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William Stern

Fluch und Segen sozialer Medien. Wenn ich jetzt einleitend einen Link setze zu William Stern, dann ist das erklärungsbedürftig. Dem komme ich gerne nach. Dazu muss ich weiter ausholen. Und bei meiner Art im fortschreitenden Alter Zusammenhänge erstens zu erkennen, zweitens für mich fruchtbar zu machen und drittens zu kommunizieren, wird schnell klar, dass dies nicht über bruchstückhafte Impressionen hinausgehen wird; diese Impressionen allerdings sind es mir wert:

Hier geht es zu William Stern II

  • Zunächst einmal ist für das Verständnis dieses Beitrags unverzichtbar, darauf hinzuweisen, dass wir - meine Frau und ich - am 10. September zum vierten Mal die Gnade erfahren haben, Großeltern zu sein. Unser jüngstes Enkelkind ist heute sieben Wochen alt, und Eltern und Großeltern erleben die ersten Wochen neu und stellen sich Fragen: Zum Beispiel Fragen nach Bewegungen, nach sich zeigenden Sensibilitäten - möglicherweise die Frage, in welchem Maße entwickeln Neugeborene so etwas wie Bewusstsein und wie könnten mögliche Bewusstseinsinhalte beschaffen sein? Nein, wir sind nicht bescheuert, und ich werde im Fortgang aufklären können, wie ich auf diese Fragen gestoßen bin.
  • Im digitalen Zeitalter bin ich als 1952 Geborener ein begeisterter Unterhalter dieses Blogs. Warum das wiederum der Fall ist, werde ich bei dieser Gelegenheit gleichermaßen aufklären. Aber von meinem Habitus her bin ich ein Buchstaben- und Büchermensch, der mit wachsender Begeisterung die Archipel menschlicher Phantasie, menschlichen Wissens und menschlicher Dicht- und Erzählkunst (zwischen zwei Deckeln) über die Maßen wertschätzt. So ist es ein stiller Dank an Winfried Rösler und an Rudi Krawitz - bei ihm mittelbar - dafür, dass ich Sachwalter und Nutznießer zweier nachgelassener Bibliotheken sein konnte. Ich habe mich in diesen nachgelassenen Bibliotheken gütlich getan.
  • Unser jüngstes Enkelkind lebt gegenwärtig offenkundig noch einen leicht verdrehten Tag- und Nacht-Rhythmus. Sie zeigt dann ihren Unmut, wenn die Welt - auch zur Unzeit - nicht nach ihren Bedürfnissen funktioniertt. Sie zeigt und offenbart ihren Unwillen durch stimmgewaltiges Schreien, so dass ihre Mutter nächtens Bedenken hat, andere Hausbewohner könnten Schlafschaden nehmen. Sie hat mir das erzählt, und ich habe sie versucht zu beruhigen - wie Eltern das tun, sich möglicherweise erinnernd, dass dies mit den eigenen Kindern vielleicht genau so war.
  • Nach unserem Gespräch (diesbezüglich) bin ich nach Hause gefahren. Auf dem Schreibtisch liegt Remo H. Largo: Kinderjahre - Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung (4. Auflage, München 2023). Aber der Erfinder des Fit-Prinzips und SPIEGEL-Bestseller-Autor hilft da nicht weiter. Ich erinnerte mich, bei Winfried Rösler auf William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum 6. Lebensjahr gestoßen zu sein. Es dauerte nur kurz und die Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Bibliothek klassischer Texte) - Nachdruck der 7.Auflage aus 1952 (meinem Geburtsjahr), Darmstadt 1993 lag vor mir! Ein Lesezeichen war gesetzt. Ich hatte also schon einmal darin geschmökert. Den Rest des Abends habe ich mich in dieser Ausgabe (Mit Benutzung ungedruckter Tagebücher von Clara Stern) verloren. William Stern widmet die erste Auflage dieses Buches seiner Frau Clara. Die Psychologie der frühen Kindheit ist 1914!!! in Leipzig erstmals erschienen.
  • Nach dieser Lektüre waren viele weitere Lesezeichen gesetzt. Konzentriert habe ich mich zunächst auf den Zweiten Abschnitt: Die sprachlose Zeit, Kapitel IV - Das Neugeborene. Da stoße ich zunächst einmal auf die Feststellung, dass es einen völligen Neuanfang von einem für alle Menschen identischen Ausgangspunkt im Moment des Eintritts in die Welt nicht gebe. William Stern hatte 1914 offenkundig bereits einen sehr differenzierten Blick auf die Umstände von Schwangerschaft und Geburt, die ihn dazu veranlassten, gewisse Entwicklungstatsachen sowohl der Lebensphase vor der Geburt als auch derjenigen nach der Geburt zuzuschreiben.
  • "Immerhin ist die Wichtigkeit jenes Moments (der Geburt, FJWR) noch grundlegend genug, denn er bedeutet den stärksten plötzlichen Wandel, den der Mensch überhaupt in seinem ganzen Leben durchzumachen vermag." (S. 42) Ich lese dann weiter, wie William Stern davon ausgeht, dass das neugeborene Kind - noch nicht der ununterbrochenen Reizfülle der Welt gewachsen - die Tendenz habe, "sich in den Reiz- und spannungsarmen Zustand seines Vorlebens zurückzuflüchten. So werde der fast ununterbrochene Schlaf des Neugeborenen als eine Regression ins Fötalleben aufgefasst; auch die Haltung der entspannten Glieder beim schlafenden Säugling entspreche der embryonalen Lage.
  • In der Unterscheidung von zwei Phasen - Embryonalzustand und Moment der Geburt - macht er nun folgende Auslassung (und ich bin überzeugt, dass die im Zauberbaum - Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785 (Suhrkamp, Erste Auflage, Frankfurt 1987) von Peter Sloterdijk auf Seite 240f. geschilderte Geburtsszene sich wesentlich auch der Lektüre der folgenden Passage verdankt!): "Die andere Phase der Vorgeschichte, kurz dauernd, aber um so katastrophenhafter, ist der Akt der Geburt selbst. Denn diese ist ja nicht nur die Grenzscheide zwischen zwei Existenzformen, sonder als Geschehniss eine ungeheure Erschütterung des kindlichen Organismus. Das Kind wird stundenlang einer Reihe von stärksten Druck- und Zug-Einwirkungen ausgesetzt; äußere und innere Organe werden unvermittelt ganz neuartigen Ansprüchen preisgegeben: die Lunge muß plötzlich atmen, die Haut starken Temperaturwechsel durchmachen u.s.w. Diese zweifellos vorhandene Chokwirkung wird von der Psychoanalyse (Freud, Rank, Bernfeld) als das >Trauma der Geburt< bezeichnet. [...] Ja, die >Ur-Angst< der Geburt wird zur Geburt der Angst überhaupt gemacht und soll in der gesamten Affektsphäre des Menschen samt den Ausdrucksbewegungen ein untilgbares Nachleben führen." (Seite 42f.)

Ich mache an dieser Stelle ein Zäsur und beschränke mich auf die Interpretation und Einordnung des Schreiens durch William Stern - dazu hat mir meine Frau im Übrigen rückgemeldet, dies sei dermaßen trivial, dass es nicht wert wäre aufgeschrieben zu werden. Ich habe dagegen gehalten, William Stern habe seine Befunde 1914 erstmals publiziert und man müsse seine Forschungsbemühungen ebenso wie die Ergebnisse erstens in diesem Kontext bewerten und zweitens, wenn man den Kontext weiter zieht, gewahr werden, dass William Stern für seine Zeit etwas Ungeheuerliches als Prämisse seiner Arbeit angesehen habe. Kein Geringerer als sein Sohn, Günther Stern-Anders, wird mir helfen, die Ungeheuerlichkeit des Ansatzes seines Vaters (und seiner Mutter) einzuordnen - und zwar in einem ausschließlich positiv gemeinten Sinn. Aber nun noch zu einem kurzen Eindruck der Beobachtungen William Sterns und der dazu angedeuteten Einordnungen und Bewertungen:

"Der Eindruck der Sinn- und Zwecklosigkeit, der diesen ersten spontanen Akten anhaftet, ist nur ein scheinbarer. Das Schreien vor allem, diese stärkste Lebensäußerung des Neugeborenen, hat die höchst wertvolle Bedeutung einer Ausdrucksbewegung; denn es ist für die Umgebung das sichere Zeichen, daß sich das Kind in einem Zustand (des Hungers, der Nässe, des Schmerzes) befindet, der Abhilfe heischt." (Seite 44) "Das einzige, was wir mit einiger Berechtigung annehmen dürfen, sind dumpfe und unklare Bewußtseinslagen, in welchen sensorielle und emotionelle Bestandteile noch unscheidbar miteinander verschmolzen sind, die also als >sinnliche Gefühlszustände< oder als >gefühlsbetonte Empfindungszustände< bezeichnet werden könnten. Die Anwesenheit behaglicher oder unbehaglicher Gefühlslagen läßt sich schon vom ersten Lebenstage an aus der Gesamthaltung des Körpers, aus den Mienen, aus der Ausdrucksbewegung des Schreiens erschließen." (Seite 51)

Ich werde natürlich William Stern mehr Raum geben, auch schon um einem Trivialitätsvorbehalt entgegenzuwirken. Dazu wird, wie weiter oben angedeutet, zunächst einmal in einem folgenden Beitrag die Einordnung des Werkes von William Stern durch seinen Sohn, Günther Stern-Anders, hilfeich sein.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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