleine – seine Reißleine. Er schreibt dem Freund, wie gut es ihm geht, seit er sich von der buddhistischen Haltung eines Wu-Wei – eines Handelns durch nicht Handeln inspirieren lasse. Ich signalisierte ihm, dass mir die Geschenke des Lebens – seit ich diese Haltung in mir kultiviere – nur so zuflössen. Reicher sei mein Leben nie gewesen als in den letzten Jahren, woran auch er einen Anteil habe. Ich betonte meine Hoffnung, dass die „offenkundigen bzw. die bekannten Veränderungen dies nicht wirklich in Frage stellen“ sollten. Das war wohl irgendwie ein bisschen eindeutig, andererseits aber nebulös genug, dass der Freund nun vollends auf eine gediegene Sandbank auflief und den letzten Tropfen Wasser unter dem Kiel verlor.

„Der Freund kommt heute (doch). Doch? Ja! Claudia ist eine Naive mit einem kleinen Anteil ‚femme fatale‘. Sie fährt zwei Tage nach Düsseldorf und verbringt zwei Tage bzw. zwei Nächte mit dem Freund und verdreht ihm den Kopf. Es gibt ein Spiel, das nur zu zweit geht. Claudia hat aber mit alldem ‚nichts‘ zu tun. Das heißt schlicht, sie genießt die ihr zukommende Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ‚Nebeneffekte‘ sind ihr unangenehm. Sie möchte, dass es ‚so schön‘ bleibt, wie es war. Der Freund kann/muss noch viel lernen. Warum die Offenbarung. Verfolgt er mehr, sollte er es diskret tun. Will er es ‚beherrschen‘, rationalisieren, sollte er eh schweigen. Zumindest wird es spannend.“

Am 21.7.07 habe ich diese Eintragung in mein Tagebuch vorgenommen. Wer im Erotop wandert und bereit ist, sich die Segel von den erotischen Übertragungsenergien blähen zu lassen, muss zuweilen auch mit stürmischer See rechnen. Adam Phillips kommentiert lapidar: Monogamie, aber drei sind ein Paar (siehe: FJWR: Kopfschmerzen und Herzflimmern, Koblenz 2005). Nach Peter Sloterdijk gehört zur Anthroposphäre prägend das Erototop. Es organisiert die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien und setzt sie als Eifersuchtsfeld unter Stress. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Sloterdijk meint, das erotische Feld werde unter Spannung gesetzt, indem die Gruppenmitglieder durch eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit ein Eifersuchtsfluidum entstehen ließen, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation gehalten werde:

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt (umso mehr), sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen.“ Zur Gruppenweisheit – so Sloterdijk – gehöre ein Eifersuchtsmanagement, das die Selbstirritationen in einem lebbaren Tonus halte.

Ich hatte sozusagen in dieser Disziplin 2005 mit Kopfschmerzen und Herzflimmern habilitiert. Die von mir zusammengetragenen Theoriebausteine traten nunmehr ihre ultimative Bewährungsprobe an. Mir war klar, dass ich mich in dem von Sloterdijk reklamierten Eifersuchtsmanagement zu bewähren hatte. Bis zur Verteidigung meiner Theorie sollte ich noch ziemlich genau ein halbes Jahr Zeit haben; Zeit, in der ich aus der (vermeintlich) komfortablen Position eines Beobachters zweiter Ordnung den Sturmlauf eines liebestrunkenen und liebesblöden Hasardeurs vor Augen geführt bekam; im Übrigen eine Rolle, die mir bestens vertraut war (siehe erstes Kapitel dieser Aufzeichznungen). Nur dass das Objekt der Begierde meine Frau war. Ich erinnerte mich der Analysen Sloterdijks. Seine Annahme, dass je ruhiger der Besitz gepflegt werde, desto eher die Eskalation verhindert werde, war zu überprüfen. Denn im Verbot mache sich bereits die Anwesenheit des Dritten bemerkbar,

„der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist […] Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung der Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen.“

Soweit der gute Peter Sloterdijk. Schon am 31. Juli (2007) kann ich in meinem Tagebuch nachvollziehen, wohin die Reise gehen sollte: Claudia und der Freund haben sich schon vor vielen Wochen in die Hand versprochen, gemeinsam Ski zu laufen. Und ich mag kaum glauben, dass ich in Sloterdijkscher Bierruhe notiert habe:

„Claudia begibt sich nach der Liebeserklärung des Freundes (die natürlich auch seiner Frau gegenüber alte Vorurteile und Einschätzungen bestätigt) in eine Situation, in der sie genau weiß, dass sie mehr ist als nur eine gute Freundin. Und eine solche Ausgangslage in einer Umgebung, die Claudia (die leidenschaftlichste Ski-Läuferin, die ich kenne) vermutlich erst so ganz und gar zu sich kommen lässt (in einer nicht vermeidbaren Zweisamkeit) - die halte ich für brisant und prickelnd. Sie unterscheidet sich auch von der Düsseldorfer Exkursion, insofern sie – Claudia – jetzt weiß, was sie vorher nur vermuten konnte! Das heißt, auch Claudia wird sich weiteren Entwicklungsschritten und Anforderungen stellen müssen, ob sie will oder nicht (da sollte man vermutlich schon eher wollen).“

