Totenrede für Dr. Gerd Wayand – Koblenz, am 9. November 2012 (Dr. F.J. Witsch-Rothmund)
„Ins nackte Dasein geworfen, gehen wir ins immerwährende Nichts."
Mit diesem Sinnspruch, lieber Gerd, machst Du dich aus dem Staub, wirst Du zu Staub – das alleine wäre allerdings immer noch mehr als „Nichts". Einer der von Dir so verehrten und respektierten großen Franzosen – so wie Du erklärter Atheist – macht uns auf die paradoxen und unlösbaren Widersprüche aufmerksam, mit denen sich „Materialisten" – trotz aller vordergründiger Evidenz ihrer Position – konfrontiert sehen:
„Da das Nichts Nichts des Seins ist, kann es nur durch das Sein selbst ins Sein kommen. Und es kommt zum Sein gewiss nur durch ein besonderes Sein, nämlich die menschliche Wirklichkeit."
Über diesen Satz von Jean Paul Sartre und seine Auslegung („Das Sein und das Nichts, Frankfurt 19989, S. 131) hätten wir trefflich einen Donnerstagabend gestritten. Fast regelmäßig an Donnerstagabenden haben wir gestritten, uns mit Literatur- und Filmtipps versorgt, Bücher und DVDs ausgetauscht und vor allem gemeinsam getrunken. Das war ein Stück unserer gemeinsamen „menschlichen Wirklichkeit" in den letzten Jahren geworden.
Dies ist nun unwiederbringlich vorbei und es bleibt die Erinnerung. An-fang November 2011, nach Eröffnung der finalen Diagnose, hast Du im Dormonts an einem Donnerstagabend zu mir gesagt: „Du musst meine Totenrede halten!" Du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben – habe ich mir gedacht – mich zu einem Deiner Trauerredner zu bestimmen, um ein erstes Zeichen der Erinnerung zu setzen. Jetzt wirst Du sehen bzw. die Anderen werden sehen, was Du davon hast:
Ich möchte den folgenden wenigen Erinnerungssplittern einen Rahmen geben. Eine zeitliche Spanne von fast 40 Jahren beginnt und endet mit der Leit-/Leidfigur Gerd Wayand; die Leitfigur, die 1974/75 (für mich) in Erscheinung tritt, schreibe ich mit hartem t und die Leidfigur, die seit November 2011 in Erscheinung getreten ist, schreibe ich mit weichem d.
Ich habe Dich – wie erwähnt – 1974/75 kennengelernt – als jenen smarten, charmanten, eloquenten, belesenen (Ver)Führer, der uns in seiner Wohnung (mit der schon damals beeindruckenden Bibliothek) eine gründliche Einführung in den „DiaMat" bzw. „HistoMat" und die Politische Ökonomie anbot. Nachdem wir 1976 die RCDS-Hochburg an der EWH-Koblenz geschliffen, AStA und STuPa fest in der Hand hatten, „gehörte" uns für viele Jahre die Rheinau mit der „Vorhölle" (der Studentenkneipe) und den Räumen der studentischen Selbstverwaltung. In der „Vorhölle" (damals ein paradiesischer Ort) tauchtest Du am frühen Nachmittag auf, und hast „Hof gehalten". Als politische und intellektuelle Autorität war Dein Rat gefragt und als der profilierteste Repräsentant einer – insbesondere sexuell pointierten – „Libertinage" hast Du einen Lebensstil demonstriert, der dem Zeitgeist ein besonderes Profil verlieh (ich glaube das war die Zeit – 1977/78 als du u.a. den dunkelblauen 635er CSI Alpina fuhrst). Du hattest die 30 bereits überschritten, Du warst beamteter Lehrer in Hessen mit Ambitionen auf eine akademische Karriere. In dieser Rolle warst Du eine prägende Leitfigur; Du hast eine ganze Generation politisch sensibilisierter und interessierter Studenten geprägt – mit einem besonderen Faible für das weibliche Geschlecht – auch darin warst Du uns partiell Lehrmeister und Konkurrent gleichermaßen.
Wenn ich nun springe – weit springe in die Zeit des intensiven Kontakts der letzten Jahre, dann trafen da Lebensentwürfe aufeinander, deren Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie sich auf je unterschiedliche Weise der Patina des Alters im Sinne einer „resignativen Reife" stellten: vom Impetus der Weltveränderung zu der Martin Walser geschuldeten Betrachtungsweise des Alters: „Ich verändere nichts, aber alles verändert mich". Zugegeben – da gab es starke Nuancierungen: Du hast den Kapitalismus nicht nur studiert und kritisiert; du hast ihn auch geritten, gewissermaßen gerockt! Wie oft musste ich in den beginnenden Zeiten der internetfähigen Handys donnerstags abends die Kurse exotischer Aktien ermitteln, mit denen du – Kostolany gleich („Einer Frau und einer Aktie darf man nie nachlaufen, die nächste kommt bestimmt") – spekuliert hast und dein Portfolio eigensinnig und ohne Bankberater verwaltet hast.
Insofern warst Du nicht veränderungsresistent, sondern ungemein wandlungsfähig. Und meine anfängliche Versuchung, Dir wie dem Brechtschen „Herrn Keuner" zu begegnen, der erschrak als ihm ein Bekannter nach langjährigem Wiedersehen eröffnete: „Sie haben sich gar nicht verändert" relativierte sich eindrucksvoll.
