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Eva von Redecker - Bleibefreiheit IV (hier: Bleibefreiheit V)
(hier alle Beiträge: I - II - III - IV - V)
Anfang
Wie fang ich denn nun an?
Eva von Redecker, die den Tod gesehen hat (Teil III), kehrt die Perspektive um. Sie vollzieht diese Umkehrung nicht freischwebend. Sie beginnt mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, die dem „wundervollen Gedanken der Aufklärungsphilosophie“ verpflichtet ist. Hier lautet die Verheißung: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren“ – in der französischen Variante aus dem ersten Revolutionsjahr heißt es: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.“
Eva von Redecker erwägt hingegen:
„Aber was, wenn das Gegenteil der Fall ist? Denn das scheint mir zutreffender: Wir werden unfrei geboren […] Wer in günstige Umstände hineingeboren wird, ist deshalb aber noch lange nicht von Anfang an frei. Von Anfang an sind alle, wirklich alle, eben genau nur das: Anfang (Seite 99).“
Eva von Redecker bezieht sich auf die Denkerin Sophie Lewis. Ich füge an dieser Stelle eine bescheidene Ergänzung ein, denn Sophie Lewis schreibt über die Liebe; Liebe, die folgenreich ist (selbst und vor allem dann noch, wenn wir Liebe verkürzen auf ihre sexuelle Variante, die in der Mehrheit aller Fälle dafür sorgt, dass Menschen in diese Welt hineingeboren werden, dass ein Anfang gesetzt wird). Eva von Redecker greift einen zugespitzten Gedanken Sophie Lewis‘ auf, der mich gleichermaßen fasziniert, und der für die nachfolgende Argumentation eine Schlüsselbedeutung gewinnt:
„Die Denkerin Sophie Lewis schreibt wunderbar treffend über die Liebe, dass sie darin bestehe, für jemandes Freiheit zu kämpfen und sie mit Fürsorge überhäufen zu wollen (ebd.).“
Eva von Redecker spitzt diese Zuspitzung noch weiter zu, indem sie sie im Hinblick auf das Neugeborene noch eine Windung weiter treibt:
„Liebe besteht darin, für jemandes Freiheit zu kämpfen, indem man sie mit Fürsorge überhäuft. Die Zuwendung ist kein Hindernis der Freiheit, sie ist ihre Bedingung. Wir werden wirklich unfrei geboren (ebd.).“
Die gleichermaßen individuationstheoretische wie –praktische Ergänzung folgt auf dem Fuß. Sie wird hier zur Übernahme ins Langzeitgedächtnis empfohlen. Sie wird uns fortan wirksam davor schützen, das Versagen der Eltern – insbesondere der Mutter – für unser eigenes Versagen zu reklamieren:
„Und wir hören nie auf, befreiungsbedürftig zu sein. Erwachsen sein heißt, zur Selbstbefreiung fähiger geworden zu sein. Eine der grundlegendsten Formen der Selbstbefreiung besteht darin, selbst zu entscheiden, wessen und welche Zuwendung wir suchen (ebd.).“
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Eva von Redecker - Bleibefreiheit III (hier: Bleibefreiheit IV)
hier: Bleibefreiheit I und Bleibefreiheit II
Den Tod sehen (Seite 48-55)
Es mag ungewöhnlich sein, ein Buch zu besprechen – zu rezensieren – sozusagen im Prozess seiner Rezeption, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Es ist vermutlich die ungewöhnlichste, ursprünglichste Lektüre, die ich jemals vorgenommen habe. Eine so radikal selbstbild- und weltbildverändernde Lektüre, wie beispielsweise die Luhmannscher Theoriefacetten, bewegt mich inzwischen seit Jahrzehnten und sie scheint mich bis an mein Lebensende zu begleiten.
Die Lektüre von Eva von Redeckers Bleibefreiheit hingegen greift in mein Fühlen und Denken ein wie ein Tsunami. Gleichzeitig erscheinen ihre Erkenntnisse und sprachmächtigen Inselgewinne so tief in mir angelegt und verankert, dass mir aber auch gerade nichts des Gelesenen unvertraut erscheint. Einer einundvierzigjährigen Frau gelingt es spielend, Sprach- und Fühlwelten zu begründen bzw. anzusprechen, die auf einen umfassenden Resonanzboden treffen.
In keinem anderen Kapitel scheint dies deutlicher zu werden als Den Tod sehen (Seite 48-55). Es sind ja keine wirklich neuen Erkenntnisse, die uns da vermittelt werden. Aber in der Nüchternheit, Klarheit und im angebotenen Wechselbezug von theoretischer Durchdringung und mittelbarer praktischer Todeserfahrung vollziehen sie sich in einer Tonlage, die mir in der Form bislang nicht begegnet ist – sieht man einmal ab vom Sterbetagebuch, das ich selbst in der Begleitung meiner Mutter zum Tode hin, sozusagen just in time, verfertigt habe; aus purer Not im Übrigen. Seine Entzifferung ist mit Hilfe von Eva von Redecker im Nachhinein mit einem Abstand von genau 20 Jahren mehr als eine Anlehnung an die von ihr angebotenen Unterscheidungen. Zumindest wird mir überdeutlich, warum dieses Buch BLEIBEFREIHEIT eine solch fulminante Wirkung auf mich hat.
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Jupp's BLOG - Seite 100 nach neun Jahren(:-)))
Ist das ein Grund zum Feiern? Oh, ja - mit Adrian gemeinsam begehe ich dieses Jubiläum beglückt und beeindruckt gleichermaßen. Was mir aus professionellen Erwägungen und sanftem Druck 2014 anempfohlen wurde, hat sich als einmalige Chance herausgestellt. Seit 25 Jahren schreibe ich regelmäßig Tagebuch. Der Blog entstand ab 2014 parallel dazu: Seminarbetrieb und Arbeitsorganisation, Tranzparenz, Kontinuität und Zugänglichkeit erreichten durch den Blog ein neues Niveau. Inzwischen sind die professionsbezogenen Seiten weitgehend obsolet und folgerichtig in den Hintergrund getreten. Unmittelbar verbunden mit der Professionalisierung meiner beruflichen Präsenz stellten sich die Vernetzungsmöglichkeiten sehr schnell als Quantensprung in mehrfacher Hinsicht heraus:
- Sie erlaubten quantitativ und qualitativ einen neuen Zugang zu Informationsquellen und den Möglichkeiten ihrer Vernetzung;
- Erhöhung der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der professionellen Schwerpunktsetzungen: Biographieforschung, theoriebezogene Validierung der bevorzugten bzw. vertretenen Theorie- und Praxisangebote; Professionalisierung der LehrerInnenausbildung (Lehrergesundheit, Selbstbilder, Vermittlung und wechselseitige Befruchtung aufbrechender und abschiedlicher Perspektiven);
- unter der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass die Repräsentation von Außenwelt immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein kann, ereigneten sich Forschung und Lehre insgesamt mit einem signifikant erhöhten Grad an Transparenz und Nachvollziehbarkeit;
- mit der Versetzung in den Ruhestand 2017 verlagerte sich dieser Anspruch vollends auf die Pflege deutlich intensivierter Blogaktivitäten, die - bei geringer, und im Übrigen auch nicht beabsichtigter öffentlicher Resonanz - in erster Linie der Selbstvergewisserung dienen. Die lange gepflegte Beobachterperspektive (Demenztagebuch) in Richtung meines Schwiegervaters und meiner Schwiegermutter verschiebt sich unterdessen mehr und mehr zu einer Perspektive der Selbstbeobachtung. Aus diesen Erwägungen heraus erscheinen mit meine eigenen Blogaktivitäten als Gradmesser für die Differenziertheit und Intensität meiner Selbst- und Weltbeobachtung.
Auf diese Weise haben also unterdessen nicht nur die großen Vorhaben und Projekte Eingang gefunden in dieses komplexe Bloggeschehen. Die Zugänglichkeit der veröffentlichten Beiträge über ein Schlagwortregister zeigt einerseits das Profil meiner Interessen und ermöglicht andererseits einen etwas systematischeren Zugriff. Darüber hinaus erweist sich eine Suchfunktion als hilfreich, in die man Namen oder auch einfach thematisch interessierende Begriffe eingeben kann. Daneben sind, wie gesagt, zentrale biographische und familiendynamische Projekte zugänglich: mit Hildes Geschichte, mit meinen eigenen autobiographisch motivierten parforce-Ritten: Kurz vor Schluss I und Kurz vor Schluss II. Das erwähnte Demenztagebuch ist seit Jahren online und bildet nach wie vor eines der zentralen Projekte. Meine damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Tätigkeit als Herausgeber von Rund um den Laubenhof zeugt von der intensiven Auseinandersetzung mit der Situation der Alten und ganz Alten in unserer Gesellschaft; meine Generation gehört dazu.
Unter der Rubrik Wie alles anfing im Startmenü werden die seinerzeitigen Anfänge und die zentralen Motive des Blogunterfangens zusammengefasst. Von dort aus haben sich die Akzente deutlich verschoben, wobei sich das Bemühen um Aufklärung und Selbstaufklärung - auch im Bewusstsein der generell unaufhebbaren blinden Flecken - nach wie vor als einer der Hauptantriebe erweist.