Nun ja, sieben Wochen später hatten wir uns in einem stabilen Dreieck eingependelt; daneben war Rudi oft mit von der Partie. Zum 51sten Geburtstag von Claudia gab es Rosen über Rosen – die meisten und die schönsten von unserem Freund. Auch die alten Griechen wussten schon, worauf es ankam; Epicharmos (550 v.Chr. – 460 v.Chr.) wird der Aphorismus zugeschrieben: „Ein weiser Mann scheut das Bereuen, er überlegt seine Handlung vorher.“ Auch die alte Sloterdijksche Definition von Diskretion lässt sich hier bemühen, wonach diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. Die gemeinsamen Ski-Exkursionen standen schon in Aussicht, als ich für mich vermerkte – am 20.09.2007:

„Das Wochenende naht. Erstmals seit langer, langer Zeit begibt Claudia sich auf eine Fortbildung – von Freitag bis Sonntag; erstmals seit längerer Zeit ist dies ganz sicher auch ein Wochenende ohne den Freund. Auch er hat seinen Anteil daran, dass Claudia nun konsequenter erste eigene Schritte macht. Immerhin verbringt sie drei Tage an der Nahe mit Menschen, die sie allesamt nicht kennt. Ich freue mich darüber.“

Erst vier Jahre später - ich bearbeite die Steuererklärungen (auch für 2007) stelle ich fest, dass der gute Freund mit Claudia gemeinsam teilgenommen hat an diesem Zeichenkurs. Er hat sich im Übrigen auch schriftlich bei Claudia für diesen Zeichenkurs bedankt. Claudia hatte eine ursprünglich für Laura reservierte Buchung (nach deren Abspringen) für den guten Freund umgewidmet und auch buchungstechnisch beide Rechnungen beglichen. Es gehört mit zu meinem ungestillten Bedürfnis nach Schuldenerlass diese nun auch diskreten Strategien nüchtern einzuordnen – gewissermaßen als Auftakt zur Wiedergeburt des guten Freundes dort, wo vor 35 Jahren alles begonnen hatte. Die erste Woche der Herbstferien im Oktober war der Auftakt zu einer Reihe von Schi-Exkursionen, in deren Verlauf sich vielleicht auch erstmals die Frage stellte: Wer ist das Paar – wer und was passt hier zusammen. Die zweite Exkursion über den Nikolaustag hinweg nahm Claudia als Geschenk an und schrieb der Restfamilie:

„Ihr Lieben, finde es wirklich gut, dass Ihr mich bei meinen Ski-Touren unterstützt. Ich weiß genau, dass ohne Euch, ich diese Fahrten nicht machen könnte – allein schon wegen des Heyerbergs; habe außerdem den besten und tolerantesten Mann geheiratet, den man sich nur wünschen kann. Hoffe, Ihr habt einen schönen Nikolausabend, entspannte Tage ohne Mama/Moselperle. Hab Euch sehr lieb!!! Lasst die Bude stehen und sorgt für Biene!

Wahre Toleranz hat gewiss etwas von Selbstlosigkeit/Altruismus; man schreibt diese Haltung eher Engeln und anderen Außerirdischen zu. Es zeigt sich an meinem Tagebucheintrag vom 10.12.2007, dass ich zwar ein wenig weltentrückt erscheine, dabei aber ganz weit weg von der Haltung eines selbstlosen Menschenfreundes:

„Du kannst den Zauber nur selber nehmen; den Zauber und die Gelassenheit einer fragilen Situation, die nur Leichtes, Beglückendes und Positives für alle Beteiligten enthält. Du musst nur beginnen darüber zu reden und Eindrücke erwecken, die unangemessen sind. Das ist ein ausgeklügeltes, fragiles Gebilde, in dem der Freund und ich genau wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Nichts von alledem bedroht irgendwen, nichts von dem nimmt irgendwem irgendetwas – alle gewinnen …] Wäre es anders, würde all das, was uns gegenwärtig beschwingt und beglückt, vielleicht unwiederbringlich zerstört, zumindest irritiert. Ich weiß das, und ich lebe danach. Zum ersten Mal in all den Jahren herrscht diese unbedingte Entschiedenheit vor, von der Karl Otto Hondrich spricht, kein Taktieren, keine Unklarheiten, keine Rückfälle in alte Welten mehr. Von Anfang an habe ich die einmalige Chance begriffen und sie auch ergriffen, die in des Freundes Avancen und in seiner Offenbarung begründet liegen – ohne Angst; die habe ich auch nicht mehr vor mir selbst. Diese Haltung gibt mir Kraft und Sicherheit. Sie erlaubt mir ganz und gar zuerst bei mir selbst zu bleiben, ansonsten gäbe es den Freund in meinem Leben schon lange nicht mehr, womöglich keinen Heyerberg und auch keine Claudia mehr. Das alles ist so fundamental anders als noch vor zehn Jahren.“

Zukunft braucht Herkunft sagt Odo Marquard. Für die Zukunft erhoffe ich ein Fürsorgliches Finale! Wir schreiben inzwischen immerhin das Jahr 2021! Dass diese Hoffnung überhaupt im Raum steht, verdankt sich entscheidend der Tatsache im beginnenden Jahr 2008 nicht die Nerven verloren zu haben. Selbst diejenigen, die im Rückblick pauschal davon ausgehen, irgendwie im Leben klargekommen zu sein, werden unruhig, wenn sie sich nicht nur pauschal, sondern noch einmal en detail einlassen sollen auf das, was seinerzeit ihre Lebenswirklichkeit ausgemacht hat. Nun ist das zweifellos mit der Wirklichkeit so eine Sache. Ich will sie nicht überstrapazieren, sondern werde nun nach einem langen Auftakt den Zusammenhang zwischen Durchreise und Landnahme sehr kompakt wiedergeben:

