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Ein Lebenslauf besteht aus Wendepunkten

Hanna Schmitz und Franz Streit - Bernhard Schlink (Mediation) und Michael (Berg) - Kapitel 2

Veröffentlicht: 20. Juni 2016

Der Original-Beitrag, dem dieses Zweite Kapitel entnommen ist, hat den Rahmen des BLOG-Geschehens schon lange gesprengt. Die Fiktion mäandere um die Realität herum, meint Stefan Slupetzky. Den Kick, dann doch noch einmal der Fiktion den Vorrang zu geben, resultiert einerseits aus Slupetzkys Der Letzte Große Trost und zum anderen aus Achim Landwehrs Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Ich werde also noch einmal von vorne beginnen - vielleicht nimmt dann die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit so sehr Gestalt an, dass ihre Anwesenheit greifbar wird. Achim Landwehr ermuntert mich in seinem fulminanten Buch zu einer solchen Anstrengung mit folgender Impression:

"Wenn ich über einen Friedhof spaziere und dort meinen eigenen Grabstein imaginiere, wenn ich ein Foto meines verstorbenen Vaters ansehe, zu einer Zeit, als ich noch überhaupt nicht geboren war, dann ist dies nicht viel mehr als eine leise Andeutung der chronoferentiellen Ketten, mit denen diverse Zeiten in einem Hier und Jetzt zusammengezogen werden können. Der Tod erweist sich nicht nur als das Ende des Lebens, sondern auch als möglicher Dreh- und Angelpunkt von Chronoferenzen." (165)

Das im Folgenden erneut vorgestellte Zweite Kapitel gehört zu Hildes Geschichte und ist so in den Blog-Betrag: Hanna Schmitz und Franz Streit Bernhard Schlink (Mediation) und Michael (Berg) aufgenommen worden. Im Juni-Heft (2025) des Evangelischen Magazins chrismon wird Der Vorleser vorgestellt als ein Roman, der „den Umgang der Nachkriegsgeneration mit ihrer Elterngeneration thematisiert“. In Hildes Geschichte habe ich mich – konzentriert auf die Frage, wie ich selbst eigentlich zu einer 10 Jahre älteren Schwester gekommen bin – auf meine Weise mit meinen Eltern auseinandergesetzt. Dahinter und darüber schweben aber die Fragen, die Stephan Lebert und Louis Lewitan mit ihrem Blinden Fleck lebendig halten.

Was nun im Abdruck dieses Zweiten Kapitels sichtbar wird, ist nur zu verstehen und zu vertreten unter der Maßgabe, dass unsere Mutter – die Mutter meiner Schwester und meines Bruders und die meiner Wenigkeit – sich erst spät geöffnet hat. Erst wenige Jahre vor ihrem Tod hat sie zugelassen, dass über die Ereignisse der Jahre 1941/42 auch gesprochen werden konnte. Ich bin mir sicher, dass sie, die Hildes Geschichte nicht mehr lesen konnte – sie ist erst 10 Jahre nach ihrem Tod geschrieben worden – mir mit Wohlwollen und Verständnis begegnet wäre, dem begegnet wäre, was sich hier erzählerisch als einer der zentralen Wendepunkt in ihrem Leben herausstellen sollte:

Zweites Kapitel – eine kleine Erzählung, aus der große Literatur hätte werden können:

Hilde nimmt Franz in sich auf. Hier ist es umgekehrt, wie im Vorleser: Hilde ist 17 und Franz ist 27.

Franz hatte die Pension erreicht, blickte sich kurz nach Hilde um, betrat dann das kleine Foyer und ermunterte Hilde – nachdem er sich des freien, unbehelligten Zugangs versichert hatte – ihm zu folgen. In dem Augenblick, als Hilde aus der gleißenden Mittagssonne in den dunklen Vorraum trat, schlug ihr das Herz zum Halse heraus. Behände und eilig durchquerte sie das Foyer und folgte Franz über die Treppe zum 1. Obergeschoss. Die Tür zu Zimmer 4 stand schon offen, und Hilde zog sie ein wenig erleichtert hinter sich zu.