Du bist nicht erschrocken! Warum auch? Deine Verankerung in der marxistischen Theorie und Philosophie à la Louis Althusser wies ein große Kontinuität auf – erweiterte sich aber ständig um ein beharrliches Eindringen in die abendländische Philosophie (Florian wird sicherlich einen Einblick in die Schwerpunkte Deines akademischen Wirkens in Marburg geben). So war immer für eine Menge Spannung gesorgt, wenn wir zusammenkamen, denn Differenzen schaffen Spannungen, die wir weidlich zelebriert haben.
Eine denkwürdige Nacht haben wir im Dormonts verbracht, als Du mit Rudi Krawitz die philosphiegeschichtliche Bedeutung Immanuel Kants diskutiert hast. Da warst Du – zwischen Louis Althusser und Michel Foucault – in Deinem Element, das hast Du undendlich genossen. Eher als Beobachter dieses Disputs habe ich Dir den Spitznamen „Der Leguan" gegeben: Einer alten Echse gleich – vom Leben und der Leidenschaft zur Theorie gezeichnet, bereitetest Du auf eine faszinierende Weise „züngelnd" – die Argumente deines Kontrahenten gewissermaßen sinnlich antizipierend – Deine jeweilige Gegenargumentation vor – in bester dialektischer Manier.
Mir hast Du gestattet, Dich zu amüsieren: Als ich Dich 2005 in einem meiner Bücher in die Schlüsselszene um Roland Barthes mit einem bescheidenen, aber prägnanten Auftritt hineinschrieb, hast Du Dich herzlich amüsiert – und Du hast mir diese Marotte verziehen.
Fortan haben wir – gemessen an Deinem bevorzugten und kultivierten Lebensstil als Städter – verrückte Sachen gemacht. Auf den Feldwegen – immer linksmoselanisch – haben wir Wanderungen unternommen, Du immer im Straßenanzug, mit Straßenschuhen. Auf diese Weise hast Du vor zwei Jahren noch – unter Überwindung teils 24%iger Steigungen durchs Mühlental bei Kattenes den Gipfel zur Kehrkapelle erklommen; ein Jahr bevor Du begonnen hast jenen Gipfel zu besteigen, der Dein finaler werden sollte.
Exakt ein ganzes Jahr von Deinem 66en bis zu Deinem 67en Geburtstag hat diese Anstrengung angedauert. Die Leitfigur der 70er Jahre ist verblasst und ist im Leiden des letzten Lebensjahres einer anderen, beeindruckenden Leitfigur gewichen:
Niemals hast Du uns tiefer und nachhaltiger beeindruckt als in diesen letzten 12 Monaten Deines Lebens. Ich weiß, dass Du Dich in den letzten Jahren verstärkt auch mit der Philosophie der Antike, insbesondere mit den großen Griechen beschäftigt hast. Nach Aristoteles hält der Tapfere dem Furchtbaren stand: „Das Furchtbarste ist aber der Tod" – so Aristoteles – und weiter: „Im echten Sinne also darf als tapfer bezeichnet werden, wer keine Furcht hat vor dem Tod." Seit Platon zählt die Tapferkeit zu den vier Kardinaltugenden. Und sollte ich jemanden benennen, der uns diese Kardinaltugend im Angesicht des Todes auf eine so unvergleichliche, tief beeindruckende und berührende Weise verkörpert hat, dann bist das heute Du ganz alleine: Gerd Wayand.
Du hast uns noch so viel mehr gezeigt, und ich wage es anzuknüpfen an einen gleichermaßen fruchtbaren Streit, den Du, Rudi und ich über Heideggers „Feldweg" geführt haben. Der endet mit dem Ausblick: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Gott? Alles spricht den Verzicht in das Selbe. Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft."
Ohne es zu wollen, vielleicht ohne es zu wissen, hast Du uns in Deinen letzten Lebensmonaten beschämt mit Deiner bescheidenen, für Dich vollkommen selbstverständlichen Gegenwart und ungemeinen Präsenz in unserer Mitte. Und deshalb haben wir Dir am vergangenen Mittwoch in Deinem Gedenken an der Kehrkapelle mit Hölderlin in leicht abgewandelter Form zugerufen – und ich möchte es hier an dieser Stelle wiederholen: „Im heiligsten der Stürme falle zusammen deine Kerkerwand. Und herrlicher und freier walle dein Geist ins unbekannte Land."
Über den Tod „wissen" wir Lebenden nichts, während Sterben und Trauer diesseitige soziale Phänomene sind, die wir mit Ritualen gestalten können. So danke Dir für Dein Vertrauen und die Ehre, heute hier sprechen zu dürfen, und für die Einladung ins Dormonts nach der Trauerfeier, wo wir so viele gemeinsame Stunden verbracht haben.
Herbert Gudjons: Die Gleichsetzung von körperlichem Ende und Tod im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung war ein fataler Fehler... Leben sei mehr als körperliche Existenz. Unsere westliche Kultur habe keinen Raum mehr für ein Denken, nach dem der Tod nicht das Ende der geistigen Existenz des Menschen sei. Unsere Gedanken, unser Gedenken und die Totenrede sollen nahelegen, dass einiges für diesen Hinweis von Herbert Gudjons spricht.