Claudia und der Freund beschlossen – innerhalb eines Vierteljahres – über die Karnevalstage die dritte Ski-Exkursion – dieses Mal ins Montafon, das uns aus langjährigen eigenen Ski-Unternehmungen vertraut war. Mit zunehmendem Alter – und je nach Charaktertyp, Prägungen und Grundeinstellungen – schätzen Menschen den Zustand der Äquilibration. Damit beschreibt Jean Piaget einen Zustand, der uns nahelegt – geknüpft an ein authentisches Erleben – alles sei im Lot, in einem stabilen Gleichgewicht. In der Regel beruht diese Wahrnehmung auf einer (Auto-)Suggestion und verdeckt die Tatsache, dass wir ständig zwischen Assimilation, die uns leicht(er) leben lässt und Akkomodation hin- und herpendeln. Ständig sind wir gefordert zu prüfen, ob Geschehnisse, Anforderungen, Zumutungen eher mühelos in bestehende Problemlösungs- und Bewältigungsmuster zu integrieren sind, oder ob sie uns zu einer Erweiterung der gewohnten Muster veranlassen. Manchmal reicht der Hinweis: „Bring das in Ordnung, und wir reden nie wieder darüber!“ Manchmal reicht dieser Appell jedoch nicht hin. Mir lag ein solcher Kurzschluss ohnehin fern. Immer noch überwogen die Motive zu einem gediegenen Kontenausgleich.

Ein merkwürdiger Zufall fügt es, dass kein Geringerer als Bernhard Schlink in seinen 2020 veröffentlichen Abschiedsfarben in der von ihm konstruierten Dreiecksgeschichte den männlichen Hauptprotagonisten, Bastian, so agieren lässt, dass es zu einem Wochenendtripp  ins Montafon kommt. Von Seite 139 an beschreibt er die Fahrt – hoch in Gargellener Tal: „Dann kamen die Kurven, in denen sich die Straße zum Tal hochwand, dann das Tal, schneeweiß, sonnenbeschienen. Schon von weitem sah er die Pisten und die Lifte und die Skifahrer und Skifahrerinnen, zum Glück nicht viele …] Sie fuhren Ski, bis die Lifte abgestellt wurden. Sie lieferten sich kleine Rennen, überraschten einander mit plötzlichem Abschweifen von der Piste, fuhren vor- und hinter- und nebeneinander, als sei’s ein Tanz, saßen schwatzend und lachend im Lift. Als sie sich nach Sauna und Dusche zum Abendessen trafen, waren sie von schwereloser, beschwingter Müdigkeit…“

Claudia liebt genau diese beschwingende Atmosphäre, die tiefverschneiten Alpentäler – tagsüber bei strahlendem Sonnenschein und gegen Abend, mit einsetzender Dämmerung begleitet von leichtem Schneefall, der anderntags die Pisten bestens präpariert und die Welt einmal mehr in zauberhaftem Glanz erstrahlen lässt. Es fällt mir sogar leicht, zu begreifen, dass kaum eine eindrücklichere Wahrnehmung, kaum ein authentischeres Erleben vorstellbar ist, dass uns gleichzeitig unserer Endlichkeit vergewissert; ein memento mori der zuckersüßen wie der bitteren Art. Im Rückblick wissen wir – Beteiligten – alle miteinander, dass dieser Urlaub für den Freund den point of no return ausgelöst hat. Von nun an galt die Devise: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Alle Schranken und jede durch Loyalitätsimpulse begleitete Selbstdisziplinierung wurden orkanartig hinweggeweht. Auch wenn der reale, meteorologisch dokumentierte Orkan Emma erst am Tag des Showdowns – an einem Tag den es eigentlich nicht gibt, am 29. Februar – die Bühne weltuntergangsverheißend betrat, bewegten wir uns nach den Gargellener Tagen in stürmischer See. Der Freund bekundete seine feste Absicht künftig in Bigamie zu leben und machte meiner Frau einen Heiratsantrag und ließ keinen Zweifel mehr daran, dass Claudia die Frau seines Lebens sei.               

Ein kleiner Rückblick in das Jahr 1978:

Wie schreibt Detlef Köckner so verheißungsvoll: „Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen.“ Der Freund knüpfte an alte Zeiten an. Er war Claudias erster Freund. Die familiäre Enge und die Bedrängnisse beider schweißten sie zu einer Liebes- und Leidensgemeinschaft zusammen. In Briefen tauschten sie sich über ihre Nöte aus und fanden Trost in Gemeinsamkeit – in gemeinsamen Unternehmungen auf Augenhöhe; beide sind excellente Ski-Läufer. Das Fluidum dieser frühen Gemeinsamkeit erschloss sich in der gemeinsamen Lektüre dieser Briefe, die der Freund sorgfältig gehütet hatte, wie auf wundersame Weise, Vergangenheit und Gegenwart zerflossen in sich wechselseitig durchdringenden Interferenzen.