Unvermittelt schoss ihr das Wasser in die Augen und zwischen Erleichterung und Bangen mischten sich Tränen der Angst mit Freudentränen und erst als Franz sie in seine Arme schloss, beruhigte sich Hilde ein wenig. Sie sah Franz an: „Wo hast du denn deine Brille?“ Mir ist schon am Bahnhof aufgefallen, dass du keine Brille trägst!“ „Ich muss sie nicht mehr tragen, meine Augen sollen sich wieder an die Welt gewöhnen“, antwortete Franz lachend: „Du kannst mir in die Augen schauen. Ich glaube, ohne dich wäre ich schon eine Woche früher auf dem Weg zur Front gewesen. Ich habe da ein wenig nachgeholfen, weißt du!“, sagte er grinsend.

Er setzte Hilde auf den Stuhl neben dem Nachtschränkchen und wandte sich dem kleinen Tisch gegenüber dem Bett zu. Erst jetzt sah Hilde auf dem Tisch eine kleine, vorbereitete Brotzeit, wie sie es von Franz schon kannte. „Es ist schon nach eins“, wies Franz auf seine Uhr. „Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?“, wandte er sich fürsorglich Hilde zu. „Nein, ich konnte gestern schon nichts mehr essen“, antwortete Hilde, „mir ist ein wenig schwindelig vor lauter Aufregung – und überhaupt hab ich gar keinen Appetit.“ „Also jetzt wird zuerst einmal etwas gegessen, sonst fällst du mir ja noch vom Stuhl und du musst hier in diesem Bett bleiben.“ Hilde wechselte die Farbe, wurde bleich und Franz bemerkte sofort, dass er da etwas Dummes gesagt hatte. „Ach Schmarrn“, beschwichtigte er, indem er – wie gewohnt – einige Scheiben von einem Laib Brot abschnitt, Käse in kleine Portionen teilte und auf die Tomaten wies, die er heute Morgen in Remagen in der Nähe des Bahnhofs noch gekauft hatte. „Das wird dir gut tun und dafür sorgen, dass du wieder ein Mensch wirst“. Er zog den Korken von einer Flasche Rotwein, die noch zu ¾ gefüllt war. Er schenkte ein Zahnputzglas voll, das er vom Waschtisch genommen hatte, probierte einen Schluck und meinte: „Verteufelt gut, der Spätburgunder von der Ahr. Aber bevor du etwas trinkst, musst du etwas essen“. Hildes anfängliche Verkrampfung löste sich langsam und – schon fast vergnügt sah sie Franz bei der Vorbereitung der kleinen Brotzeit zu. Sie mochte es, wie er mit dem Messer das Brot teilte, den Käse portionierte und den Eindruck vermittelte, ein Festmahl warte auf sie. Diese Selbstverständlichkeit im Alltäglichen, die fürsorgliche Haltung imponierten ihr, und ihr Vertrauen in das Tun und die Routine seiner Handlungen wuchs nahezu ins Grenzenlose.

Zum ersten Mal seit Tagen biss sie mit Lust herzhaft in das kräftige Roggenbrot, nahm ein Stück Käse und bat Franz die Tomaten zu vierteln. Selbst eine Serviette hatte er bereit gelegt, die der kleinen Brotzeit tatsächlich einen feierlichen Anschein verlieh. Jetzt trank Hilde sogar einen Schluck des lieblichen Rotweins.

