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Ein ehrenwertes Haus I (14)

In der Kreuzstraße 113 wohnten seit den frühen fünfziger Jahren Theo, Hilde mit Franz Josef und ab 1955 auch mit Wilfried. Theos Eltern waren 1948 – die Mutter – und 1951 – der Vater – verstorben. Theos Schwester, Agnes, bewohnte zu Beginn der fünfziger Jahre noch das Erdgeschoss, während die kleine Familie im ersten Obergeschoss Quartier genommen hatte. Im Dachgeschoss wohnte die Familie Siepen, der Vater Alkoholiker – im Übrigen der erste, von dem ich hörte, dass er in Ermangelung von Nachschub auch schon einmal Kölnisch Wasser getrunken haben soll. Die beiden Söhne Hermann und Toni erlernten ein Handwerk (Dachdecker und Anstreicher) und waren nebenher passionierte Fischer; die Ahr floss etwa 150 Meter – jenseits des Fußballplatzes –, und lieferte damals noch vom Aal bis zur Forelle einen ergiebigen Fischfang. 1959 wurde der Altbau saniert und umgebaut; eine Zentralheizung, fließend Kalt- und Warmwasser wurden installiert. Durch den Einbau einer Toilette und eines Bades mit Toilette ging die elende Zeit des Plumpsklos über den Hof endlich zu Ende. Heute muss ich mir deutlich vor Augen führen, dass die Eltern, die zwar durch die Angestelltentätigkeit des Vaters als Croupier im Spielcasino über ein regelmäßiges und durchaus ansehnliches monatliches Budget verfügten, drei der im Haus befindlichen Zimmer vermieteten, um ein Zubrot zu erwirtschaften. Im ausgebauten Dachgeschoss entstanden zwei Dachgauben; im ersten Obergeschoss wurde eines der Zimmer abgetrennt und gleichermaßen vermietet. Einige Jahre lebte ein Arbeitskollege des Vaters gemeinsam mit seiner Frau in diesem Zimmer. Im Dachgeschoss gab es wechselnde Mieter.

Die folgen- und segenreichste Vermietung ergab sich 1959 durch den Mietvertrag mit einem Zivilangestellten der Bundeswehr, die in Bad Neuenahr einige Dienststellen unterhielt: Bert Skala war technischer Zeichner (Bauzeichner). Er kam aus Nördlingen, wo er mit Frau und Schwiegermutter nach der Vertreibung aus dem Sudetenland (Karlsbad) eine neue Heimat gefunden hatte. Bis zum Tode meines Vaters und darüber hinaus bis zum Tode von Bert und Traudel entstand eine lebenslange Freundschaft der besonderen Art. Für mich persönlich ganz entscheidend waren die mehrwöchigen Besuche Traudels in größeren Abständen. Nach meiner Einschulung nahm sie sich meiner immer wieder an und half mir mit ihrer unendlichen Geduld einen Weg ins Buchstabenchaos zu finden. Gegenüber ihrer so ganz anderen, wohltuend unaufgeregten Art fasste das Muttersöhnchen tiefes Vertrauen zu diesen beiden fremden Menschen, die auf so ungewöhnliche Weise das Bild eines skurrilen, liebenswerten Paares verkörperten; er groß gewachsen, fast ein Hüne und dennoch rundlich. Sein Gesicht verströmte grundsätzlich gute Laune, verschmitzt, dominiert von aufsteigenden Linien mit einem eigenwilligen überaus gepflegten Oberlippenbärtchen – und außergewöhnlich lebendigen, kleinen Schweinsäuglein; sie klein und rundlich, weich, mollig in allen Körperregionen und immer in der Lage, gleichermaßen Freundlichkeit und Gleichmut zu verströmen. Allein schon die liebevolle wechselseitige Anrede mit Burli und Weibi vermittelten eine so ganz und gar andere idiolektalische Herkunft und einen über alle Maßen wertschätzenden Umgang miteinander. Um es vorwegzunehmen: Der Suizid Berts – etwa ein Jahr nach dem Tod Traudels – offenbarte die umfängliche Bedeutung jener soziologischen Definition einer intensiven Paarbezogenheit, die Peter Fuchs eingefallen ist: Bert und Traudel verkörperten für mich in Totalität die Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz auf eindrückliche Weise. Und doch gibt es da eine Nuance, die gleichermaßen irritiert und beeindruckt. Sie liefert wiederum George Steiner wohl ein gewaltiges Argument für seine Annahme, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt: Und es waren bei Bert und Traudel offenkundig  „Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs; jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse“ – und vor allem – „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist“.

Meine Mutter hat mir erzählt – so innig und vertrauensvoll war wohl die freundschaftliche Bindung zwischen ihr und Traudel –, dass die beiden nie in ihrem Leben eine sexuelle Beziehung miteinander gelebt haben. Traudel sei in den Kriegswirren der letzten Wochen in Karlsbad gemeinsam mit ihrer Mutter in die Hände russischer und tschechischer Soldaten geraten, mehrfach vergewaltigt worden und seither fernab jeglicher Form sexuellen Empfindens gewesen. Frappierend für mich war dabei, dass dieses Paar – Traudel und Bert – auf so ungewöhnliche Weise einen liebevollen Umgang miteinander pflegte, so dass es für mich in meiner Erinnerung – wenn dies je für ein Paar Sinn gemacht haben sollte – die vollkommene Symbiose, die komplementäre Ergänzung platonischer Hälftigkeit verkörperte. Ungewöhnlich für mich und eher kaum zu glauben, dass ich bereit war – als 13jähriger – eine Woche, 400 Kilometer von zu Hause, eine ganze Woche zu verbringen; die Korda-Oma und Traudl, und natürlich auch Bert, haben mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Szegediner Goulasch, jede Form von Strudel, alle erdenklichen Variationen von Mehlspeisen, gefüllte Paprika und vieles mehr erweiterten meinen kulinarischen Horizont. Meine Schwester mochte vor allem Bert und verbrachte als Jugendliche Ferienzeiten in Nördlingen und Siegsdorf – die Äußere Einfahrt 28 wird mir immer als Willkommensadresse in guter Erinnerung bleiben.

Das ehrenwerte Haus als offenes Haus sorgte durch die Beherbergung so unterschiedlicher Menschen, die vor allem auch unterschiedlichster landsmannschaftlicher Herkunft waren für so etwas – man könnte sagen – wie frühe kulturelle Vielfalt. Bendixens waren Nordlichter – aus Hamburg oder Schleswig-Holstein, Fräulein Butzke ist mir in Erinnerung geblieben vor allem als extravagante Erscheinung mit Turmfrisur – ein eher dunkler Typus; Elke Bendix hingegen war blond und eine gleichermaßen aparte Erscheinung. Dafür hatte ich allerdings noch nicht wirklich einen Blick und auch noch kein ausgeprägtes Interesse. Major Seidenschnur war in Uniform eine imposante Erscheinung; ihn umgab eine würdevolle Aura. Meine Schwester legte für ihn jene typische Teenager-Schwärmerei an den Tag – ähnlich wie bei ihrem hochverehrten und heißgeliebten Onkel Fred.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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