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Eine erotische Ökologie?
Vor einigen Wochen, noch beeindruckt und erregt durch die Lektüre, empfahl mir Reinhard Voß Andreas Webers "Lebendigkeit - Eine erotische Ökologie" (erschienen im Kösel-Verlag, München 2014). Das Vorspiel weckt Neugier:
Andreas Weber beschreibt die Errettung zweier Mauersegler aus einem Kamin. Ihre Befreiung und ihr pfeilartiges Entschwinden und Wiederkehren eingewoben in die komplexe Choreografie einer Mauerseglerkolonie entfaltet sich in reiner Poesie. Andreas Weber ist Biologe und als Biologe Poet. Man hat den Eindruck, in seinen Beschreibungen erfülle sich die Idee Niklas Luhmanns, der meinte, es fehle uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie:
"Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist (in: Soziologische Aufklärungen, Band 6, Opladen 1981)."
Wenn Andreas Weber "Liebe als ökologisches Phänomen" beschreibt, springt eine Deutung von Wirklichkeit ins Auge, die einem System-Umwelt-Verständnis Luhmannscher Prägung nahekommt. Er folgt nämlich einem Prinzip, "das aus der Berührung zweier Pole stets ein Drittes schafft", eine relationale Welt, die sich nie wirklich nach einem Pol hin auflösen lässt. Es geht dabei um die Einheit der Differenz, in der sich die Vorläufigkeit und dynamische Verflüssigung unserer Unterscheidungen heillos manifestiert. Umso interessanter fällt mein Gesamtvotum nach Abschluss meiner Lektüre aus, denn Andreas Weber vermag diesen Anspruch nicht einzulösen. Das ganze Gegenteil ist der Fall - ein Rückfall in eine Welt, die noch glaubte - gewissermaßen als objektiver Beobachter ein gelungenes Selbst von einem verfehlten Selbst unterscheiden zu können.
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Kann ich etwas lernen von Dorothee und Fulbert?
1998 erschien bei GTB ein Bändchen mit dem Titel: "Wie wir wurden, was wir sind - Gespräche mit feministischen Theologinnen". Ilona Nord interviewt Dorothee Sölle: "Klarheit macht nicht notwendig lieblos"; eines der sechs von 19 Interviews, die Ernst Begemann wohl zur Lektüre markiert hatte. Ja, auch dieses Büchlein entstammt dem Nachlass von Ernst Begemann. Heute Morgen auf dem Weg zur Kehrkapelle hat Rudi Krawitz, der den bibliothekarischen Nachlass verwaltet, noch dazu ermuntert, Ernst Begemann auf diese Weise weiterhin zu würdigen. Das Interview mit Dorothee Sölle hinterlässt in mir tiefen Nachhall, und ich vermute wir hätten trefflich über ihre Sichtweisen streiten können. "Das Öffentliche ist immer auch privat", "Befreiung aus einer lieberalen Freiheit", "Als Wesen der Beziehung geboren", "Mystik und Widerstand gehören zusammen", "Eine ungeheure Gnade" markieren die Teilkapitel, unter denen sie ihre Gedanken ordnet. Ich konzentriere mich insbesondere auf den Abschnitt: "Als Wesen der Beziehung geboren".
Ilona Nord eröffnet mit der Frage, ob sich zu den sichtbaren Gefängnissen der Klasse, der Rasse und der Landschaft auch das Geschlecht rechnen lasse - oder sei auch das verschwunden?
Dorothee Sölle antwortet klar und relativ konservativ, indem sie betont, dass es innerhalb der Frauen-Existenz eine "biologische Anlage" gebe, die sie in besonderer Weise als "Wesen der Beziehung" ausweise: "Ich glaube nicht, dass sich das auf die Dauer völlig wegdekonstruieren lässt." Viele Frauen verträten einen "ökologischen Feminismus", der tief verwurzelt sei in einer Liebe zur Schöpfung und den Erfahrungen mit Geburt und Stillen, der aber auch wisse, was es bedeutet, eine alte Mutter in den Tod zu begleiten.
Weiterlesen: Dorothee (Sölle) und Fulbert (Steffensky) - Philemon und Baucis
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Mach dir im Leben nicht zu viele Sorgen, du kommst da nicht lebend raus!
Es zeigt sich mal wieder, dass meine Krämerseele immer auf der Hut ist, eine Zeitung vorschnell zu entsorgen - zumal wenn es sich um ein Exemplar der ZEIT handelt. Es ist die Nr. 13 vom 26. März 2015, die meine Aufmerksamkeit fast ein halbes Jahr später weckt. In meinem Kopf treffen sich Henning Mankell und und Ilka Piepgras - eine "DIE AUSZOG, DAS STERBEN ZU LERNEN" (ZEIT-Magazin der Ausgabe vom 27. August 2015 - es ist die Nr. 35).
Henning Mankell hat seine Krebsdiagnose im März 2014 erhalten - eineinhalb Jahre vor Roger Willemsen.
