William Stern II - Geleitwort zur siebten Auflage der Psychologie der frühen Kindheit
Einleitend bemerkt Günther Stern-Anders, dem Buche seines Vaters Worte mit auf den Weg zu geben, wäre anmaßend, läge nicht zwischen der letzten Auflage und dieser neuen die dunkle Zeit des Interregnums. Er befürchtet mit dieser Neuauflage in Deutschland einen Autoren wieder einzführen, der inzwischen schon unbekannt sei. Er hege die Hoffnung noch unbekannt. Dabei habe das Buch vor 1933 seinen Weg gemacht:
"Es war weit über den Bereich der Universitäten und über die deutsche Sprachgrenze gedrungen und für alle, denen Kinder >wichtig< waren, für Eltern, Kindergärtner, Lehrer, Ärzte, Jugendrichter zu einer Art von Grundbuch über das Kind geworden."
Es geht dann im Weiteren um den Forschungsansatz, wobei William Stern das Problem hatte, das "sein Begriff des Menschen nicht mit dem des Experiments zu vereinigen war [...] denn der Mensch war von vornherein - darin war er Kantianer, freilich einer, der die Freiheit in das Naturwesen selbst verlegte - ein spontanes Wesen; ein Wesen, das nicht nur >antwortet<, sondern selbst >spricht<." Sein Vater sei davon überzeugt gewesen, dass die Bedingungen des psychologischen Experiments nur in seltenen Fällen mit den im wirklichen Leben die Spontaneität begrenzenden Bedingungen zusammenfielen. Der Hauptgrund für den Stil seiner Untersuchungen sei jedoch ein moralischer gewesen:
"Zwar führten meine Eltern ihre psychologische Arbeit an den eigenen Kindern durch; aber niemals sahen sie in uns einfach Material oder die Gelegenheit möglicher Forschung; immer achteten sie darauf, daß die psychologische Beobachtung unspürbar blieb; niemals durfte sie den Eindruck einer isolierten Veranstaltung machen; niemals ihr zuliebe die Unbefangenheit gestört werden; niemals war die Beobachtung etwas anderes als Teil der >Achtung<, die die Eltern uns Kindern entgegenbrachten. [...] Und wurden Experimente durchgeführt, so ahnten >wir Kinder<, meine zwei Geschwister und ich, nichts davon, und jeder Versuch war ein neues, von den Eltern erfundenes, Spiel."
Günther Stern-Anders räumt ein, dass das Lesen über die eigene Kindheit für ihn keineswegs "eine nur behagliche Beschäftigung" gewesen sei. Es sei schon sonderbar genug, sich als gerade geborenes Wesen zu treffen, als ein Wesen mit dem man sich doch nicht identifizieren könne, dessen Äußerungen einen wie die eigenen Enkelkinder anmuteten. Die folgende Passage hat mich nun zutiefst berührt:
"Aber dazu kommt, daß durch das Wiederauftauchen der frühen Zeit die geliebten Gestalten der Eltern mit heraufbeschworen wurden, und zwar so, wie sie damals waren: also als die schlechthin >Großen<. Zugleich erschienen sie doch plötzlich wieder als die sehr jungen Eltern, denn in der Zeit, das sie dies Buch vorbereiteten, waren sie erheblich jünger, als der Schreiber dieser Zeilen heute ist. Kein Wunder, dasß bei der Lektüre eine Verschiebung, ja ein Schwindel des Zeit- und Altersbewußtseins eintrat; und das Wissen, daß sie die Älteren waren, und ich der Jüngere bin, zuweilen ganz und gar aus dem Gleichgewicht geriet."
Was der 1902 geborene Günther Anders in der Folge hervorhebt und herausarbeitet, vertieft bei mir den Eindruck, dass hier jemand den eigenen Eltern ein überaus bemerkenswertes Denkmal setzt. Dabei durchdringen die historischen Rahmenbedingungen und zeitgeistbedingte Einflüsse im Rückblick die überaus positive Würdigung der Eltern - sowohl als Forscherehepaar als auch als Eltern. Die eigene Sicht des Philosophen Günter Anders, der die Jahrhundert-Katastrophen und insbesondere die destruktive Potenz aller Totalitarismen nicht nur beobachtet hat, sondern mit seiner ersten Ehefrau, Hannah Arendt, auch durchlebt, durchlitten und reflektiert hat, ist nun bemüht die Besonderheit der Eltern herauszustellen:
"Es ist durchaus möglich, daß unseren von Mißtrauen und Asche blind gemachten Augen vieles unsichtbar und unerkennbar geworden ist, was das vertrauende, selbst das zu Unrecht vertrauende, Auge entdecken und voll Liebe beschreiben konnte. Das gilt auch für dieses Buch. Daß mein Vater die Gefahren der Welt, in der er lebte, weder 1914 noch 1933 geahnt hat, und daß das Bild, das er vom Menschen entwirft, das eine zu guten und zu ungefährdeten Wesens ist, soll nicht geleugnet werden. Aber vielleicht war auch nur derjenige, der, Übel und Gewalt nicht voraussehend, auf die kommende Generation so große Hoffnungen setzte wie mein Vater, innerlich in der Lage, sich mit solcher Bereitschaft und Sorgfalt der Seele des Kindes zu widmen."
Und so ordnet Günther Anders auch die eigene Kindheit ein als eine Kindheit, geprägt von liebevoller Zuwendung, Geborgenheit und Zugehörigkeit. Die daraus erwachsenen Bindungsqualitäten sprechen aus der folgenden Passage:
"Kinder unserer Zeit sind es nicht, deren Aufwachen und Aufwachsen hie beobachtet, deren Kategorien hier gedeutet werden; nicht Kinder, in deren Welt Feuer, Entsetzen und Flucht vorkamen, und in die die Erwachsenen in Form von Gewalt einbrachen; sondern Kinder, für die Frieden und Umsorgtheit selbstverständlich waren, und die wirklich Kinder sein durften [...] schon damals, als das Buch erschien, wurde, wenn auch nicht so formuliert, das Bedenken geäußert, ob das Buch nicht eine Psychologie der frühen privilegierten Kindheit sei."
Günther Anders resümiert das dieses Buch alles in allem ein optimistisches Buch sei. Aus jeder Zeile klinge das Vertrauen, dass der Mensch von Tag zu Tag mehr Chancen haben werde, mehr Mensch zu sein:
"Und das Kind mehr Chancen, mehr Kind zu sein, das Vertrauen, daß Eltern und Lehrer, zwar nicht sofort, aber doch in gesichertem Fortschritt, das Kind besser verstehen würden. Daß aber jemand dem Kinde gegenüber schlechte Absichte hegen könnte, ist nicht einmal in Betracht gezogen."
Und dennoch will Günther Anders nicht "nur von einer frommen Illusion" sprechen. Sein Vater sei in der Reformschulbewegung aktiv gewesen, habe Einfluss auf "die Erziehung der Lehrer" genommen, habe auf die Verbesserung der Prinzipien der Jugendgerichtsbarkeit Einfluss genommen; viele Erscheinungen des öffentlichen Lebens seien eben wirklich damals im Aufblühen gewesen - "und je weiter sie von Politik und Wirtschaft entfernt waren (und das schien die Kinderpsychologie), desto leichter konnte man übersehen, daß das Blühende in vulkanischem Boden wurzelt".
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