Die Einmischung in politische Debatten und gesellschaftliche Diskurse halten mich wach - und umgekehrt wird ein Sinn daraus: Solange ich mich einmische, bin ich hoffentlich wach und auf der Höhe meiner Möglichkeiten; ein zentrales, aktuelles Beispiel ist mit der russischen Aggression der Ukraine gegenüber gegeben.
wird forgesetzt
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Eva von Redecker - Bleibefreiheit II (hier: Bleibefreiheit III)
hier: Bleibefreiheit I
Am 7.4.2012 eröffnete der SPIEGEL mit einem Blick ins Rheintal bei St. Goarshausen mit der Frage: „Was ist Heimat? – Eine Spurensuche in Deutschland“
Auf Seite 67 wird der „Heimathasser“ Altmann vorgestellt:
„Altmann ist ein extremes Beispiel für den ‚Losgelösten‘, wie das in der Soziologie heißt. In der modernen Welt sind Aufbrüche häufig gewünscht oder notwendig. Man verlässt sein Dorf, weil man anderswo bessere Chancen für sich sieht. Man verlässt sein Land aus dem gleichen Grund. In der globalisierten Welt sollen die Menschen besonders flexibel sein, mobil sein, sie sollen ihre Heimaten jederzeit hinter sich lassen können, räumlich wie geistig oder moralisch. Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals: ‚In ihrem Fortgang sprengt die Globalisierung Schicht für Schicht die Traumhüllen des bodenständigen, des eingehausten, des in sich selbst orientierten und aus Eigenem heilsmächtigen Kollektivlebens.‘
Die Globalisierung mutet ihren Nomaden Aufbrüche ohne Ankünfte zu. Das Leben spielt sich zum großen Teil an Nicht-Orten ab, an Flughäfen, in Hotels, Konferenzräumen. Sie sind auf Flüchtigkeit eingerichtet und nicht zu unterscheiden, weshalb sie nicht Heimat sein können. Heimat braucht Dauer, und Heimat ist spezifisch.“ Wie sieht die Welt zwischen eingehaust und unbehaust aus?
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Eva von Redecker - Bleibefreiheit I
(hier alle Beiträge: I - II - III - IV - V)
Eva von Redecker stellt sich im Klappentext zu BLEIBEFREIHEIT (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023) als Philosophin und freie Autorin vor. Weiter ist zu lesen, dass sie als Wissenschaftlerin in Berlin, New York und Cambridge tätig war und zuletzt Marie-Sklodowska-Curie-Fellow an der Universität von Verona war. Sie beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik… seit Mai verfasst sie regelmäßig die Kolumne Ohne Geländer im Philosophie Magazin. Es ist zu lesen, aufgewachsen auf einem Biohof lebe sie heute im ländlichen Brandenburg.
Auffällig ist, dass in B L E I B E F R E I H E I T nicht die Rede von Heimat im traditionellen Sinn ist. Ihre Argumentation ist nüchtern und in ihren Grundunterscheidungen messerscharf. Man kann offenkundig in einem radikal veränderten Umfeld mit tiefgreifenden umweltbezogenen Veränderungen eine Idee von Bleibefreiheit entwickeln, die aber so gar nichts mit Heimattümelei zu tun hat.
Ich werde mich Seite für Seite durch diesen nur 159 Seiten umfassenden Essay lesen und ihn in gewohnter Manier kommentieren. Das heißt – wie bereits in den beiden kurzen Beiträgen angedeutet -, dass mir in erster Linie die Parallelen am Herzen liegen, die mein Denken und Fühlen und Schreiben seit Jahrzehnten schärfen, und die in Eva von Redeckers Auslassungen einen systematisch begründeten Werde- und Bleibeort vorfinden.
Die Ankunft der Schwalben (Seite 7-24) könnte uns dazu verleiten, eher eine Heimat in den Blick nehmende und verbürgende Perspektive zu vermuten. Die in den fünfziger und sechziger Jahren Aufgewachsenen – aber auch Eva von Redecker (Jahrgang 1982) werden in der Tat konfrontiert- oder besser im besten Sinne erinnert – mit bzw. an ein(em) Phänomen, dass so selbstverständlich war, dass wir ihm keinerlei Bedeutung zumaßen. Da muss erste eine junge Frau daherkommen, um einem gewohnten, selbstverständlichen Ereignis die Aura des Besonderen, die symbolische Bedeutung eines zeitenwendigen Phänomens zu attestieren. Der erste Satz: