Hadde och Bärchje?
Danke, Sabine Friedrich – Wer wir sind (Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012), verrückt genug, diente mir vor Jahren als Quelle. Es gibt viele markierte Textstellen und Post-its, zur Orientierung in einem mehr als 2000 Seiten umfassenden Roman. Ich war schon immer auf der Suche nach einer Meta-Studie über den deutschen Widerstand. Sabine Friedrich hat sie in Gestalt eines Mega-Romans geliefert.
Sabine Friedrich schreibt in ihrem Werkstattbericht (ebenfalls München 2012) zu ihrem Roman auf Seite 15:
„Das Thema entwickelte einen Sog. Es riss mich davon. Ich verlor den Boden unter den Füßen.“
Ich hatte nie Boden unter den Füßen. Das wird mir umso klarer, wenn ich bei Sabine Friedrich lese:
„Alles war grenzenlos. Christlicher Widerstand, kommunistischer Widerstand, bürgerlicher Widerstand? Stauffenberg, Weiße Rose, Rote Kapelle? Westen, Osten, links, rechts? Graf Moltke las Spinoza, Adam von Trott zu Solz promovierte über Hegel und zitierte Konfuzius, der Kommunist Philipp Schaeffer schrieb seine Doktorarbeit über den buddhistischen Erneuerer Nagajurna, und Anna Seghers schickte ihm ein chinesisch-deutsches Wörterbuch in die Haft. Arvid Harnacks amerikanische Ehefrau Mildred las Goethe, Homer und neuenglischen Tanszendentalisten, sie besuchte Rebecca West in London, und die warf sie hinaus. Mildreds Mann Arvid Harnack, ein Kopf der Roten Kapelle, war ein Cousin des religiösen Sozialisten Ernst von Harnak, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet wurde. Ernsts Onkel war der liberale Historiker Hans Delbrück, der sich im Ersten Weltkrieg energisch gegen Großadmiral Alfred von Tirpitz und dessen Vaterlandspartei gestellt hatte, und Tirpitz‘ Großneffe Harro Schulze-Boysen war der andere Kopf der Roten Kapelle. Brisbane, Fourier, Kant, Rilke, Nietzsche, Marx, Jünger, Moeller von den Bruck und die Bergpredigt liefen zusammen. Von Schlesien nach Berlin gingen die Wege, weiter nach Amerika, Südafrika, China, England. Der Theologe Paul Tillich verbrachte seinen letzten Urlaub vor der Emigration mit Adolf Grimme, dem letzten preußischen Kultusminister, der seit Studententagen mit Adam Kuckhoff von der Roten Kapelle eng verbunden war. Kuckhoffs Freund Hans Otto heiratete Kuckhoffs erste Frau und spielte mit Gründgens in >Faust II<, und Kuckhoffs zweite Frau war die spätere Notenbankchefin der DDR. Zunächst jedoch war sie Sekretärin bei Karl Mannheim am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo Theodor W. Adorno sich bei Paul Tilllich habilitierte, zur gleichen Zeit, zu der Harald Poelchau, der Gefängnispfarrer von Plötzensee, der die Verurteilten der Roten Kapelle zur Hinrichtung begleiten würde und auch viele der Männer des 20. Juli, bei Tillich promovierte. Und so ging es weiter und immer weiter.“ (Werkstattbericht, Seite 15.f)
Ich springe in meiner Biografie 54 Jahre zurück – in das Jahr 1970. Und ich schließe mich Darius Wortmann an. Darius Wortmann? „Der Erzähler, den ich (Sabine Friedrich) erfunden hatte, damit er sich schützend vor mich stellen sollte.“ Sabine Friedrich gibt ihrem alter ego auf den Seiten 104-110 ihres Werkstattberichts die Ehre und entlässt ihn:
„Und so irrt er nun noch immer durch Berlin, hadert mit sich, seinem unstillbaren Appetit und seiner Unfähigkeit, das Buch zu schreiben, das ich ihn doch tatsächlich habe schreiben lassen. Ich würde gern gerecht zu ihm sein und ihm zumindest das Schlusswort gönnen. Also: Nun noch ein Ort. Darius Wortmann in Plötzensee.“
Ich folge Darius Wortmann – als 18jähriger. Es ist meine erste Reise nach Berlin, als Betreuer einer Jugendgruppe meines Heimatvereins (SC 07 Bad Neuenahr – das liegt sozusagen am Fuße der Ost-Eifel). Wir sind in den Katakomben des Olympia-Stadions untergebracht. Auf dem Veranstaltungsplan steht ein Besuch in Plötzensee. Ich war nicht vollkommen allein, wie Darius Wortmann:
„Es ist niemand da, nicht einmal Aufsichtspersonal. Er betritt den Hof. Da ist der Schuppen. Er geht ganz nach hinten, dann dreht er sich um. Dies muss der Weg sein. Von hier müssen sie gekommen sein […] Er geht auf den Schuppen zu. Im Nebenraum erinnern die vertrauten Bilder, die vertrauten Texte an die Ermordeten.“ (Seite 105f.)
Darius Wortmann hilft mir, mich zu erinnern. Ich weiß nicht, ob ich mich gut vorbereitet wähnte. Ich bin damals Schüler eines Aufbaugymnasiums – nach acht Jahren Volksschule und einem Jahr Handelsschule und: bereits Absolvent einer Ehrenrunde in der Obertertia. Ich bin inzwischen Oberstufenschüler, dessen Interesse und Aufmerksamkeit für Literatur und die Geschichte des 20. Jahrhunderts geweckt ist – den point of no return, den Umkehrgrenzpunkt habe ich für ein und allemal überschritten, vom Apfel der Erkenntnis gegessen. Heute gibt mir Darius Wortmann buchstäblich das Wort für etwas, was vor 54 Jahren für mich dennoch nicht zu greifen war:
„Darius steht und sagt ihre Namen auf. Er versucht sich an alle ihre Namen zu erinnern, keinen zu vergessen, das ist natürlich gar nicht möglich […] Er bittet um Vergebung. Wofür? Er hat nichts getan […] Er ist erschöpft, er möchte gehen. Und er hat keine Blumen mitgebracht. Er bedauert, keine Blumen mitgebracht zu haben. Er bedauert es zutiefst, so als könnte das etwas ändern, irgendjemandem etwas bedeuten […] Er darf gehen.“ (Seite 109)
Ich darf noch nicht gehen und höre in unmittelbarer Nähe, wie einer der mir anvertrauten Jungs am damals eingerichteten Informationsschalter die hier Anwesende fragt: „Hadde och Bärchje?“ Ins Hochdeutsche übersetzt begehrte der – vielleicht dreizehn-, allenfalls vierzehnjährige Junge – zu erfahren, ob man hier auch einen Berliner Bären kaufen könne, das Berliner Wappentier.
Auch nach 54 Jahren erinnere ich zumindest noch seinen Familiennamen: Krieger aus Gimmingen (heute ein Stadtteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler). Noch heute, nach 54 Jahren, überkommt mich eine Scham, die seinerzeit nach einer besänftigenden, vielleicht hilfreichen erklärend-belehrenden Geste suchte; und hoffe, dass sie dem kleinen Krieger irgendwann zuteil geworden ist; dass er kein Krieger wider die Errungenschaften einer damals noch in den Anfängen steckenden deutschen Erinnerungskultur geworden ist. Von denen gibt es unterdessen so unsäglich viele, denn einer ist bereits einer zu viel!
Deshalb schließe ich meinen Dank an Sabine Friedrich mit meiner Adaption von Erich Kästners Marschliedchen ab, ohne zu versäumen ihr mitzuteilen, dass ich jeden Tag bzw. Abend aus ihrem Roman laut vorlese, so dass außer mir jedenfalls noch meine Frau Anteil nehmen kann, in welch gleichermaßen gewaltiger wie einfühlsamer Weise Sabine Friedrich erkennen lässt, wer sie waren und sind.
Marschliedchen 2022 (hier im Vergleich auch die Originalversion Kästners)
Die Dummheit zog in Viererreihen (so zieht sie immer noch),
Heut schämt sich die Dummheit selbst der Dummen.
So dämlich wie ihr seid, mahnt sie euch zu verstummen
Statt Idioten gleich nach deutschem Wesen heut zu schreien.
Ihr kommt daher und wärmt die schalen Suppen,
In euren Schädeln haust ein brauner Geist,
Der euch verwirrt und alles mit sich reißt -
Nur nicht von euren Augen alle Schuppen!
Marschiert ihr nun in Chemnitz und in Halle…,
Ihr findet doch nur als Parade statt,
Denn das, was jeder da von euch im Kopfe hat,
Man nennt es Dum(pf)mheit wohl in jedem Falle!
Weil wieder predigt ihr den Hass
Und wollt die Menschheit spalten -
Statt schlicht an Recht und Ordnung euch zu halten,
Wähnt ihr das Volk zu sein und träumt vom völkisch-deutschen Pass!
Ihr habt die Trümmerwelt im deutschen Wahn vergessen,
Von Schuld und Sühne ist die Rede nie,
Ihr brüllt nach deutscher Größe selbstvergessen;
Ich hoff, ihr schießt euch nur ins eigne Knie!
Ihr wollt die Uhren rückwärts drehen
Und stemmt euch gegen die Vernunft.
Dreht an der Uhr und doch: die Zukunft
wird euch als ewig gestrig sehen!
Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen,
Denn ihr bleibt dumm, nicht auserwählt!
Die Zeit ist nah, da man erzählt:
Das war’s: ein Staat ist mit Idioten (und auch der AfD) halt nicht zu machen!
Nachbemerkung: Zur Scham gegenüber Versäumnissen derer, "die nichts getan haben": Ich bin Lehrer geworden. Die letzten 25 Jahre meines Berufslebens habe ich Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. Mein erst seit 2014 online verfügbarer Blog findet ein zentrales Motiv in der Auseinandersetzung mit den seit Jahrzehnten latenten und in den letzten Jahren immer breiter auftretenden rechtsextremen Bewegungen in Deutschland und in Europa:
- Zur Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, dem Kronjuristen der Nazis I
- Zur Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, dem Kronjuristen der Nazis II
- Björn Höcke und Alexander Gauland
- Alexander Gauland - eine Drecksau?
- Jürgen Habermas - oder: Et hätt noch immer jot jejange!
- Blubo und Brausi - Niklas Luhmanns Anregungen zu einem Nachruf auf die Bundesrepublik
- Hier kräht der Krah!
- Zum ewigen Frieden
- Hommage à Enzensberger
- Erich Kästner - Wie kann das sein?