Eva von Redecker: Bleibefreiheit - Freiheit besteht aus erfüllter Zeit
(meint auch Friedemann Schulz von Thun)
"Nimm mich (sagt Luisa Neubauer), ich habe so viele Tonnen CO² auf mein Konto geladen, dass es jetzt schon nicht mehr aufgeht. Und ich bin 25. Ein Teil davon geht auf ein privilegiertes Setting zurück. Aber der größte Teil geht auf die Menge an CO², die Menge an Umweltzerstörung zurück, die wohlständige Gesellschaften infrastrukturell ausstoßen. Es funktioniert einfach nicht: Es gibt kein nachhaltiges Leben in einer nicht nachhaltigen Welt."
Ein ökologisch bewusstes Ausrichten des individuellen Lebensstils wird nicht ausreichen, um der infrastrukturellen Kosten, die wohlständige Gesellschaften verursachen, Herr zu werden. Umdenken oder untergehen, meint jeden Einzelnen, aber zuvorderst die Wohlstandsgesellschaften zur Gänze.
Maximilian Probst kritisiert zwar schon 2017 individuelles Fehlverhalten; sein Appell Umdenken oder Untergehen liegt aber vollkommen unstrittig in der von Luisa Neubauer vertretenen Auffassung es gebe kein nachhaltiges Leben in einer nicht nachhaltigen Welt.
Die Philosophin Eva von Redecker greift diesen Gedanken konsequent auf und kreiert in ihrer jetzt erschienenen Veröffentlichung (S. Fischer-Verlag) den Begriff der Bleibefreiheit. Der argumentative Kontext ist sattsam bekannt und wird von ihr mit dem Begriff des „Epochenbruchs“ scharfgestellt:
Zwischenbemerkung (für mich nach mehr als drei Jahren spannend dazu der Versuch, auf Youtube das Wort zu nehmen): Dieser Epochenbruch verbindet sich spätestens mit dem Beginn der covid19-Krise. 2020 hat Bernd Ulrich die Vorstellung in den Raum gestellt, ein neuer Freiheitsbegriff nehme Konturen an, "gespeist aus der Erfahrung des überlebbaren Weniger"!
„Die 12.000 Jahre alte Zwischeneiszeit geht zu Ende – und zwar durch menschengemachte Faktoren: die Erderwärmung, das Artensterben. Einiges deutet darauf hin, dass es im jetzigen Holozän die größte Biodiversität gab, die die Erde je gesehen hat. Die schönste Erde, die wir je hatten. Die ungewöhnliche klimatische Stabilität hat viel Leben ermöglicht – und viel Freiheit. Jetzt sind wir in einer Phase des Übergangs. Der Verlust und die Verwüstung diverser Biotope und Arten haben begonnen. Vieles ist nicht mehr aufzuhalten, aber alles ließe sich abmildern. In jedem Fall bleibt nichts, wie es war. Nicht ökologisch und deshalb auch nicht sozial und nicht kulturell.“
Sie erläutert in diesem Kontext den von ihr kreierten Begriff der Bleibefreiheit. Und damit kommt ein neuer Ton in die Diskussion, der mir vorkommt wie ein Paradigmenwechsel.
Unter einem Paradigmenwechsel versteht man gemeinhin den grundlegenden Wandel von Perspektiven und Herangehensweisen zur Lösung von Problemen. Lassen sich wichtige wissenschaftliche Fragestellungen mit dem vorherrschenden Paradigma nicht mehr beantworten bzw. lösen, kommt es zu einer grundlegenden Veränderung. Es erfolgt ein Paradigmenwechsel.
