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Vergeblichkeit und Generativität

Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck des Blinden Flecks von Stephan Lebert und Louis Lewitan

Es ist Sonntagmorgen - der Weiße Sonntag; der Sonntag, an dem Kinder zum ersten Mal vom Leib Christi kosten - so wie ich es auch getan habe vor 65 Jahren. Die Bilder aus Rom sind gegenwärtig, man konnte ihnen nicht entgehen - sich ihnen vollkommen entziehen: Franziskus als Projektionsfläche ungestillter Sehnsüchte, nie zu erfüllender Träume einer verkommenen, verrotteten Amtskirche gegenüber. Am Rande der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Papst (der Armen und Ausgestoßenen) werden Deals gemacht - unvermeidbarer Weise mit einem Repräsentanten einer aus den Fugen geratenen Welt, der die Geschäfte eines Mörders betreibt, und der Vergeblichkeitsgefühle hekatombenmäßig befeuert.

Ich habe soeben "Am Ende war da ein Gefühl von absoluter Vergeblichkeit" in der akutellen ZEIT (17/25) vom 24. Februar gelesen; Catarina Lobensteins Versuch, den Abgang Kevin Kühnerts aus der großen Politik nachvollziebarer zu machen. Ich gestehe, dass ich Zeit meines (alten) Lebens von Kevin Kühnert zutiefst beeindruckt war, dass es Caterina Lobenstein aus meiner Sicht gelingt, feinfühlig und sensibel Grundtugenden eines (idealtypischen) Vertreters seriöser Politik nachzuzeichnen: die Fähigkeit, zuhören zu können, auf den Punkt hin (auch in prekären Situationen) formulieren bzww. parieren zu können, eine nahezu charismatische Vision von (sozial-)demokratischer Politik entwerfen zu können (und dafür auch persönlich einzustehen). Um dann letztlich auch begreiflich zu machen, dass Kevin Kühnerts Scheitern folgerichtig und nahezu alternativlos erscheint. Der Seitenwechsel von einer relativ machtfernen (aber immerhin auf der Bühne eines öffentlichkeitswirksamen Politikbetriebs verankerten) Position des Juso-Vorsitzenden, hin zur Position des Generalsekretärs im Machtzentrum der Sozialdemokratie, die zugleich eine taktisch-strategische Begrenzung eigener Ambitionen erzwingt, hat Kevin Kühnerts heißen Magma-Kern veränderungswirksamer Einflussnahme dahinschmelzen lassen. Nun könnte man fragen: Was und wen hat den Kevin Kühnert geritten bei der Entscheidung, sich auf einen Schleudersitz zu setzen, bei dem Parteiraison der einzige Kompass sein kann? Sei's drum: Kevin Kühnert mutiert in den Jahren seiner Karriere als Partei-Soldat nicht nur deshalb zur tragischen Figur. Er erfährt geradezu exemplarisch den Verfall einer politischen Kultur, in dessen Folge Einschüchterung und Bedrohung auf der einen Seite und das Entgleiten der politischen Meinungsführerschaft auf der anderen Seite jene von ihm angeführten Vergeblichkeitsgefühle befeuern.

Kevin Kühnert ist unterdessen 35 Jahre alt - weniger als halb so alt wie ich. Wir alle - die zwischen dem Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhundert hinein in die fünfziger und frühen sechziger Jahre Geborenen - sehen uns heute mit der aufkeimenden Saat dieser Vergeblichkeitsgefühle konfrontiert. Ich wechsle das Metier:

John Kotre, 1940 in Chicago geboren, war Projektdirektor am Institut für Soziale Forschungen an der Universität von Michigan. Neben den Weißen Handschuhen beschäftigt mich seine 1999 erschienene Veröffentlichung: Lebenslauf und Lebenskunst - Über den Umgang mit der eigenen Biographie (Carl Hanser Verlag, München 2001). Seine abschließende Feststellung - am Ende seines einleitenden Kapitels - passt zu dem, was im Zusammenhang mit Kevin Kühnerts Vergeblichkeitsanmutungen auf die Bühne individueller und kollektiver Ängste tritt:

"Es gibt viele Gegenstände, an die Psychologie und Religion in Gemeinschaftsarbeit herangehen können, doch keiner ist bedeutender als das Thema dieses Buches - unsere Einstellung zu künftigen Generationen und zur Zukunft der Welt. Ich bin davon überzeugt, daß das, was Erwachsene aller Altersgruppen - die Jüngeren, die mittleren Alters und die Älteren - in ihrem Inneren bewegt, signifikante Auswirkungen auf die jetzt entstehende Generation und auf die gesamte Fortentwicklung des Lebens auf diesem Planten hat. [...] Tiefe Befriedigung kann sich einstellen, wenn man sein Leben im Hinblick auf Generativität lebt - ein sicheres Wissen, daß das Leben >gezählt< hat." (Seite 19f.)