Aber kehren wir noch einmal kurz zurück in den Dezember 1978 – als mir Claudia bereits die Sinne vernebelte und mich wenige Wochen später zu semi-kriminellen Handlungen motivieren sollte. Kurz vor Weihnachten kam es zu einer amüsanten Begegnung in der seinerzeit einzigen Studentenkneipe, die Koblenz aufzuweisen hatte. Gemeinsam mit einem Wohngemeinschaftskumpel, meinem Bruder und dem verrückten Jopa (das ist der Meisterfotograf, der unsere Kindheit in ikonografisch so beeindruckender Weise verewigt hat – jenes Foto, das mich als einzigen Überlebenden der K9-Gang zeigt) waren wir zu einer Kneipentour aufgebrochen, ohne Frauen, die schmollend zu Hause saßen. Im Armen Josef kam es dann zu einer Zufallsbegegnung mit einer anderen – allerdings gemischten – Viererbande. Claudia war mit dem weiter oben bereits erwähnten R. – Claudias dritter, ohrfeigenerprobter Lebensgefährte –, einer Freundin und eben jenem besagten Freund, der in diesem Kapitel die Hauptrolle spielt, gleichermaßen auf einer Kneipentour. Es kam an diesem Abend im Armen Josef nur zu einem kurzen smalltalk. Jahre später erinnerten wir uns gemeinsam der durchaus delikaten Hintergründe, so dass ich heute die Kontinuitätsgedanken – man könnte auch von Vorhersehung sprechen – des guten Freundes durchaus nachvollziehen kann. So ziemlich genau dreißig Jahre später sollte die Vorsehung endlich zu ihrem Recht kommen. Es galt eben nur noch Claudia davon zu überzeugen.

Ich habe am 26.2.2008 um 4.10 Uhr folgende Eintragung im meinem Tagebuch vorgenommen – keine Bange: Alle Wiedergaben sind hygienezertifiziert und jungendfrei; dabei wird es auch im Fortgang meiner Erzählungen bleiben, deren einziges Motiv darin besteht, dem Unglauben und er Dankbarkeit eine Sprache zu geben, dass Claudia und ich uns heute tatsächlich auf ein gemeinsames fürsorgliches Finale einrichten!

„Fünf Tage nach meinem Geburtstag scheint sich etwas anzudeuten, wie eine Zeitenwende – ein Datum, das Vorher und Nachher deutlich voneinander scheidet. Über das schimmernde Glück, über das unbeschwerte einer silber geadelten Ehe scheint sich nun doch der Schatten einer beschwerten und von den Dynamiken des Eros beflügelten Zukunft zu senken. Des Freundes Mail vom Juli 2007, mit der er mir gegenüber seine Liebe – damals vielleicht noch seine Verliebtheit -  offenbart, hat Ende Februar eine Dimension erreicht, die uns alle einer nunmehr doch nicht mehr so ohne weiteres steuer- und kontrollierbaren Dynamik aussetzt: Der Freund ist am Samstag auf meine Einladung hin unser Gast gewesen. Nach einem schönen Samstag in seiner inzwischen ritualisierten Form (Wanderung nach Winningen – Abendessen in der Hoffnung – anschließend Wolf Maahn im Café Hahn) haben Claudia und der Freund ihr eigenes Ritual (Trinken bis in die frühen Morgenstunden) gepflegt. Wie will man mit der Frau seines Lebens leben?“

Es deutete sich ein Dilemma an, das wir wohl alle miteinander unterschätzten; selbst ich geriet jetzt in eine Situation, die durch ein Handeln im Sinne eines Nicht-Handelns, wohl kaum noch zu händeln war. Hier spielte nun Vieles ineinander, was einer schnellen Lösung des Dilemmas Vorschub leistete und einen weiteren Handlungsstau nicht zuließ. Eigentlich war das Ende einer Haltung markiert, die – wie man so treffend bemerkt – als Gestalt gewordene Inkonsequenz irgendwann nicht mehr trägt: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ führt schließlich zu einem Realitätsverlust, man könnte auch sagen zu einem Hitzestau, der nach Lüftung giert. Dass die Triebabfuhr nun mit Emma zu einem aufgewachsenen Orkan geraten musste, war letztlich auch nicht mein Wunschtraum. Im gediegenen Rückblick nach immerhin inzwischen mehr als 13 Jahren liest sich der letzte Akt dann auch wie das Drehbuch zu unserer Lieblingsserie – Claudia und ich lassen keine Folge des Bergdoktors aus (und wenn wir tatsächlich einen aktuellen Sendeplatz verpasst haben, muss das über die Mediathek nachgeholt werden).

Wir handelten das Drehbuch gemeinsam aus – unter Beteiligung aller drei Protagonisten (sollte mich der Mut nicht gänzlich verlassen, werde ich der Geschichte irgendwann auch einmal den ihr gebührenden literarischen Rang verleihen). Hier sei nur so viel angedeutet, dass ich so tapfer war, Claudia zu begleiten an den Koblenzer Hauptbahnhof. Dort ist sie in den Zug nach Düsseldorf gestiegen und am 29. Februar – das ist der Tag, den es nicht gibt – mit dem Freund wieder nach Koblenz zurückgekehrt. Emma erreichte in der Nacht vom 28. auf den 29. Februar Spitzengeschwindigkeiten bis zu 150km/h. Ich verbrachte diese Nacht alleine – wachend und schreibend; anders hätte ich nicht standgehalten:

Ich danke Euch für diese Nacht

Es ist ein Sturm in dieser Nacht.
Er tobt wie ein Orkan in meinem Herzen,
Hat mich um meine Seelenruh gebracht,
Gebar die Mutter aller Schmerzen.