Franz sah sie ernst an und sagte dann in ebenso ernstem Ton: „Hilde, wo hast du deine Fahrkarte?“ Hilde kramte in ihrer Tasche und zog die Fahrkarte heraus und legte sie auf den Tisch. „Die brauchst du heute Abend. Mein Zug fährt um 19.14 Uhr ab. Dein Zug nach Neuenahr geht um 18.27 Uhr ab Remagen. Jetzt ist es 14.30 Uhr und wir werden das Zimmer gegen 18.00 Uhr verlassen. Wir gehen gemeinsam zum Bahnhof, dann gehst du auf Bahnsteig 2 und steigst ein. Der Zug steht schon bereit. Ich werde nicht mit auf den Bahnsteig gehen, aber ich werde zurückkommen, in meinem nächsten Urlaub. Und ich werde dir schreiben. Du überlegst bitte, an welche Adresse ich schreiben soll. Du hast meine Feldpostnummer. Es dauert immer drei bis vier Wochen, manchmal auch noch länger bis die Post zu uns nach vorne kommt“. Franz ging auf Hilde zu, zog sie nah an sich heran und gab ihr einen ersten Kuss. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie auf Stirn, Nase und Lippen, schob sie ein wenig von sich weg, schüttelte den Kopf und sagte mit einem sanften zurückhaltenden Lächeln: „Mädchen, weißt du eigentlich, wie schön du bist. Bei uns zu Hause sagt man dazu, der liebe Gott hat eine Träne geweint, wenn so viel Anmut und Schönheit zusammenkommen.“ Auch jetzt noch errötete Hilde, die überhaupt kein Verständnis für ein solches Gerede hatte und die noch viel weniger glauben mochte, dass dies irgendetwas mit ihr zu tun haben sollte. Aber Franz sagte all dies auf eine so merkwürdige Weise, einem Tonfall und einer Färbung in der Stimme, dass all dies wie eine selbstverständliche und in keinster Weise anzweifelbare Offenbarung daher kam. So blieb Hilde nur, ihr Erröten durch ein verlegenes Lächeln zu unterstreichen.

Franz streichelte Hilde zart über Wangen und Haar, berührte mit seinen Lippen immer wieder alle möglichen und unmöglichen Winkel ihres Gesichts. Als er mit seiner Zunge ihre Ohrmuschel streifte und das Ohrläppchen zwischen seinen Lippen liebkoste und dann mit der Zunge hinter ihr Ohr kam, durchfuhr es Hilde wie ein sanfter Stromschlag; ihr ganzer Körper begann zu kribbeln und wieder spürte sie das zarte Beben, das ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte.

Franz streifte seiner Hilde die Jacke ab und löste die Damenkrawatte so geschickt und beiläufig, dass der Eindruck entstand, dass Franz all dies nicht zum ersten Mal und auch nicht zum zweiten Mal machte. Aber solche Gedanken verloren sich in den entfernten Regionen einer Wahrnehmung, in deren Fokus nichts anderes als eine alles und jedes erfassende wohlige bis erregende Konvulsion angenehmer und wellenförmig daherkommender Sinnesturbulenzen rückte.

Franz öffnete den obersten Knopf an Hildes Bluse und lachte sie mit seinem offenen, unwiderstehlichen Gewinnerlachen an. Es gelang ihm, durch Behutsamkeit und die Langsamkeit jemandes, der über alle Zeit dieser Welt gebot, Millimeter für Millimeter Hildes Vertrauen zu gewinnen; ein Vertrauen, dass zum ersten Mal die massiven Einkrümmungen in ein Leben der Schuld und der Scham antastete und die Barrieren einer über alle Gebühr verinnerlichten Keuschheit ins Wanken brachte. Franz gab Hilde das Gefühl, ihm gegenüber keine Scham empfinden zu müssen.