Es ist darüber gemutmaßt worden, ob Kevin Kühnerts Fall pathologische Anteile aufweist, ob er sich möglicherweise einer Therapie unterziehe, ob er an einer Depression leide usw. Das hier wiedergegebene Zitat ist 1999 publiziert worden. Kevin Kühnert war neun Jahre alt. Man könnte also im Sinne John Kotres spekulieren, inwieweit sich in Kevin Kühnert seine These manifestiert, dass die (sozialen) Kontexte, die (politischen) Versäumnisse signifikante Auswirkungen auf "die jetzt entstehende Generation und die gesamte Fortentwicklung des Lebens auf diesem Planeten hat". Wir sehen weltweit: Fridays for Future - die Letzte Generation auf der einen Seite - auf der anderen Seite beobachten wir das Erstarken rechtsextremer Bewegungen weltweit. Wir stehen fassungslos vor der Tatsache, dass fast ein Viertel der Wahlberechtigten in Deutschland (in den neuen Ländern ist es unterdessen mehr als ein Drittel der Wählerschaft) für die AfD votiert. Neben Fassungslosigkeit treten Wut und Scham gleichermaßen. Wenn ich nun John Kotre das Wort als Therapeut gebe, öffnen wir im Sinne der erwähnten Generativität vermutlich das entscheidende Fenster, durch das wir schauen müssen, um ansatzweise zu verstehen, was in diesem Land und weltweit geschieht. Legen wir uns als Individuen und als Kollektiv auf die Couch und machen uns zunächst einmal klar:

"Keine Therapie ist abgeschlossen, ehe nicht der gesamte Lebensfluß wiederhergestellt ist, und dazu gehört auch ein generatives Einmünden des Flusses. Der Pfad durch den sich diese Sehweise öffnet, ist nicht leicht zu beschreiten. Auf dem Weg zur Generativität gibt es Kurven und Windungen und verborgene Gefahren und Schwierigkeiten schon von Anfang an. Zu Beginn müssen wir mit dem ins Reine kommen, was von früheren Generationen auf uns gekommen ist. [...] Welcher Glaubensakte bedarf es, um Dinge hervorzubringen, die sich eines Tages unserer Kontrolle entziehen und von deren letzten Geschicken wir niemals erfahren? Wie können wir unsere Kinder und unserer Hervorbringungen einer Welt ausliefern, die von Tag zu Tag bedrohlicher erscheint?" (Seite 18)

Das ist in jeder Hinsicht starker Tabak, den wir nicht dadurch abmildern können, dass wir schlicht sagen: "Unseren Kindern soll es gut gehen - oder wie unsere Eltern gesagt haben: >Unseren Kindern soll es einmal besser gehen, als uns!<" Auch wenn John Kotre sagt, er werde Generativität durchweg als etwas Positives behandeln, insistiert er und bekennt: "Doch werde ich auch ihre >dunkle Seite< nicht vernachlässigen." Vielleicht wird deutlicher, was er meint, wenn wir uns den letzten Abschnitt der einleitenden Kapitel anhören:

"Eine neunzigjährige Frau, die an Arthritis leidet, stell in dem Buch The old ones of New Mexico von Robert Coles die folgende Überlegung an: >Ich bin reich an Jahren, eine Millionärin! Ich war Teil meiner eigenen Generation, dann habe ich die Generation meiner Kinder aufwachsen sehen, dann die meiner Enkel, und nun die meiner Urenkel. Zwei meiner Urenkelinnen werden gerade zu erwachsenen Frauen; sie kommen mich besuchen, und sie werden sich an mich erinnern. Jetzt frage ich Sie, was kann eine Frau sonst noch erwarten?< Auch sie war ein Mensch, der niemals das Wort Generativität gehört hat, doch das hatte sie auch nicht nötig gehabt." (Seite 21)

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