Über den Umgang mit der eigenen Biographie (John Kotre)
Auf der Suche nach einem Koordinatensystem erfolgt ein (weiterer) Versuch des Einnordens. Mit Niklas Luhmanns Lebenslauftheorie und den philosophischen Überlegungen Odo Marquards verzeichne ich deutliche Landgewinne, auch wenn ich mir manchmal vorkomme, wie weiland die Schildbürger, die einen Schatz mitten auf dem See versenken und sich sicher sind, durch eine Einkerbung an den Planken ihres hölzernen Bootes die Stelle im See auch jederzeit wiederzufinden. Mit John Kotre (Lebenslauf und Lebenskunst) nähern wir uns dem Begriff der Generativität. Seine These geht davon aus, dass - wer sich seiner eigenen Generativität bewusst werde - auch bewusst entscheiden könne, was ihm im weiteren Verlauf seines Lebens wichtig sein wird. Er nimmt an, dass das Konzept der Generativität helfen könne, einen roten Faden zu entdecken: "Diese roten Fäden ziehen sich freilich nicht in gerader Linie durch die Zeit und sie liegen selten offen zutage. Sie wollen entdeckt und geknüpft werden."
Hat man - wie ich - die sechzig überschritten - kann man vieles von Kotres Hinweisen komprimieren; man ist geneigt und empfindet es - je nach dem - gleichermaßen als verlockend wie bedrängend sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. So taucht bei John Kotre als zentraler Begriff der des "Vermächtnisses" auf. Und es ist nicht selbstverständlich, sich als Adressat eines Vermächtnisses zu begreifen:
"Doch Vermächtnisse kommen in allerlei Gestalt einher, in guter wie in schlechter. Die symbolische Flasche kann Talente oder Krankheiten enthalten, die in unseren genetischen Code eingeschrieben sind (im Falle biologischer Generativität), eine Geschichte von Liebe oder Gewalt in der Familie (elterliche Generativität), den Ansatzpunkt eines Mentors, ein Problem zu lösen, sei es elegant oder ungeschickt (technische Generativität) oder die Anschauung eines Künstlers von Gut und Böse (kulturelle Generativität). Einige dieser Vermächtnisse - unsere genetische Grundausstattung zum Beispiel - gehen Millionen von Jahren zurück, während andere - Einstellungen zu Gut und Böse - Tausende von Jahren zurückreichen. Wiederum andere sind Überreste der vielen Erfahrungen, die wir in unserem eigenen kurzen Leben gemacht haben. Eine Flasche, die ein Vermächtnis enthält, kann aufgrund von Täuschung, Furcht, Schmerz, Schuld, Scham, Zorn oder schlichter Unkenntnis verschlossen sein. Sie zu öffnen heißt unter Umständen nichts weiteres als zu erfahren, was in unserer Erziehung oder in der Geschichte unseres Volkes an Besonderheit vorhanden war. Und das kann recht lange dauern: der Fiscgh, so lautet unser Sprichwort, ist der letzte, der das Wasser entdeckt (52)."
Wir erfahren hier, dass John Kotre vier Arten von Generativität unterscheidet: die biologische, die elterliche, die technische und die kulturelle Generativität. Biologischer Generativität - so Kotre - gewahrten wir, wenn wir körperliche Merkmale unserer Eltern an uns selbst wahrnehmen oder unsere eigenen an unseren Kindern. Die elterliche Generativität ergebe sich daraus, Kinder großzuiziehen und "sie für das Familienleben zu initiieren". Im besten Fall - so argumentiert Kotre - gehe es um mehr als nur ums Nähren, Kleiden und Unterkunft. Es gehe um das Vermitteln "des Stolzes auf den Wohnsitz der Familie und ihre Traditionen". Technische Generativität offenbare sich in der Vermittlung von Fertigkeiten und Verfahrensweisen - wie man Spiele spiele, mit Holz arbeite, wie man schreibe, wie man mit Geld umgehe usw. Kotre macht hier im Übrigen eine hochinteressante Unterscheidung, die sich auch in die Debatte um das Grundverständnis von Schule (Inklusion) problemlos integrieren lässt:
"Auf technischem Gebiet gibt es zwei Objekte der Bestrebungen. Das eine ist die Person des Lehrlings; das andere die Fertigkeit, gelehrt wird. Zuweilen müssen die Lehrer zwischen den beiden wählen. Entscheidet man sich für die Fertigkeit, dann bedeutet das, dass der Lernende entlassen wird, wenn er die Technik nicht völlig beherrschen lern. Entscheidet man sich für den Lehrling, dann bedeutet das im anderen Falle, dass man dem Lernenden nur das beibringen wird, was im Rahmen seiner Lernfähigkeit liegt, und dass man bei der Techik, wenn nötig, Kompromisse eingeht (26)."