Das Wüten der ganzen Welt in meiner Seele,
Doch mein Verstand bleibt kühl und klar:

Von nun an können alle sehen
Und müssen sich und andre überstehen.
Ein Sturm zieht über's Land,
Regiert gebieterisch mit harter Hand.

Und was uns ankommt hart und süß zugleich,
Das macht uns arm und reich zugleich.
Dionysos regiert in dieser Welt,
In der kein Stein den andern hält.

Er lässt die alte Welt vergehen,
Und eine neue wird entstehen!

Dionysos, der Gott des Leidens und des Sterbens
Treibt die Veränderung und drängt das Leben.
Der Eros ist die Sprache allen Werbens
Und lässt die Seelen ungleich beben.

So lad ich uns nun alle ein
Den Weg zu gehen - gemeinsam und allein!

Wie sehr liebst Du - mein lieber Freund - dies einzigartig Weib,
Nimmst einen Ehegatten gar in Kauf?
Ich liebe diese Frau, bei der ich bleib
Seit vielen Tagen schon, in denen Du bestimmst der Welten Lauf,

Ich liebe sie und kann's ertragen
Und will den Weg in die ménage à trois gar wagen;
Wohlwissend das an den Tag da drängt,
Was alte Ehen treibt und engt!

Doch bleibt Dein Weg ein Weg zu Dir;
Er führt Dich hin zu ihr und ihr!
Und Freundschaft mag uns zeigen,
Wohin sich unsre Herzen neigen.

 

 

Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? (18)

Mit den Unterscheidungen, die uns Dirk Beacker anbietet, lässt sich der soziale Raum noch einmal neu vermessen. Und viele der Nöte, der Konflikte – manchmal auch Ausweglosigkeiten –, die wir in uns verspüren und die wir bei anderen beobachten, werden verständlicher. Dabei hilft mir eine Metapher, wie sie Dirk Baecker in den Raum stellt:

„Stellen Sie sich vor …] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

Mir ist das widerfahren. Ich werde weiter unten erzählen, wie ich beinahe verrückt geworden wäre. Zuvor möchte ich allerdings an Beispielen erläutern, warum uns die Unterscheidungen Dirk Baeckers tatsächlich helfen können, den Sinn im Unsinn oder den Unsinn im Sinn besser zu verstehen. Beginnen wir einmal mit der Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie. Zu Beginn ist das ganz simpel: Zwischen Säugling und Mutter, zwischen Kleinkind und Mutter – zwischen Heranwachsenden und Eltern gibt es keine Symmetrie. Im Normalzuschnitt familiärer Triangulation gibt es nichts unerträglich Offenes. Es herrschen – wenn man Glück hat, im Modus liebevoller Zuwendung – die Regeln der Asymmetrie, die bestimmen, wer was darfworum es geht und wie lange es dauert. Auch in diesem Regelwerk gibt es selbstredend ein unendliches Maß an Variation.

Beginnen wir einmal mit der schlichten Erfahrungswelt eines Muttersöhnchens: Aus der Sicht eines Muttersöhnchens lässt sich summa summarum resümieren, das der Muttersohn den Schub zum Erwachsen-Sein erst mit dem Sterben der Mutter erfuhr (siehe das Schlusskapitel in Hildes Geschichte). Das dauerte in unserem Fall ein knappes halbes Jahr. Am 27. Juli 2003 – nach einem langen intensiven Abschied, den wir in allen Nuancen, wie einen Schierlingsbecher, bis auf den Boden ausgekostet bzw. ausgetrunken haben, entließ sie mich endgültig ins Leben. Sie gab mir ihre besten Seiten mit auf den Weg, und ich steckte den Schierlingsbecher weg. Alle Kraft und Energie – mit der sie weiß Gott im Übermaß gesegnet war – ging auf mich über. Für den Rest des Jahres (2003) war ich nicht von dieser Welt. Begonnen hatte all dies natürlich mit meiner ersehnten Geburt am 21. Februar 1952. Ich war der Augapfel meiner Eltern – bis Willi, mein Bruder, dazu kam. Von da an konnten die beiden auf beiden Augen sehen.

Mein Vater – dies habe ich schon mehrfach betont – war mit drei Augen gesegnet. Er hatte den Blick für seine Adoptivtochter und hütete sie (und ihren Sohn), bis er seine Augen endgültig schloss. Das war leider schon im April 1988 der Fall. Dass wir alles durften und nichts mussten, trifft die Wahrheit nicht ganz. Aber für alles, was wir anpackten, gab es den notwendigen Rückhalt. Unser Vater war weder zimperlich bei den Konsequenzen, die aus einem Fehlverhalten drohten noch bei unverhofften Solidaritätsbekundungen. Vor Gericht hat er einmal den Amtsrichter ermuntert, seinem jüngsten Sohn eine ordentliche Lektion zu erteilen, weil er – gemeinsam mit anderen – eine stämmige, gesunde Birke aus dem Neuenahrer Kurpark zwecks Verwendung als Mai-Baum (Ritual am 1. Mai im Rheinland, um das Herz der Erwählten aufzuschließen bzw. zu beglücken) gewildert hatte. Mir gegenüber hingegen ließ er absolute Milde walten, als ich ihm nachts – wenige Stunden vor Antritt einer Klassenfahrt nach Berlin – schuldbewusst den in einem Anfall akuter Liebesblödigkeit geschrotteten VW meiner Cousine (die in England weilte) vor die Türe stellte. Er drückte mir hundert  Mark in die Hand, wünschte mir augenzwinkernd viel Spaß in Berlin mit der Zusicherung, sich zu kümmern. Nachsicht und absoluter – ich möchte sagen bedingungsloser – Rückhalt zeichneten die Haltung beider Elternteile gleichermaßen aus.

