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Jürgen Habermas oder: Et hätt noch immer jot jejange

Wir Rheinländer finden in letzter Zeit unverhofft zusammen in der kämpferischen Absicht, unseren Lebensstil nicht nur verteidigen zu müssen, sondern ihn als Errungenschaft auch offensiv setzen zu wollen. Et kütt, wie et kütt  könnte man dabei fahrlässig mit einer grundsätzlich resignativ-fatalistischen Lebenseinstellung gleichsetzen. Für mich signalisiert diese Haltung eher Einsicht in die besondere, in keiner Weise berechen- oder planbare Dynamik jedes einzelnen, individuell zurechen- und beschreibbaren Lebenslaufs. Et kütt, wie et kütt wird allerdings flankiert durch gleichermaßen defensive oder gar demütige Einsichten wie: Et es wie et es oder Et bliev nix wie et es oder Wat willste mache.

In der Philosophie kann man solche Lebensweisheiten in Verbindung bringen mit einer Grundhaltung, die für sich Kontingenzgewärtigkeit beansprucht. Dass wir zum Beispiel lebenslaufbezogen weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl repräsentieren, ist eine der Grundthesen Odo Marquardts. Oder dass wir - um einmal im engeren Sinne in meiner Profession zu bleiben - so etwas benötigen wie eine kontingenzgewärtige Unterrichtstheorie, gehört unterdessen zu den nicht mehr hintergehbaren Grundlektionen für angehende Lehrerinnen und Lehrer.

Am 30.9.2017 werde ich in den Ruhestand versetzt. Ich habe damit begonnen, mein Büro zu räumen. Beim Sortieren der dort eingestellten Literatur stieß ich u.a. auf ein Suhrkamp-Taschenbuch: "Nachmetaphysisches Denken" von Jürgen Habermas, erstmals 1988 erschienen und mir in der zweiten Auflage von 1997 vorliegend. Da ich in meinem Leben als Hochschullehrer - also seit etwa 25 Jahren - einen weiten Weg zurückgelegt habe von einer Suhrkamp-Kultur in die andere, nämlich von Jürgen Habermas zu Niklas Luhmann, war ich geneigt das Buch in die Verschenke-Kiste zu legen. Bücher, die sich in meinem Eigentum befinden, mit denen ich meine private Bibliothek aber nicht mehr belasten will, wandern in einen Pool, mit dem ich StudentINNen beglücke, das heißt, ich verschenke sie an interessierte potentielle Leser. Eine nicht näher definierbare Intuition ließ mich aber dann doch noch einmal in dieser Aufsatzsammlung blättern, und ich stieß auf einen Beitrag, in dem Jürgen Habermas sich mit der "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen" auseinandersetzt (die Grundlage bildet ein Vortrag, den Jürgen Habermas 1987 in Gießen auf dem 14. Deutschen Kongress für Philosophie gehalten hat). 30 Jahre später - angepisst durch einen faschistoiden türkischen Despoten und einen grenzdebilen Präsidentenschauspieler in den USA - wurde mir bei der Lektüre dieses Aufsatzes klar, dass auch Jürgen Habermas - 40 Jahre nach dem 1000jährigen Reich und 30 Jahre vor der massivsten Krise einer sich zaghaft ausbildenden europäischen Identität - seine Diskursethik damals schon mit zitternder Hand geschrieben hat. Das Kölsche Grundgesetz dient mir im Folgenden als zentrale Referenzidee, weil es den Ausfluss lebensweltlicher Grundbefindlichkeit in rheinischer Diktion verkörpert.

Lassen wir uns also Jürgen Habermasens Argumentationsgang noch einmal auf der Zunge zergehen:

In Kapitel IV des erwähnten Aufsatzes bemüht Habermas den Zeitgeist:

"Heute hingegen gerät alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung: alles könnte auch anders sein - die Kategorien des Verstandes, die Prinzipien der Vergesellschaftung und der Moral, die Verfassung der Subjektivität, die Grundlagen der Rationalität selber." (179)

Auch die kommunikative Vernunft - räumt Habermas ein - setze fast alles kontingent, selbst die Entstehungsbedingungen ihres eigenen sprachlichen Mediums. Und manchmal gewinnt man den Eindruck Niklas Luhmann habe Jürgen Habermas die Feder geführt:

"Je mehr Diskurs, um so mehr Widerspruch und Differenz. Je abstrakter das Einverständnis, um so vielfältiger die Dissense, mit denen wir gewaltlos leben können." (180)

Wäre da nicht das beharrliche Aufbäumen gegen die Tabubrüche der Postmoderne - vor allem in der Person Jacques Derridas: "Noch immer gilt der moralische Universalismus als Feind des Individualismus, nicht als dessen Ermöglichung. Noch immer gilt die Zuschreibung identischer Bedeutungen als Verletzung metaphorischer Vieldeutigkeit, nicht als deren Bedingung. Noch immer gilt die Einheit der Vernunft als Repression, nicht als Quelle der Vielfalt der Stimmen." (180)