Schließlich unterscheidet Kotre noch die kulturelle Generativität. Er spricht von der Bewahrung, Erneuerung oder Schaffung eines Bedeutungssystems und dessen Weitergabe an andere: "Ein Bedeutungssystem ist der 'Geist' eines Gemeinwesens, wie Fertigkeiten sein 'Körper' sind. Man bringt nicht nur bei, wie die Dinge zu tun sind (technische Generativität), sondern auch, von welchen Überzeugungen sie geprägt sind, von welchen Werten sie getragen werden, welche Theorie ihnen zugrunde liegt, wofür sie 'stehen', welche 'Seele' oder welcher 'Geist' sie animiert. Eine Kultur kann religiös geprägt sein oder wissenschaftlich, politisch, ethnisch, künstlerisch - oder einfach in dem Gemeinsinn bestehen, der eine bestimmte Gruppe von Menschen prägt (26f.)."
Kommen wir zurück auf die Idee des "Vermächtnisses":
John Kotre ist fasziniert von den verschiedenen Kombinationen, "in denen einzelne Menschen ihren Drang zur Generativität, ihre künstlerischen Neigungen, ihre Furcht vor dem Tod und ihr Bedürfnis, hilfreich, zuverlässig und aufbauend zu sein, miteinander verquicken (37)". Bezogen auf Vermächtnisse betont er, dass sich eine Hinterlassenschaft nur mit dem Erbteil bilden lasse, das wir empfangen hätten. Drei mögliche Reaktionen beschreibt John Kotre, von denen zunächst zwei erläuter werden:
- Einerseits könne man - wenn das Vermächtnis ein gutartiges sei - es wiederholen: "Wir können uns daran ein Beispiel nehmen. Wir können so rechtschaffen sein wie unser Vater oder so fürsorglich wie unsere Mutter. Wir können die Werte weitergeben, die unser Mentor uns beigebracht hat (53)."
- "Wenn ein Vermächtnis jedoch der dunklen Seite angehört, können wir es revidieren, wir können nehmen, was wir empfangen haben, und es so umwandeln, so dass aus Üblem Gutes wird, aus Eselsäpfeln Gold (ebd.)."
Das Wiederholungsmotiv scheint trivial. Schauen wir zunächst einmal, wie mit John Kotre die Revision eine Vermächtnisses aussehen kann: Dazu erzählt er die Geschichte von Robert Creighton; ein schwarzer Junge, "dem es nicht vergönnt war, ein Vermächtnis zu wiederholen, er musste es revidieren".
Dass Robert seinen Vater gleichwohl aufgrund eines Schlüsselerlebnisses als "Held" sah, resultierte aus der Erfahrung, dass der Vater auf dem Höhepunkt einer bedrohlichen Erkrankung Roberts innerhalb kürzester Zeit "vom anderen Ende der Stadt" zu seinem Sohn eilte, ihn mit seinem Auto - ein schwarzer schimmernder Plymouth - ins Krankenhaus brachte. Aber alles, was in Roberts Leben folgte, "war ein Verrat an dieser Erinnerung". Roberts zentrale Erfahrung war die eines Vaters, der sich dem Sohn konsequent entzog: "Er wollte die Verantwortung nicht: 'He Kid, sei nicht so wie ich'". Mit zwölf realisierte Robert endlich die Zurückweisung des Vaters - ausgelöst und unterstrichen durch die abweisende Haltung des Vaters gegenüber dem Wunsch Roberts Anteil zu nehmen an der Werkstattarbeit des Vaters, einfach um das Handwerk zu lernen: "Zum Teufel, nein. Du darfst nicht kommen. Du redest zuviel. Du stellst zu viele Fragen." Robert hatte eine fürsorgliche, einfühlsame Mutter: "Sie war es, die ihn stützte und tröstete und ihm Geschichten erzählte." Als Robert 20 wurde (1961), entzog er sich zunehmend dem Einfluss der Mutter: "Er steckte voll unbeherrschbarem Zorn, 'bombardiert von Emotionen, mit denen er nicht umgehen konnte'." Er schloss sich der Bürgerrechtsbewegung an und landete für mehrere Wochen im Gefängnis - vielleicht der Wendepunkt auch in seiner Selbsteinschätzung -, der die Hitze und die Wut des Aufbegehrens kanalisierte und verwandelte:
"Ich weiß nicht, ob ich das von Martin Luther King habe oder nicht, aber er hat immer davon gesprochen, auf den Berg zu gehen."
Rober Creighton erklimmt diesen Berg - vorzügliche Menschen werden das, was sie sind, zumeist durch sich selbst (Herbart) - und in einem Kraftakt nachhaltiger Selbstsozialisation macht er seinen College-Abschluss und beginnt ein Aufbaustudium in Englisch. Er lernt eine Weiße kennen, die er/die ihn zwei Jahre später heiratet. Er ist schließlich 27 Jahre alt, als der erste von zwei Söhnen geboren wird:
"Noah hat geschrien vom ersten Tag seiner Geburt an bis zum Tag, als er zwei Jahre alt wurde, so kam es uns vor. Mannomann, es war fast nicht zum Aushalten! Ich konnte nicht einmal dran denken, dass sich dieses Kind weh tut, ohne einfach das Gefühl zu haben, dass ... mir das Herz bricht, wissen Sie. Ich wollte dieses Kind vor allem und jedem beschützen. ich weiß noch wie ich ihn angeschaut habe, als er auf dem Bett lag, als er noch so klein war. Sein Kopf war ganz verdetscht, und er verzog das Gesicht, weil er eine Kolik hatte, und alles war daneben. Du siehst dieses Kind, wie es auf dem Bett liegt, und es tut dir einfach schrecklich leid (68)."
"Und mit Matthew sind wir genauso umgegangen wie mit Noah." John Kotre berichtet, dass die Geburt von Noah und Matthew bei Robert die Hoffnung erwachen ließ, dass nun wieder Verbindungen zwischen den Generationen entstehen könnten: "Vielleicht würde jetzt sein eigener Vater ein Verhältnis zu ihm finden." Was nun folgt ist die schwierige Geschichte einer Annäherung - nach all den Jahren, die Sehnsucht, die in Robert latent immer lebendig war, die skeptische Haltung seiner Frau, die sich anfänglich entzieht. Die Begegnungen bleiben spärlich und Robert fast sie an einer Stelle - nach der ersten Begegnung, er ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt -mit dem Zwischenresümee zusammen:
"Gewiss verstand er (Roberts Vater), inwiefern Leute Gefühle haben und ihre Lieben davor beschützen wollen, dass man ihnen weht tut (das Hauptmotiv seiner Frau sich und die Kinder dem Schwieger- bzw. Großvater zu entziehen, WR). Doch die Ironie liegt doch darin, dass er genau das Gegenteil getan hatte. Er hatte gesagt: 'Ach, vergiss doch die Kinder. Ich bin ein Mann, ich habe drei Babys gemacht.' Ich bin sicher, dass er damit angegeben hat, wie alle anderen, die nie etwas für ihre Kinder getan haben. Jetzt ist er älter, und all seine Kinder sind erwachsen, und er blickt darauf zurück und sagt: 'He, vielleicht hätte es doch anders sein können.'"
"Die Elemente eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)."
Geben wir an dieser Stelle John Kotre noch einmal das Wort, bemühen wir seine Erinnerungen an die letzte Begegnung mit Robert Creighton, um vollends zu erahnen, was mit Niklas Luhmanns kontingenzgewärtiger Lebenslauftheorie immer auch gemeint ist - dann, wenn ein Leben sich dem Ende zuneigt und die Inkonsistenzebereinigungsprogramme nicht mehr greifen wollen. Schauen wir aber auch, wie die Vater-Sohn-Beziehung Robert beeinflusst und zu einer Revision des Vermächtnisses führt:
"Robert war 42, als ich ihn noch ein weiteres Mal sah - und sah, dass seine Wut auf seinen Vater zu stillem Mitleid geworden war, und sah, welche Veränderungen er in der nächsten Generation bewirkt hatte. Seine beiden Söhne waren bei dem Treffen dabei. Im Alter von 14 und 10 Jahren wares sie sich ihrer zunehmenden Größe und Kraft bewusst. Beim Thema Ringkampf sagte Matthew, der Jüngere: 'Wir können Hackfleisch aus ihm machen. Er hat keine Chance gegen uns, weil wir so groß sind.' Es war unverkennbar, das sich Robert um ihr Leben kümmerte - beinahe zu sehr sogar. Ihr Vater sei 'vielleicht ein bisschen paranoid', sagten die Jungen. Er rede zuviel. Er brülle und würde 'fuchtig'. 'Irgendwie wie ich', setzte Noah hinzu. 'Er wird wütend, wenn ich so bin, dabei habe ich es doch von ihm.' Robert wollte über andere Facetten ihrer Beziehung sprechen. 'Wir sagen uns millionenmal am Tag, dass wir einander liebhaben. Will sagen, dieses Kind ruft mich an und sagt: >Ich hab dich lieb, Dad.< Ich sitze in meinem Sprechzimmer mit diesen Kids vom College, und die denken, es ist seine Freundin, mit der ich spreche, bis ich seinen Namen sage.'
Ich dachte laut, ob vielleicht einer von den Jungen gerne eines Tages Vater sein würde. Zu große Verpflichtung sagte Noah. Im Moment wäre er lieber ein Onkel mit vielen Nichten und Neffen. Er habe Kinder gern, doch er sei noch nicht bereit für die Verantwortung, die eine Elternrolle mit sich bringe. Sein jüngerer Bruder zögerte nicht: 'Ich wäre gerne Vater.' Wie viele Kinder er sich wünsche? 'Zwei.' 'Was würdest du mit ihnen machen?' 'Was würde ich mit ihnen machen?' Das war nun eine blöde Frage. 'Ich würde ihnen all die Liebe und Fürsorge gebejn, die ich zu geben hätte. Ich würde sagen, wie die Welt ist, ihnen die Tatsachen des Lebens sagen, ihnen sagen, wie man überlebt. Ich würde ihnen beibringen, wie man durch die Schule kommt, und ihnen bei der Entscheidung helfen, was sie mal werden wollen. Ich würde alles machen, was man machen muss, um seine Elternrolle zu erfüllen - und ein Dad zu sein.' Für diesen jungen Mann war es äußerst selbstverständlich, was ein Vater tut und was er selbst schließlich einmal tun würde. Wenn Sie jetzt an Großvater zurückdenken, so wird Ihnen klar, was es bedeutet, ein Vermächtnis zu revidieren. Und Sie werden zu würdigen wissen, was der Mann in der Mitt vollbracht hat."
In der Tat - sieht man einmal davon ab, das die Alterszuschreibungen - insbesondere bei Noah und Matthew - Fragen aufwerfen (welcher 10jährige wird wohl so argumentieren???), so bleibt doch die beeindruckende Revision eines Vermächtnisses, das auf den ersten Blick wirklich nicht die Phantasie mobilisiert, sich jemanden wie Robert in einer solchen Weise als überzeugender Interpret seiner Vaterrolle vorzustellen.
Mir persönlich bleibt wichtig, all dies in seiner Kontingenz zu respektieren. Robert Creightons Revision seines Vermächtnisses lässt keinerlei Vorhersagen zu, wie irgendjemand - mit einem ähnlichen oder eben ganz anders gearteten Vermächtnis umgehen wird. Wie ich selbst - Franz Josef Witsch-Rothmund - das getan habe und tue - vermag ich natürlich nicht zu beurteilen. Ich erzähle dazu Geschichten. Ob ich meinem Vermächtnis gerecht werde, müssen meine Kinder beurteilen. Meinen Eltern gegenüber habe ich - neben dem Füllhorn der Liebe, der Zuwendungen und der Ermöglichungen, das sie über mich ausgeschüttet haben - auch nuancierte Meinungen und Erinnerungen - zum Beispiel in "Hildes Geschichte" oder in: "Komm in den totgesagten Park und schau".