Früh begleitete mich die Sorge um die Eltern. Schon in meinem achtzehnten Lebensjahr bangte ich um das Leben meiner Mutter. Nach der Entfernung der Gallenblase ergaben sich Komplikationen; eine Not-Operation wurde notwendig. Es entwickelte sich eine Krisis, die letztlich dazu führte, dass meine Mutter – seinerzeit noch die letzte Ölung (die Sterbesakramente) erhielt.. Meine Mutter erholte sich, um aber dann wenige Jahre später eine – vermutlich – wechseljahrbedingte Epilepsie auszubilden. Es dauerte recht lange, bis die unangenehmen, belastenden Anfälle durch eine zielführende Medikatierung minimiert werden konnten. Dafür kränkelte zunehmend unser Vater – wie weiter oben schon angedeutet – auch ausgelöst und begünstigt durch seine Kriegsversehrtheit. Theo Witsch, der Begründer des buena vista social club innerhalb eines Fußballvereins, musste seine Tätigkeit als Croupier im Spielcasino Bad Neuenahr aufgeben, arbeitete einige Jahre als Bühnenmeister im Kurtheater, bevor er Frühinvalide wurde. Die letzten Jahre widmete er sich seiner Familie und – wie gesagt – seinem heiß geliebten Fußballverein; er war Kärrner und Seele, Fan und Unterstützer in Personalunion.

Wem dies alles zu idyllisch, zu rosa-rot, zu inkonsistenzbereinigt vorkommt, dem sei versichert, dass die von Dirk Baecker angebotene Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie vom ersten bis zum letzten Atemzug als Leitunterscheidung bestand hatte. Ich möchte es nicht Regeln nennen, sondern Habitus bzw. bindungsspezifischer genetischer Code, die in einem radikal asymmetrischen Beziehungsfeld gleichermaßen keinen Zweifel daran ließen, wer was durfte und die vor allem präzise die Informationen enthielten, worum es (eigentlich immer) geht und ging. Dass sie darüber entschieden hätten, wie lange es dauert, ist nur insofern richtig, als es so lange dauerte, wie es dauerte; nämlich ein endliches ganzes Leben lang! Die von Karl Otto Hondrich im sozialen Feld der Familie betonten Kategorien der Bindung, der Geborgenheit, der Entschiedenheit und der Zugehörigkeit sind von meinen Eltern erfunden und gelebt worden.

Verlässt man das familiale Umfeld und beobachtet sich mit Blick auf die ersten Liebesbeziehungen, so wird schnell deutlich, dass – wie Dirk Baecker – betont, der Reflexionsraum der Symmetrie irgendwann fragwürdig, gar unerträglich wird, selbst wenn man felsenfest davon überzeugt ist, nichts anderes anzustreben, als die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz (Peter Fuchs); und zwar mit nur diesem, und nur diesem einen einzigen Menschen! Paradoxerweise ergibt sich aus der Ernüchterung für denjenigen, der aus diesem Sommernachtstraum irgendwann erwacht, eine radikale Umkehrung. Demjenigen, der an symmetrischer Kommunikation festhält, mit einer nun plötzlich aymmetrisch daherkommenden Haltung zu begegnen, gehört wohl zu den brutalsten Erfahrungen, die man im Liebesleben machen kann. Denn nun wird einseitig und neu definiert, wer was darf, worum es geht und wie lange es dauert. Ist es vorbei, oktroyiert der Erwachte nun für den anderen unverständlich und brutal, dass es vorbei ist. Und wenn es dann nicht nur Wochen und Monate dauert, sondern Jahrzehnte, bis sich die Enttäuschung und die Kränkung aufzulösen beginnt, taucht vielleicht am Horizont eine neue erlösende und auflösende Symmetrie auf. Mit Blick auf die Asymmetrie, die die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz in Frage stellt und relativiert, weist Dirk Baecker darauf hin, dass sie eben die Grenzen einer Beziehung markiert, nämlich die Definition dessen, was zu erwarten ist, was sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist

 

Ich schreibe, also bin ich! (19)

Und nun stellt sich die Frage erneut: Welche Welt tritt da zutage zwischen Wahlmöglichkeiten, Festlegungen, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Symmetrie und Asymmetrie?

Die letzten 25 Jahre habe ich darüber geschrieben, dass ich nichts anderes konnte als Achterbahnfahren – eine sanfte Achterbahn im Großen und Ganzen, so dass die lange Fahrt mich zeitweise einlullt(e). Dass es eine sanfte Achterbahn war, ist selbstverständlich nichts als eine Selbstbeschwichtigung und hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Schwindelattacken setzen unvermittelt ein, wenn ich mich tatsächlich einlasse auf das, was man eine authentische Wahrnehmung des eigenen Driftens in der Welt nennen könnte. Ich vertrage Achterbahnfahrten nicht. Das ist der Grund, warum ich in den Momenten des Absturzes nie das Gefühl hatte, dieser Absturz nähme ein Ende; mir war sterbenselend zu Mute. Allerdings all dies nicht, ohne dass ich vorher in schwindelnde Höhen aufgestiegen wäre wie weiland Ikarus. Im Gegensatz zu ihm habe ich meinen finalen Absturz und alle kleineren Abstürze überlebt, denn: Ich schreibe, also bin ich! Woher ich das alles weiß. Seit 22 Jahren führe ich Tagebuch. Wenn ich eine Ahnung bekommen will davon, wie es war, dann schaue ich in meine Tagebücher. 42 Jahre (siehe: Am Anfang war die Tat) geraten – neben dem Vorher – in den Blick. Fast 368.000 Stunden haben sich addiert. An diesem unvorstellbaren Stundenhaufen lässt sich erahnen, wie Körper und Seele über diese Zeitspanne jene Gestalt annehmen; eine Gestalt vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

Ins Erzählen komme ich allein schon deshalb nur mühsam und mit ständigen Vorbehalten, weil Skrupel und Ängste überwiegen. Die Sloterdijksche Devise, dass diskret sei, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll, bedeutet in Selbstanwendung die fatale Konsequenz, sich immer wieder und immer neu zu verfehlen. Man merkt ja – wie Dirk Beacker meint –, „dass man anfängt, zu viel zu wissen und etwas zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will“. Wem will man schon zu nahe kommen? Das ganze Geheimnis eines angenehmen Lebens gründet auf der Kunst des Abstands. Dir Baecker schreibt:

"Es ist die Kunst des Abstands, von der hier die Rede ist. Es ist eine Kunst, die mit der Distanz, mit der Differenz, mit dem Unterschied beginnt und sich von dort aus die Verhältnisse anschaut, um sich dann in ihnen und mit ihnen zu entscheiden. Es ist eine Kunst, die in der Lage ist, jede Einheit in eine Beziehung zu übersetzen und aus der Beziehung heraus zu variieren. Wer am längsten stillhält, hat verloren. Wem jene Bewegungen einfallen, die auch den anderen zu einer Bewegung verleiten, hat gewonnen. Leichter gesagt als getan. Aber deswegen reden wir ja auch von einer Kunst. ‚Nahe genug‘ ist mir das, wozu ich einen Abstand suche, weil ich die Beziehung nicht aufkündigen möchte. Ich übersetze fest Kopplung in lose Kopplung, rechne nicht mit der Zukunft, sondern mit der Gegenwart, und weiß, dass die Wahrheit Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.“

Ja, die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen! Um diese Blockade zu überwinden hilft nur eines: Ich muss das Pferd – meine Geschichten – von hinten aufzäumen. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass ich mich sozusagen rückwärts hineinarbeite in eine verrückte Welt, die ich eher ungläubig betrachte ob der Tatsache, dass ich sie überlebt habe. Bereits die Mohnfrau stellt den Versuch dar, das schier Unglaubliche begreifbar zu machen. Ich möchte es erneut versuchen. Dirk Baecker hilft meine Vorgehensweise und meine Motive präzise zu entziffern. Es hilft zunächst einmal mit Blick auf die letzte große Krise zu verdeutlichen, dass mir eine unendlich lange – und zuletzt steile – Lernkurve die Chance eröffnet hat, Handeln zurück in Kommunikation zu übersetzen. Ein überaus delikate und bemerkenswerte Konstellation über Wochen und Monate – und in modifizierter Form über Jahre – hat nicht verhindert, dass wir – Claudia und ich – glücklich sind, in diesem Jahr vor unserer Rubinhochzeit zu stehen. Allein in dieser Tatsache manifestiert sich das vorstellbare Glück in seiner umfänglichsten Dimension: Wir begegnen uns heute – nach vierzig Jahren – mit Blick auf ein fürsorgliches Finale. Wir sind gesegnet mit unseren Kinder und Schwiegerkindern. Unsere Kinder haben uns – in einem unmittelbaren Umfeld, das Abstand und Nähe ermöglicht. Wir haben inzwischen zwei Enkelkinder, und es könnten mehr werden. Generativität erleben wir als großes Glück. So bedeutet das späte Glück – einen starken Anker in den erodierenden sozialen Gefügen; ein solides Fundament der Bindung, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Entschiedenheit in einer dynamischen Welt.

Nähe – Abstand schafft Beziehung: Symmetrie und Asymmetrie in Beziehungen (17)

Lebt man weit über die Lebensmitte hinaus, dann weiß man, dass die Lebensweisheit: „Es ist selten zu früh, und niemals zu spät“ nicht wirklich überzeugt. Selbstverständlich kann man vieles im Leben versäumen, so dass man selber irgendwann an eine Grenze stößt, die man gemeinhin mit jenem point of no return bezeichnet, hinter dem das Niemandsland beginnt, hinter dem wir absinken in den unendlichen – jeder Chance eines Erinnerns – entzogenen Raum des ewigen Vergessens und des Vergessen-Seins. Vor diesem Abgrund schrecken viele Menschen zurück. Immer weniger Menschen finden Trost in den großen Erzählungen, die uns als Lebenden die Wurzeln unserer Identität suggerieren wollen. Vielfach ist die Rede vom Ende der großen Erzählungen. Aber was tritt dann an deren Stelle? Viele kleine Erzählungen? All diese Fragen entscheiden sich heute mehr denn je im Zuge der Regulation von Nähe und Abstand.