Und die Mutter mit ihrer erbarmungswürdigen Gottesfurcht war für Stunden aus dem Erleben und Erinnern Hildes gewichen. Der zweite und der dritte und alle folgenden Knöpfe an Hildes Bluse öffneten den Raum zu einer fremden Welt, die bislang noch nie in das Bewusstsein einer nun erwachenden Frau eingedrungen war. Wie konnte sie es zulassen, dass Franz sie dort berührte, wo die Keuschheit ihr selbst Zurückhaltung gebot? Aber Hilde fand einen Weg, ihre Scham nicht übermächtig werden zu lassen. Je näher sie sich an Franz drängte, umso größer wurde ihr Gefühl der Geborgenheit, mehr noch der Sicherheit, als könne ihr in den Armen von Franz nichts Böses widerfahren. So ließ sie sich in seinen Armen fallen. Und Franz gab ihr alle Zeit der Welt, streichelte und liebkoste sein Mädchen. Er führte sie langsam, langsam, langsam zu dem breiten Bett, das längsseits, gegenüber des Doppelfensters stand. Hilde hatte ihre Brust gewickelt, so wie die Mutter es ihr beigebracht hatte. Ohne jemals mit Mutter darüber zu reden, hatte Hilde eine leibfeindliche Erziehung, nur durch Gesten und Unterlassung bekräftigt, tief in sich aufgenommen. Der Körper war ein Arbeitsgerät und zu Hause hatte immer schon Hilde mit Vater alle Männerarbeiten erledigt. Und so war es selbstverständlich, alle Attribute des Weiblichen zu verbergen. Sie kannte nichts anderes als das Brusttuch aus Leinen, um die zu ihrer großen Enttäuschung sich üppig entfaltende Weiblichkeit einzudämmen. Dass Franz angesichts der straffen und dennoch üppigen Brüste auf die Knie sank und seine Entzückung in Hildes Schoß verbarg, erschloss sich Hilde nicht im Geringsten. Zum ersten Mal lachte Hilde verschämt und ließ zögerlich eine milde Umkehrung des Kräfteverhältnisses zu. Sie verstand selbst nicht, warum mit Franz die Lähmung von ihr abfiel, warum sie seine Liebkosungen nahezu vorbehaltlos zuerst geschehen ließ und dann immer wieder seine Nähe einforderte, wie in einem Schmelztiegel. Es war warm an diesem 9. September 1941 und die Uhr mochte wohl unterdessen gegen 15 Uhr gehen, als Franz und Hilde auf das Bett zurücksanken. Spätestens jetzt wäre die Hilde von vor knapp vier Wochen aufgesprungen und hätte entsetzt das Weite gesucht. Und Franz spürte die Angst, die erneut von Hilde Besitz ergriff. „Mein Hildchen, es ist alles gut, alles ist richtig, nie war diese Welt besser als jetzt – hab Vertrauen, ich tue dir nicht weh!“ Franz hielt Hilde lange Zeit fest in seinen Armen, bevor er behutsam und langsam in sein Mädchen eindrang. Es ging sehr viel leichter und sanfter als Franz es selbst erwartet hatte. Aber Hilde hatte sich in den vergangenen 1 ½ Stunden so sehr geöffnet und in Franz ergeben, dass Schmerz und Lust für sie gleichermaßen in dieser ersehnten Verschmelzung aufgingen.

Hilde Lahnstein ist am 3. Juli 1924 geboren worden - in Bad Neuenahr. Sie ist 1 3/4 Jahr jünger als Hanna Schmitz und verliebt sich in Franz. Franz Streit ist am 3. September 1914 als Sohn österreichischer Arbeitsmigranten in Oer-Erkenschwick geboren worden und fällt am 23. September 1943 auf den Schlachtfeldern Rußlands. Er zahlt für seine Schuld mit seinem Leben. Er hinterlässt Frau und zwei Söhne, und er hinterlässt Hilde mit Ursula. Ursula wird am 5. Juni 1942 geboren. Sie wird ihren Vater nie kennenlernen. Nach einem langen richtigen Leben im falschen wird sie zu Beginn ihres siebten Lebensjahrzehnts die Söhne ihres Vaters kennenlernen!

Das alles ist nachzulesen in Hildes Geschichte.

"Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müsste, wenn alles mit rechten Dingen zuginge?" (Der Vorleser, Seite 86)

"Aber dass einige wenige verurteilt und bestraft und dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden - das sollte es sein?" (Der Vorleser, Seite 99f.)

Im September 1941 widerfuhr Hilde das große Glück, sich einem Mann hinzugeben, in dessen außerordentlicher Zurückhaltung und Sanftmut sich auch die Erfahrung eines Mannes offenbarte, der zu unterscheiden gelernt hatte zwischen der überlegenen und abgeklärten Art erfahrener Frauen, die selbst das Heft des Handelns in der Hand behielten – und der Ängstlichkeit unerfahrener Frauen, deren Wohl und Wehe in der Hand oft rücksichtloser, nur an der eigenen Lust interessierter Männer lag.