Jürgen Habermas erwähnt im referierten Aufsatz nicht einmal den Namen Niklas Luhmanns. Was nun jedoch folgt - auf den Seiten 181ff. - entspricht nahzu exakt der Luhmannschen Beschreibung von Gesellschaft: Die Gründe für die beschriebenen Phänomene liegen auch nach Habermasens Einschätzung in der Gesellschaft: "Denn diese ist in der Tat so komplex geworden, dass sie sich kaum mehr von innen als das dynamische Ganze eines strukturellen Zusammenhanges erschließt:

"Die funktional differenzierte Gesellschaft ist dezentriert; der Staat bildet nicht mehr die politische Spitze, in der sich die gesamtgesellschaftlichen Funktionen bündeln könnten; alles scheint zur Peripherie geworden zu sein." (181)

Niklas Luhmanns Einleitungskapitel zu seinem Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), Soziale Systeme, ist 1984 erschienen. Jürgen Habermas lässt den Grundgedanken Luhmanns, dass die moderne Gesellschaft sich nicht mehr in sich selbst vollständig repräsentieren könne, nicht zu. Er stimmt (uns vielmehr) ein in seine beharrliche Klage, wonach die Ökonomie und die öffentliche Verwaltung längst über den Horizont der Lebenswelt hinausgewachsen seien. Diese mediengesteuerten Subsysteme seien zur zweiten Natur geronnen:

"Als versachlichtes Kommunikationsnetz entziehen sie sich dem intuitiven Wissen der in die Systemumwelten abgeschobenen Mitglieder [...] In dem Maße, wie die objektivierenden Beschreibungen der Gesellschaft in die Lebenswelt einwandern, werden wir uns nämlich als kommunikativ handelnde Subjekte selber fremd." (181)

Erst diese Selbstobjektivierung lasse die Wahrnehmung der gesteigerten gesellschaftlichen Komplexität umschlagen in die Erfahrung des Ausgeliefertseins an Kontingenzen, für deren Bewältigung der Referent abhanden gekommen sei - das gesamtgesellschaftliche Subjekt oder das Bewusstsein überhaupt sei uns, den verängstigten Mitgliedern der Risikogesellschaft, längst entglitten.

Und nun kommt die entscheidende Wende in der Argumentation Habermasens,

die uns heute - 2017 - mehr denn je verdeutlicht, warum Norbert Bolz 1999 - zwei Jahre nach Niklas Luhmanns Tod - schon zu dem Fazit gelangt, Habermasens Theorie sei naiv, während er die Theorie Luhmanns als sentimentalisch bezeichnet. In seiner Gesamtbewertung stellt er fest: "Am Ende, und seit Luhmanns Tod gibt es ja nun ein Ende, am Ende gewinnt Luhmann." (Bolz 2010, S. 34)

Habermas lässt seine Klage nun also ausmünden in folgende Ermutigung:

"Dieser Entmutigungseffekt, der sich in der radikal-kontextualistischen Verarbeitung lähmender Kontingenzerfahrungen ausdrückt, verliert freilich seine Unausweichlichkeit, wenn sich ein Vernunftbegriff verteidigen und gesellschaftstheoretisch fruchtbar machen lässt, der dem Phänomen der Lebenswelt Rechnung trägt und der es erlaubt, den an den modernen Gesellschaften abprallenden subjektphilosophischen Begriff des 'gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins' auf intersjubjektitätstheoretische Grundlagen umzustellen." (181)

Wie sehr sich auch Habermas in die Defensive gedrängt sieht und dem, was er argumentativ vertritt, misstraut, wird deutlich, wenn er in einem Anfall von Bescheidenheit einräumt, er wolle einen "schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft plausibel machen". (182) Er bemüht im Fortgang Hintergrundgewissheiten; Hintergrundgewissheiten, die eine "implizit und vorreflexiv mitlaufende Totalität bilden, die im Augenblick ihrer Thematisierung zerfällt" - Totalität bleibe sie nur im Modus des abgeschatteten, präsupponierten - also eines stillschweigend vorausgesetzten - Hintergrundwissens. Habermas beharrt, nein er hofft auf eine intuitiv gewusste Einheit der Lebenswelt. Wie man das in praktische Begriffe übersetzen kann, in Aspekte einer Lebenspraxis? Es geht um Geltungsansprüche, die zugleich die Kraft haben als faktisch wirksamer und idealisierter Gehalt in die Alltagspraxis überzugehen:

"Hier hinterlassen die Ideen der Eindeutigkeit, der Wahrheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Zurechnungsfähigkeit ihre Spuren." (183)

Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump verkörpern in jedem einzelnen Punkt - zumindest in den Punkten, die nicht nur einen strategischen (sprich: Eindeutigkeit), sondern auch einen normativen (sprich: Wahrheit, Gerchtigkeit, Wahrhaftigkeit) Gehalt aufweisen, einmal ganz zu schweigen von der Selbstverständlichkeit einer Kategorie  wie Zurechnungsfähigkeit, das diametrale Gegenteil! Dennoch sind sie gewählte Vertreter ihres Volkes. Dies mag sicherlich auch Jürgen Habermas heute kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. 1987 war er bereits der Auffassung, das diese Ideen "allenfalls im Sinne heuristischer Vernunftideen eine weltbildende Kraft behalten". (183)

Jürgen Habermas - sofern er in dieser Hinsicht je Ambitionen gehabt hätte - lässt als Kern einer Lebenslauftheorie in Anlehnung an Kierkegaard erkennen,

"dass sich Individualität einzig aus den Spuren eines zur Einheit existentiell gewissermaßen zusammengezogenen authentischen Lebens herauslesen läßt." (183f.)

Im Idealfall wüssten sich dann Alter und Ego, indem sie sich über das Allgemeine eines propositionalen Gehaltes verständigten, dem besonderen Kontext ihrer Lebenswelt zugehörig. Man kann mit Norbert Bolz nur erwidern: "Zu schön, um wahr zu sein." (Bolz, Berlin 2010, 39)

Jürgen Habermas weiß dies selber: "Die kommunikative Vernunft ist gewiss eine schwankende Schale - aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen 'bewältigt'". (185)

Was hilft also gegen Recep Tayyip Erdogan, gegen Donald Trump und Björn Höcke und zu einer Entblödung unfähige Reichsbürger?

Negative Metaphysik!

Zumindest benutze die negative Metaphysik - so Jürgen Habermas - jene Außenseiterperspektive, aus der sich der Wahnsinnige, der existentiell Vereinzelte, der ästhetisch Entzückte ekstatisch von der Welt, und zwar der Lebenswelt im ganzen, distanziere:

"Für die Botschaft dessen, was sie erblicken, haben die Außenseiter keine Sprache mehr, jedenfalls keine begründende Rede mehr. Ihr Verstummen findet Worte nur noch in der leeren Negation dessen, was die Metaphysik einmal mit dem Begriff des All-Einen affirmiert hat." (185)

Was aber, wenn die unbegründende Rede das Sagen hat? Was, wenn America first und make america great again zum Ersatz für das All-Eine stilisiert werden, wenn ein faschistoider Potentat die Nation der Erinnerungskultur des Faschismus bezichtigen kann?

Lieber Jürgen Habermas, Held meiner Dissertation und traurige Gestalt der Diskurstheorie, ich weiß, dass wir uns begegnen in einer Formulierung - auch wenn sie der Totenrede Peter Sloterdijks auf Ihren Widerpart Niklas Luhmann entstammt:

"Denn wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten." (153)

Zumindet Recep Tayyip Erdogan zeigt mit all seinen Bestrebungen, dass er weder zu einer kritischen Selbstreflexion oder gar zu einer Infragestellung seines Weltbildes neigt bzw. in der Lage ist - er unterscheidet sich hier vermutlich auch nicht von seinem vermeintlichen Gegenspieler Fethulla Gülen. Donald Trump mag ein aufgeblasener Fatzke sein, ein nach jedem Peinlichkeits-Award heischender Narziß - die hinter ihm stehenden Ideologen vom Schlage eine Steve Bannon zeigen, dass sie in die Kategorie der distanzlosen Weltbildbewohner erster Ordnung gehören und insofern deutlich jenseits einer demokratischen Diskurskultur stehen.

Eine solche diskursive Kultur müsste - lieber Jürgen Habermas - letztlich ja doch endlich jene von Ihnen gescholtenen paradoxen Aussagen einer negativen Metaphysik nachvollziehen, wonach das Ganze das Unwahre ist, Kontingenzgewärtigkeit eine Grundtugend wird und Trost nur in der Haltung jener Mitmenschen zu suchen und zu finden ist, die sich diesen Einsichten nicht verschließen. Denn die Keimzelle aller Unversöhnlichkeit beruht in der Weigerung der Einsicht, dass die Vernunft, eben immer nur die eine Vernunft ist.

Dass beides irgendwie zusammengehört, möchte ich abschließend mit einer Ihrer zentralen Positionen belegen, die zugleich unter dem Signum der kommunikativen Vernunft als einer"schwankenden Schale" steht:

"Unversehrte Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen werden; er enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht verfehlten Lebens:" (185f.)

Jawohl, dafür lohnt es sich zu kämpfen und darin sind sich alle aufrechten Rheinländer, alle Deutschen, alle aufrechten Europäer, alle Weltbürger einig - damit wir auch mit unseren Kindern und Kindeskindern auf dem Boden des Grundgesetzes sagen können: Et es jekunn wie et jekunn es, ever et hätt noch ens jot jejange!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   
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