„Es gibt Momente, in denen ich mich als besonders frei empfinde, die sich in einem Modell der Bewegungsfreiheit nicht fassen lassen. Unbedroht und erfüllt an Ort und Stelle bleiben zu können. Die Welt wandelt sich, die bewohnbaren Gegenden schrumpfen, also die Orte, an denen man sicher bleiben kann. Da verliert die Reise- oder Bewegungsfreiheit ihre Bedeutung. Diese Freiheit ist darauf angewiesen, dass es Orte gibt, an die man fahren und an denen man bleiben kann.“
Eva von Redeckers Paradigmenwechsel berührt den tradierten Freiheitsbegriff in seinem ursprünglichen Kern. Sie argumentiert, unser Freiheitskonzept sei nicht mehr zeitgemäß:
„Unsere Affektstruktur hinkt der Weltgeschichte hinterher. Wir müssen aufhören, räumlich auf die Freiheit zu schauen, und es stattdessen zeitlich tun. Nicht: Wo kann ich jetzt hin? Sondern zeitlich: Wie viel Zeit steht mir zur Verfügung und wie erfüllt ist sie?“
Die SPIEGEL-Redakteure Tobias Rapp und Tobias Becker tun nun das, was man von jedem Durchschnittdeutschen – insbesondere aber von den Wohlhabenden und Superwohlhabenden erwartet. Sie wenden nämlich ein:
„Machen Sie es sich nicht zu einfach? Die Möglichkeit, reisen zu können, ist gerade für Deutsche eine der wichtigsten Freiheiten.“
Miniexkurs: Mir bekannte Deutsche kamen vor Tagen von einem Kurztrip in die Schweiz mit dem Tenor zurück, nunmehr zu wissen, wo sie in Zukunft nicht mehr hinreisen. Die Kosten für Kost und Logis mussten mit dem Faktor 3 multipliziert werden. Man kann diese Entscheidung nachvollziehen und begrüßen unter dem Motto: Die Marktwirtschaft wird’s schon richten. In dem Augenblick, wo – Beispiel Kernkraft – alle Kosten und Kollateralschäden – in die Kosten-Nutzen-Rechnung eingehen, halten Unternehmen und auch Touristen die Hände bzw. die Füße still.
Aber Eva von Redecker begnügt sich nicht mit schlichten liberalen, marktwirtschaftlichen Überlegungen. Auf den Hinweis der SPIEGEL-Redakteure, der liberale Freiheitsbegriff habe doch immer schon beinhaltet, dass die eigene Freiheit nur bis zur Freiheit des anderen reiche, entgegnet sie:
„Die Freiheit ist in dieser Vorstellungswelt ein knappes Gut. Wenn sie beim einen wächst, schrumpft sie beim anderen. Deshalb muss man die Grenzen des anderen wahren, das wissen alle guten Liberalen. Undenkbar hingegen ist für den Liberalen, dass die Freiheit gemeinsam wachsen könnte. Der Freiheitsbegriff des Liberalen ist deshalb untauglich für das Anthropozän.“ Es habe immer schon geknirscht zwischen den großen Verfügungsspielräumen auf den einen Seite und deren Eingrenzung auf der anderen. Aber im Moment breche diese Balance auseinander: „Und das liegt nicht nur daran, dass ein paar Leute maßlos geworden sind. Es liegt auch daran, dass die Eingrenzung nicht mehr funktioniert. Wir merken plötzlich, dass es fast keine individuelle Freiheit mehr gibt, die sich nicht doch auf alle anderen auswirkt. Und zwar auf desaströse Art. Es gibt wahnsinnig viele Menschen, die eigentlich auch einen Anspruch hätten auf die Freiheit, die wir im Westen haben. Aber es gilt erst recht für die Zukunft, für nachfolgende Generationen. Was wir nicht mehr alles machen dürften, damit auch sie noch halbwegs so viel Spielraum haben wie wir heute – das ist erdrückend. Da droht der Kollaps.“
Die SPIEGEL-Redakteure verweisen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das vor zwei Jahren festgestellt hat, dass die Politik die Freiheit künftiger Generationen berücksichtigen müsse – und das deshalb die Klimaziele nicht in die Zukunft verschoben werden dürften.