Vom Wohl und Wehe in einem so unendlich viel größeren Zusammenhang als der „kleinen Lust“ hatte auch Franz Streit an diesem Nachmittag des 9. September 1941 nur eine weit entfernte, dumpfe Vorstellung. So überwogen das Wohl und das Wohlergehen in diesen wenigen Stunden über alle Maßen. Die jämmerlichen und klagenden Gespenster der Angst, der Scham und der Schuld hatten sich in die dunklen Ecken des Zimmers verzogen, ohne jedoch ganz zu verschwinden.

Und während Hilde schluchzend in Franz‘ Armen lag, ergossen sich die Gedanken beider in weit auseinander driftende Welten. Und beide hatten keine Ahnung, was den anderen umtrieb. Hilde überkam zeitweise – und je näher die Stunde des Abschieds heranrückte umso stärker – eine überbordende Not, in der sich die Gespenster wieder hervorwagten und gleichzeitig die Angst und die Sorge um Franz, die ihr schon jetzt schier den Atem nahmen.

Franzens Gedanken hingegen schossen wie Granatsplitter durch eine Welt, die ihm aus den Händen geglitten war. Alle Lust, die Ewigkeit will, war jetzt schon bedroht vom bevorstehenden Abschied, und sie war beladen mit der Schuld der Lüge und der Untreue. Sie begann schon jetzt ihren Preis einzufordern. Der Schmerz des Abschieds konnte nicht gemildert werden durch die Gewissheit des Wiedersehens, eines unbefangenen Wiedersehens voller Freude und Hoffnung. Die Hoffnung, in die sich Hilde hinein bewegen würde und die man gemeinhin mit dem Attribut der „guten“ Hoffnung belegte, hätte des legitimen und tatkräftigen männlichen Gegenübers bedurft.

Aber diese Damoklesschwerter schwebten an diesem 9. September 1941 noch weit entfernt und hoch über Hilde und Franz. Und dennoch waren die beiden die letzte Stunde ihres Beisammenseins schon nicht mehr alleine, und nur noch zu zweit. Hilde, die nichts wusste von der Biologie der Zeugung, von Ei- und Samenzelle – und die vor allem nichts wissen musste von der unendlichen Leichtigkeit, mit der neues Leben zu entstehen vermochte, und die nichts wissen konnte von der unendlichen Not, mit der viele Paare um die Segnungen einer Schwangerschaft rangen; diese Hilde hatte an diesem Nachmittag des 9. September 1941 gegen 17.00 Uhr noch keine Ahnung davon, dass sie fortan gebenedeit unter den Weibern sein würde und sich schon guter Hoffnung auf den Weg von Remagen nach Neuenahr machen würde.

Aber Hilde spürte mit einem Mal in ihrer Seele und in ihrem Körper das Wüten der ganzen Welt. Von Weinkrämpfen geschüttelt klammerte sie sich an Franz und ahnte dumpf, dass all ihre Hoffnungen sie trügen würden. Erst nachdem ihr Franz das letzte Glas Wein eingeflößt hatte, sie hielt, sie drückte und liebekoste, wurde sie ruhiger. Sie nahm den Zuber vom Waschtisch, goss die Waschschüssel voll und wusch sich das Blut von den Oberschenkeln, sie wusch ihre Scham und dankte Franz für seine Liebe.

Franz zerriss es Herz und Seele gleichermaßen. Er wollte leben, er wollte da sein für Hilde. Ihm gingen Gert und Gerda durch den Kopf, vor allem Gerda, die das sicherlich nicht verdient hatte. Er dachte an seinen Kameraden Karl, der nicht nur eine Verätzung der Augen erlitten hatte, sondern dem ein Granatsplitter das rechte Bein zertrümmert hatte. Manchmal ertappte er sich bei dem unerträglichen Gedanken, ja bei dem Wunsch, an seiner Stelle zu sein, dass der Krieg und das Töten endlich vorbei sein mochten und das Leben beginnen könnte.