Neben der Solidarität in der Krebsbaracke - Henning Mankell erinnert sich an seinen Freund Christoph Schlingensief, der exakt an derselben Krankheit gestorben sei, an der auch er sterben werde - legt er eine ähnlich bemerkenswerte Haltung an den Tag. Eine ihrer Hauptparellelen sei die starke Affinität zu Afrika. Und dort - so Mankell - gehöre der Tod noch auf andere Weise zum Leben:
"In Afrika ist der Tod Teil des Lebens. Die Europäer haben Leben und Tod getrennt. Es ist Furcht einflösend, wie unsere Kultur ein Mysterium um den Tod macht. Ich halte das für eine Schwäche der europäischen Kultur. In Afrika konnte ich sehen, wie man vernünftig mit dem Tod umgeht. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod." Susanne Mayer fragt nach: "Kein bisschen Angst?" und Mankell antwortet: "Naaa. Ich bin 67 Jahre alt. Ich habe ein längeres Leben gehabt, als es sich die meisten Menschen auf dieser Welt erträumen können. Es war ein fantastisches Leben. Ich bin am Ende meines Weges angekommen. Nein, ich habe nur eine Furcht, und sie ist ganz merkwürdig: davor, dass ich so lange tot sein werde. Das ist albern, man fühlt ja nichts, wenn man tot ist. Aber ich werde Millionen von Jahren tot sein, was ziemlich lange ist."
Weiterlesen: Henning Mankell: Mach dir im Leben nicht so viele Sorgen...
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Roger Willemsen - der leidenschaftliche Zeitgenosse
Zu seinem Tod eine kleine Bemerkung über das Reisen - und darüber hinaus eine Hommage
9.2.2016: Das Letzte zuerst. Der Bios hat ihm nur noch eine sehr begrenzte Zeit gelassen. Roger Willemsen ist am vergangenen Sonntag (7.2.2016) im Alter von 60 Jahren verstorben. Auch mir wird er fehlen mit seinen Anregungen und seiner gelassenen Unruhe: Der Tod bringt bei mir - vermutlich ähnlich wie bei Roger Willemsen bzw. Thomas Stangl - immer schon die ontologische Differenz zum Schwingen, die starke Ahnung, was den Punkt ausmacht, in den die raum-zeitlichen Verschiebungen zusammenfallen. Nach meinem Großvater, nach meinem Vater, nach meinem Bruder, nach meiner Mutter, nach meinem Schwiegervater und Freunden wieder zur Differenz gekommen zu sein (und ihrer bislang auch nicht entgangen zu sein, ist ein kleines Glück, das ich auch RW noch so lange wünsche, wie ihn sein Lebensmotiv treibt und der Bios trägt.
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Grade junge Menschen sehnen sich nach langjährigen, stabilen Beziehungen
Elisabeth Niejahr in der ZEIT 33/2015, S. 2
Die von mir gewählte Überschrift findet sich in Spalte 3 des Dreispalters, den Elisabeth Niejahr (ein Schwergewicht in der ZEIT-Redaktion), mit dem Titel versieht: "Und wenn Ja, wie viele?"Die Frage: "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?" begleitet die (post)modernen Menschen schon seit Jahrzehnten. Wenn sie alt werden, Kinder haben, haben sie sich im besten Fall Fragen, wie diese kokett-verstörte weiter oben, beantwortet. Sie stellen sich sogar noch andere Fragen. Die nach dem Sinn des Lebens hat sich für diejenigen, die Kinder in diese Welt gebracht haben und ihre Eltern begleiten auf dem Weg hinaus aus dieser Welt, längst beantwortet. Jenseits dieser basalen Sinndimension, die uns das Leben selbst anbietet, gestatten sie sich in den Wohlstandsregionen dieser Welt natürlich auch den Sinn im Unsinn zu suchen: Im Reisen, in der Kunst, in der Bewegung (die nicht im Reisen aufgeht) oder in den Sinnofferten, die uns andere verheißen.
Zumindest aber könnten die eigenen Kinder auf die Idee kommen und die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, der Liebe auch eine Form zu geben - womöglich gar eine justiziable. Die Antwort darauf haben wir natürlich längst gegeben. Immerhin sind unsere Kinder die authentischsten Beobachter unserer Sinnsuche. Sie sind selbstverständlich nicht nur Beobachter, sondern sie sind - meist ohne es (noch oder schon) zu wissen - die Seismographen und die lebendigen Inkarnationen einer Beziehungskultur, die ihnen vorgelebt worden ist, und deren lebendiges Netzwerk sie Zeit ihres Lebens mitgestalten; dem sie allerdings zuerst ausgeliefert waren, und das sie im Laufe der Zeit mehr und mehr aktiv beeinflussen - mit und gegen die bedeutsamen Anderen. Leider kommen ihnen dabei die bedeutsamen Anderen zuweilen auf unterschiedlichste Weise abhanden: