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Erich Kästner und das Elend der Kinder

In Band VI der Werke Erich Kästners – Splitter und Balken Publizistik (München 1998) findet sich in Kapitel Neues von Gestern auf den Seiten 553 – 558 ein Beitrag: Kinder suchen ihre Eltern (Erstdruck: Die Neue Zeitung, 17.6.1946)

Erich Kästner gehört zu den wenigen Schriftstellern und Nazi-Gegnern, die nicht emigriert sind und den Nazi-Terror in Deutschland überlebt haben. Mein Kästner-Bild, das ich in meinem Blog vielfach pflege, wird maßgeblich beeinflusst von Kästner und der Kleine Dienstag (Regie: Wolfgang Murnberger – Drehbuch: Dorothee Schön). Florian David Fitz gibt den Kästner auf eine so warmherzige, abgeklärte Weise, dass er mir sozusagen als Kästner-Ikone ans Herz gewachsen ist. Einiges mag meinetwegen geschönt sein. Gewiss bleibt, dass Erich Kästner nicht nur für und über Kinder (und natürlich die Erwachsenen, die ihre Kindheit, ihre eigenen Kinder und Kindeskinder in der Erinnerung und im Herzen tragen) geschrieben hat, sondern, dass er über Kinderrechte und Kinderbedürfnisse nachgedacht und auch publiziert hat, solange er das Elend der Kinder unter dem Naziterror und seine verheerenden Nachwirkungen aufmerksam beobachtet und kommentiert hat.

Er beginnt den erwähnten Zeitungsbeitrag mit dem sarkastischen und vernichtenden Zynismus, der einzig der Nazi-Barbarei gerecht wird:

„Zu den kopernikanischen Errungenschaften des totalen Krieges gehört es, die Zivilbevölkerung, als sei sie eine Armee, mobilisierbar und transportabel gemacht zu haben […] Man führt heim. Man siedelt an. Man siedelt um. Man verschickt Schulen. Man bewegt Kinderheime. Man verpflanzt Industrien. Man verlegt Ministerien. Man tut das solange, bis kein Mensch, das kleinste Baby inbegriffen, mehr weiß, wo er eigentlich hingehört.“

Mit Blick auf die Nazis und ihre ungezählten ErfüllungsgehilfInnen merkt er an, man müsse bei alledem nur auf eines sorgfältig achten: dass man den totalen Krieg gewinne!

„Verliert man ihn nämlich und gibt das auch noch, obwohl man es höheren Ortes längst weiß, nicht zu, sondern sucht es bis fünf Minuten nach Zwölf krampfhaft zu verbergen, dann wird es fürchterlich.“

Vor einem Jahr – registriert Kästner – ging das totale Staatsschiff unter. Auf den Wogen der stürmischen Gegenwart trieben immer noch die Wracks und die Schiffbrüchigen kämpften noch immer ums bare Leben: „Immer noch hört man, von allen Seiten, verzweifelte Hilferufe. Es sind viele, viele Kinderstimmen darunter.“

Erich Kästner nennt die Zahlen für das Bayrische Rote Kreuz. Dort habe man – mit Stichtag 17. Mai 1946 – 15.795 elternlose Kinder gezählt: „Die knappe Hälfte im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Ein Fünftel, also mehr als 3000, Ein- und Zweijährige.“

Nun habe ich meine eigenen Kinder in diesem Alter erlebt und erlebe gegenwärtig meine beiden Enkelkinder im Alter von 2 ½ und 4 Jahren. Ich weiß, was Kinder brauchen und schließe mich hier einmal exemplarisch Carlos González an. Ich weiß, was alle Kinder benötigen, wenn sie sich halbwegs nach ihren Möglichkeiten entwickeln und entfalten sollen. Liegt diesbezüglich in unserer reichen Bundesrepublik vieles im Argen, so erleben wir gegenwärtig – eingedenk der weltweiten strukturellen Mängel (die man alleine aus den katastrophalen Kindheits- Bedingungen weltweit ableiten kann) -, dass mitten in Europa erneut ein faschistoides Terrorregime am ärgsten und gewissenlosesten die Kinder trifft.

Auch 1946 geht Erich Kästner hin und zeigt an Beispielen auf, was Zahlen nicht vergegenständlichen können: „Denn was besagen Ziffern, wenn man daran denkt, daß sich hinter jeder Ziffer ein lebendiges Kind verbirgt.“

  • Deutsche Soldaten finden auf dem Rückzug in einem Stall ein zerlumptes kleines Mädchen. Sie nehmen es mit und geben es in Augsburg ab. Heute – so schreibt Kästner 1946 – ist es etwa drei Jahre alt. „Etwa. Mehr weiß man nicht. Name? Vorname? Mutter? Woher? Nichts ist bekannt. Nichts, gar nichts. Man hat das Kind ‚Bärbel‘ genannt. Sie hat sich an den Namen gewöhnt. Als man sie fand, konnte sie noch nicht sprechen. Wenn man sie heute fragt – denn man sucht ja nach Anhaltspunkten, um ihr heimzuhelfen, fall es irgendwo auf der Welt noch ein Heim für sie geben sollte -, wenn man sie fragt, wie die Mutter ausgesehen hätte, antwortet sie zögernd: ‚Sie hatte ein schönes Kleid an…‘.“
  • Ein anderes kleines Mädchen: „Auch ein Findling. Man fragte sie, neben vielem anderen, was für Haare die Mutter hatte. ‚Rote Haare‘. ‚Und dein Vater?‘ ‚Auch rote Haare.‘ ‚Habt ihr zu Hause Tiere gehabt?‘ ‚Ja. Einen kleinen Hund, eine Miezekatze und ein Christkind.‘“
  • Ein weiterer Fall, der mich an eine Verfilmung mit Christine Neubauer – Suchkind 312 – schildert die Situation eines sechsjährigen Mädchens. Man fand es, neben einem Rucksack mit Wäsche und Kleidern, irgendwo in der Eisenbahn: „Der Vater ist tot. Die Mutter floh mit dem Kind. Und dann? Wo ist deine Mutter? ‚Auf einem Bahnhof hielt der Zug, und Mutti wollte Brot und Tee holen. Auf einmal fuhr der Zug los und…‘.“

Erich Kästner schildert weitere Fälle und kommt – wie zu Beginn – zu einem überaus sarkastischen Resümee:

„Beispiele für den Fortschritt der Menschheit, die sich rühmen kann, den totalen Krieg erfunden zu haben. Beliebige Beispiele, die jedem beliebigen Leser das Herz im Leibe umdrehen. Beispiele, die keiner vergessen sollte. Die Vergeßlichkeit ist kein Fehler, sondern eine Sünde.“

Der Sündenfälle - nicht nur im Sinne des Vergessens -, sondern vielmehr im Sinne eines aktiven weltgestaltenden Tuns sind seit dem Erscheinen von Kästners Kinder suchen ihre Eltern ungezählt. Die erneute gezielte, planvolle Barbarei in russischer Verantwortung nimmt den Tod und das Elend der Kinder nicht nur in Kauf; all dies liegt ganz offenkundig im Kalkül des Aggressors - davon zeugt die massenhafte Entführung und Verschleppung von Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine nach Russland. Das dreht und heute das Herz im Leibe um! (und man kann hier nur wünschen und hoffen, dass die inneren Machtkämpfe zwischen Hackfressen wie dem Wagner-Anführer Prigoschin und dem aktuellen Verteidigungsminister Schoigu das Zeug haben, den inneren Zerfall und die Selbstzerstörung der russischen Führung zu beschleunigen).

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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