Den Schreiber dieser Zeilen lässt es frösteln und frieren und es gebricht ihm an Vorstellungsvermögen, wie die letzte Stunde des Zusammenseins von Franz und Hilde an diesem 9. September 1941 verronnen sein mag. Franz war wohl abschiedserprobt. Viele Male war er aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Aber niemals hatten ihn dabei eine solche innere Not und ungestillte Sehnsucht begleitet.

Er sah seine Hilde nun mit anderen Augen, hatte er sie doch zur Frau gemacht – in einem ganz und gar unabwendbaren Vollzug, der sie beide für etwas Größeres einzunehmen schien.

Auch Franz spürte den Unterschied zu all den leichtfertigen und schon vergessenen Liebeleien oder gar Liebschaften, zu denen es kaum noch Namen oder Gesichter gab. Er sah seine Hilde an und sah dabei in das trotzige, tapfere, schöne, merkwürdig gereifte Gesicht einer Frau, deren Jugend mit einem Mal zu Ende war.

Er würde zurückkommen – bei allem was ihm heilig war.

Hilde schickte sich. Was ihr künftiges Leben prägen würde, deutete sich in ihrem Mienenspiel und ihrer Körpersprache schon an. Sie ordneten das Zimmer soweit es ihnen notwendig erschien. Franz packte seinen Seesack. Hilde kontrollierte ihre Siebensachen, legte die Fahrkarte obenauf. Dann verließen sie das Zimmer und unbemerkt die Pension. Auf den Straßen herrschte bereits reges Treiben und man sah viele Soldaten – und davon viele auch in weiblicher Begleitung. So reihten sich Franz und Hilde in den Strom ein, der wieder an den Zug der Lemminge erinnerte. In der kleinen Bahnhofshalle herrschte schon großes Gedränge und Franz entschloss sich, doch mit auf den Bahnsteig zu gehen. Hilde ging voraus und vergewisserte sich, dass dort niemand wartete, den sie kannte. Sie setzte sich weit links auf eine freie Bank, während Franz weiter rechts von ihr Platz nahm. Franz nahm aus seinem Seesack ein kleines flaches Päckchen und schob es in Hildes Richtung: „Darin ist ein Brief und ein kleines Geschenk, nimm es, denk an mich und sei stark – ich komme zurück!“ Franz sah Hilde an und konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er stand auf und ging strammen Schrittes davon. In diesem Augenblick krallte sich Hilde mit ihren Nägeln in das Holz der alten Bank. Doch rein äußerlich verriet nichts den Schmerz und die Zerrissenheit, die alles mit sich in einen Strudel rissen, was ihrem Leben bislang Sinn und Richtung gegeben hatte. Erst als sie Franz auf der anderen Seite des Bahnsteigs erblickte, rannen ihr die Tränen über die Wangen, und sie hatte Mühe an sich zu halten. Allmählich füllte sich der Bahnsteig, und Hilde schleppte sich mit Mühe an das Ende des Zuges, dessen Lokomotive schon unter Dampf stand.

Auf der gegenüberliegenden, rückwärtigen Seite mochten wohl weit mehr als hundert, vielleicht gar zwei- oder dreihundert Soldaten mit Marschgepäck stehen und auf die Einfahrt des Zuges warten. Hilde vermied jeden weiteren Blick und stieg, wie schon am Morgen – ganz am Ende des Zuges in den letzten Waggon und setzte sich dort im Einstiegsbereich auf einen Notsitz.

Sie atmete zum ersten Mal tief und lange durch, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Hilde gingen ihre letzten Worte an Franz nicht mehr aus dem Kopf: „Franz, ich habe dich so lieb, so sehr, bitte komm zu mir zurück!“ An diesem Nachmittag und in den wenigen Wochen seit dem 15. August hatte sie die Liebe gefunden. Ihre Zerrissenheit ließ sie eine leuchtende Zukunft am Horizont in der aufgehenden Sonne erblicken, während sich tief im Westen die Sonne anschickte für lange Zeit unterzugehen. Der Klöppel, der die Glocke ihrer jungen Liebe zum Schwingen und Tönen brachte, würde zunehmend Disharmonien erzeugen und der am längsten anhaltende, tiefste Ton würde die Oberhand behalten.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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