Der obige Hinweis auf heute alltägliche Konstellationen von Familiengeschichten hängt auch zusammen mit der Beobachtung, dass viele Menschen davor zurückschrecken, überhaupt einmal zurückzuschauen. Zu welchen Ergebnissen kommen wir, wenn wir über die wesentlichen Beziehungen, in denen wir leben und gelebt haben, nachdenken? Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? Für uns Ältere erweist sich der Blick zurück häufig als erschreckend und schmerzhaft. Schauen wir beispielsweise in Familienalben, begegnen wir Bildern, die noch Unikate waren; konfrontieren wir uns doch mit einer Zeit, da Instagramm noch eine vollkommen willkürliche und sinnfreie Buchstabenfolge bedeutete. Wir treten ein in eine Zeit, in der es noch nicht möglich war, in Bilderfluten untergehen und unkenntlich zu werden. Unter dem Gesichtspunkt von Wahlmöglichkeiten und Festlegungen eröffnen uns die alten Alben mit ihren eingeklebten vergilbten und verblassten Schwarz-weiß-Fotos die verkrusteten, zementierten Beziehungsverhältnisse in unseren Herkunftsfamilien. Jedes erinnerungsträchtige Foto offenbart, wie es vermeintlich ein für allemal war in unserer Kindheit und in unseren Familien. Kaum jemand vermag hier Spielräume für Wahlmöglichkeiten entdecken, trotz der Verheißung, dass es nie zu spät sei für eine glückliche Kindheit!

Das ein oder andere Mal kommt es vor, dass gute Freunde mir Aufzeichnungen anvertrauen mit der Erwartung – gar dem Versprechen, sie diskret und vertraulich zu behandeln. Sie seien nicht für eine Öffentlichkeit gedacht; eine Öffentlichkeit, der sich viele Menschen andererseits aussetzen, indem sie posten und mit Blick auf das, was sie (auch) umtreibt, zu verbergen suchen, wer und was sie eigentlich sind. Freilich ist es auch mit der Eigentlichkeit nicht weit her. Gleichwohl sind aber bei vielen – zumindest meiner Generation – Reflexe noch aktiv, die ihnen suggerieren – trotz aller nach öffentlicher Wahrnehmung gierenden Selbstvergewisserung – das Eigentliche im Verborgenen zu belassen: Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll! (Peter Sloterdijk) Dieses Grundgesetz eines takt- und respektvollen Umgangs miteinander ist genauso ambivalent und fragil, wie die unausgesprochene Prämisse im Umgang miteinander, wir sollten tunlichst unsere Eigentlichkeit als unseren eigentlichen Identitätskern schützen und nicht ständig allerorten mit heruntergelassenen Hosen herumlaufen.

Wenn z.B. die Realsatire – wie sie Ingo Appelt Berti Hahn in seiner Gratulation zum 40jährigen Jubiläum des Café Hahn angedeihen lässt – zum unverblümten Exhibitionismus gerät, dann will man nichts mehr  verbergen. Selbst die Ungeniertheit, die aus einem ruinierten Ruf resultiert, ist dann keine sinnvolle Unterscheidung mehr. Man versteht, warum Face-Book und Instagramm tatsächlich den gläsernen Menschen in einer gläsernen Welt meinen. Die lapidarste Erklärung für einen Striptease der erwähnten Art ist rein pecuniärer Art – pecunia non olet! Ingo Appelt – dat Äppelche – macht dem Berti auch heute noch die Bude bis auf die letzte Kloschüssel voll, wenn nicht gerade corona der Corona im Wege steht. Insofern haben wir es bei Berti Hahn und Ingo Appelt mit einer sogenannten symmetrischen Beziehung auf Schwanz- bzw. auf Augenhöhe zu tun. Berti Hahn hat dies bestätigt, indem er die Jubiläums-Laudatio Ingo Appelts auf seiner Face-Book-Seite gepostet hat, wir mir erzählt worden ist.

Dirk Baecker (Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 627-633) hilft uns zum besseren Verständnis mit einer schlichten Unterscheidung von symmetrischen und asymmetrischen Beziehungen auf die Sprünge:

„Wer auch immer in symmetrischen Beziehungen Erfahrungen sammeln durfte, weiß, dass darauf Verlass ist, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem man aus dem Wissenwollen ins Handelnwollen umkippt, weil man merkt, dass man anfängt, zu viel zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will. Die Asymmetrie, das dürfen wir nicht vergessen, ist auch eine Markierung der Grenzen einer Beziehung, nämlich eine Definition dessen, was in ihr sachlich zu erwarten, sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist. Der Reflexionsraum der Symmetrie ist unerträglich offen im Verhältnis zu den Regeln der Asymmetrie, die mich darüber informieren, wer was darf,  worum es geht und wie lange es dauert.“ (Bei Berti und dem Äppelchen war der Kipppunkt offenkundig erreicht, und eine wohltuende Asymmetrie offenbart, wer was darf, worum es geht und wie lange es wohl dauert.)


   
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