Auch wenn Eva von Redecker dieses Urteil für einen überwältigenden Durchbruch hält, kritisiert sie das Festhalten am gängigen Freiheitsbegriff:
„Was ich versuche, ist, die Freiheit nicht nur durch die Zeit hindurchzuretten, sondern sie selbst ganz anders, nämlich zeitlich zu denken. Dass (nämlich) Freiheit darin besteht, Zeit zu haben. Im ersten Schritt geht es beim Zeithaben einfach um die endliche Spanne unseres Lebens […] Die Grunderfahrung eines reichen Lebens ist eher, dass uns unsere Zeit nicht gehört. Und zwar nicht nur, weil sie jederzeit für immer enden könnte. Mit dem Tod. Sondern weil wir sie mit anderen teilen […] Es erscheint mir sinnvoll zu sagen: Die Freiheit besteht in ungezwungener, erfüllter Zeit.“
Was – um Gottes Willen –, fragen nicht nur die SPIEGEL-Redakteure soll denn das sein: erfüllte Zeit? Da dürften die Meinungen doch weit auseinandergehen! Eva von Redecker ist Philosphin. Und so mag ihre erste Antwort nicht verwundern:
„Erfüllt ist unsere Zeit, wenn sie möglichst reich strukturiert ist – und von Neuanfängen gekennzeichnet. Wer merkt, dass er nicht spontan sein kann, dass er total eingezwängt ist, der lebt kein freies Leben. Auch wenn er vielleicht wohlhabend ist und erster Klasse fliegen kann. Frei sein heißt zu wissen, dass man in gewisser Weise immer wieder neu zur Welt kommen kann, etwas anfangen in und mit dem Leben. Frei zu sein heißt, lebendig zu sein. Das geht natürlich nicht allein, das geht nur in konzertierten Aktionen […] Über die Zeit hinweg ist ganz klar, dass alles davon abhängt, was die anderen tun werden. Und man fängt eigentlich nie allein neu an, sondern in Situationen mit Menschen um einen herum, die reagieren, die einem Anstöße geben, die mitspielen. Worum es mir geht, ist, nun aber auch die ökologischen Lebensgrundlagen – also letztlich alles Lebendige – als Gegenüber des einzelnen Menschen einzubeziehen […] Es sind also drei Dimensionen der Zeit, die uns zusammen Freiheit gewähren: die Dauer, die Offenheit und die Regeneration.“
Im Verlauf des Interviews fällt der Begriff Klimadiktatur. Hier gibt es eine eindeutige Antwort von Redeckers:
„Damit will ich nichts zu tun haben, schon allein weil es aussichtslos ist, lächerlich. Nicht mal die sehr militanten, sehr existentiell argumentierenden Akteure in der aktuellen Klimabewegung fordern weniger Demokratie. Im Gegenteil, sie erleben in der eigenen Mobilisierung, dass Demokratie funktioniert. Extinction Rebellion macht sich für Bürgerräte stark, was womöglich zu vernünftigeren Entscheidungen führen würde als der von Lobbyisten durchsetzte parlamentarische Prozess. Und auch Fridays for Future hat ein viel größeres Demokratievertrauen als der Rest der Bevölkerung.“
Stichwort Kapitalismuskritik:
„Die Katastrophe war immer schon da und die Zerstörung ein Bestandteil dieses Wirtschaftsmodells. Die Manchesterkapitalisten konnten sich ihre Maschinen nur kaufen, weil sie Kapital aus dem Sklavenhandel hatten. Die derzeitige Produktionsweise ist gewalttätig und ökozidal. Es wäre nichts damit gewonnen, die Endergebnisse anders zu verteilen.“
Lösungen?
„Regeneration – wir müssen anders produzieren, anders arbeiten. Wir müssen ein enormes Maß an Care Work für den Planeten leisten, ökologische Reparaturarbeit, die nicht marktförmig sein kann. Stellen Sie sich vor, die Feuerwehr würde künftig bei Waldbrand nur kommen, wenn man sie bezahlen kann.“
Ihre Haltung?
Die SPIEGEL-Redakteure merken an, sie argumentiere vor dem Hintergrund eines radikalen Wandels und dennoch unaufgeregt.
„Ich brauche Ruhe, um denken zu können. Es ist paradox: Wenn man keine Zeit mehr hat, muss man sich besonders viel Zeit nehmen. Unsere Probleme werden sich nicht lösen lassen, in dem wir aufgeregter denken.“ Sie begründet ihre Distanz zu sozialen Medien, indem sie anmerkt, das mache ihr erstens keine Freude und es gebe zweitens viele Arten in der Öffentlichkeit zu stehen: „Für den Modus des Alarms habe ich weniger Neigung und Talent. Ich will niemanden überzeugen, ich will nur etwas durchdenken.“
Herkunft und Bleibefreiheit:
Die SPIEGEL-Redakteure spielen auf ihre Herkunft als norddeutsche Bauerntochter an und fragen, warum sie heute wieder in der norddeutschen Provinz lebe.
„Ein Grund dafür liegt sicher darin, dass ich mit manchen Menschen zusammen und im Austausch bleiben wollte. Ich bin kreativ, weil ich die Bindungen zu meiner Herkunft nie gekappt habe.“ Bleibefreiheit habe für sie ein ganz persönliche Bedeutung: „Es ist die Alltagsvokabel meines Lebens. Und dass ich damit philosophiere, ist auch der Versuch, mir Rechenschaft abzulegen darüber, ob das einfach meine zufällige Vorliebe ist oder ein Werkzeug, das auch anderen hilft.“
Ich bin gespannt auf das Buch Bleibefreiheit s. Fischer Verlag; 160 Seiten; 22 Euro