Karfreitagsgedanken - Teil II (hier: Teil I)
Kann man ein guter Vater sein, wenn man keinen (guten) Vater gehabt hat? Die Titelseite des SPIEGEL (17/25 vom 17. April 2025) zeigt einen etwa vierjährigen Jungen auf der rechten Schulter seines Vaters sitzend. Seine rechte, geöffnete Hand berührt zwar nicht das Kinn seines Vaters. Aber die Haltung legt nahe, dass sich in dieser Hand eine umfassende symbiotische Verbundenheit, eine tief gründende Gewissheit - vielleicht eine lebenslange Sehnsucht - ausformt. Das Kind schmiegt seinen Oberkörper an den Kopf des Vaters; der eigene Kopf ruht gedankenverloren auf dem Haupt des Vaters. Mit seiner linken Hand umfasst der Vater den rechten Unterschenkel seines Sohnes. Beide wissen um eine unverbrüchliche Verbundenheit. Die Blicke der Beiden versinken nicht ineinander, haben aber die unzweifelhafte Qualität, in der Zugehörigkeit, liebevolle Zuwendung, Geborgenheit und Urvertrauen zu einer Melange verschmelzen, die Samer Tannous (55) auf Seite 9 der Hauptbeitrages folgendermaßen beschreibt:
"Im Arabischen meint der Begriff Vater nicht nur einen Menschen, sondern auch ein Gefühl von Halt, Vertrauen und Zuflucht. Wenn die Last der Welt uns zu erdrücken scheint, sagen wir bei uns in Syrien: >Ach, ja Baba<." Dies überzeugt vielleicht gerade dadurch, dass Samer Tannous bekennt: "Ich selbst habe das Wort Vater als Kind selten benutzt. Eines Tages betrat ein Fremder unser Haus. Meine Mutter war in der Küche beschäftigt, der Mann sagte ihre etwas. Sie lief wie von Sinnen davon. Es war der Tag, an dem ich erfuhr, dass ich meinen Vater verloren hatte. Er hatte einen Herzinfarkt. Ich war sieben Jahre alt. Zu jung, um die Dimension dieses Verlusts zu begreifen. [...] Ich erinnere mich bis heute, dass viele meiner Freunde früher auf dem Fußballplatz von ihren Vätern am Spielfeldrand angefeuert wurden. Wie sehr ich dieses Gefühl der Unterstützung als Kind vermisste, ist mir erst Jahre später bewusst geworden. Als Erwachsenem hat Gott mir die Gnade der eigenen Vaterschaft geschenkt, ich habe zwei wundervolle Töchter. Heute versäume ich selbst kein Fußballspiel meiner älteren Tochter, ich mache ihr Mut und sammle Bälle. In ihren Augen sehe ich das Vertrauen, das ich früher nicht hatte. Ich möchte jedem Vater, der diesen Text liest, zurufen: Ihr seid die Stütze, die stille Kraft, auf die sich Kinder verlassen! Eure Anwesenheit kann von unschätzbarem Wert sein."
Kleine Randbemerkung zu dem hier beschriebenen Phänomen: Hier geht es nämlich um das, was uns Necdet Avunc kurz vor seinem Tod nahelegt als eine Liebe, für die es keine Worte gibt. Seine Tochter, Esrin Korff-Avunc erzählt uns, dass ihr Vater am 4. September 1939 in Manisa in der Türkei geboren wurde und in Izmir aufwuchs. Er kam mit Mitte zwanzig als Gastarbeiter nach Deutschland. Er heiratete eine Deutsche, wurde Bankkaufmann; die beiden - Necdet und Uta - wurden Eltern dreier Töchter. Ich zitiere nun einen Abschnitt aus Esrin Korff-Avuncs Artikel, mit dem sie in der ZEIT (17/21, S. 60) anlässlich des Traueraktes für die Toten der Corona-Zeit am 18.4.2021 den Verlust ihres Vaters beschreibt:
"Leider weiß ich nicht viel über die Kindheit meines Vaters in der Türkei, er sprach kaum davon. Allerdings: Von meiner Tochter Clara erfuhr ich jetzt, dass ihr Opa ihr vorschwärmte, wie er als Kind im Meer mir rosa Delfinen schwamm. Zu seiner Enkelin hatte er eine ganz besondere Bindung und sagte mir noch vor seinem Tod, dass es keine Worte für seine Liebe zu ihr gebe."
Die Autoren des SPIEGEL-Beitrags müssen weit in die Kultur- und Vatergeschichte zurückgehen, um mit Friedrich Hebbel den "halben Vater", mit Joseph Roth den Vater zutreffend als einen "fremden König" zu beschreiben: "Der patriarchale Vater war Zaungast im eigenen Reich, eine mächtige und zugleich ohnmächtige, weil unbeholfene Figur." Bei Dieter Thomä ist der Vater "endgültig vom Thron gestoßen worden - noch immer weiß er aber nicht so recht, wo sein Platz sein könnte." All das wird in der Männerwelt auch heute noch damit erklärt, dass Kinder zu bekommen, eine extreme Erfahrung in einer ganz bestimmten Hinsicht darstellt:
"Diese Erfahrung nimmt dem modernen Menschen das, was ihm sonst so wichtig ist: Planbarkeit, Berechenbarkeit, Kontrolle. Vielleicht ist diese Herausforderung für Männer noch größer als für Frauen, weil KInder die traditionell männliche Methode, mit Welt und Wirklichkeit umzugehen, radikal durchkreuzen. Dieses Chaos!"
Andererseits lesen wir:
"Es stimmt schon: Wenn Väter präsent sind und fürsorglich und zärtlich, wenn sie das tun, was eigentlich selbstverständlich sein sollte für jeden Elternteil, wenn sie ihre Kinder bemuttern, ist ihnen großes Lob sicher. Aber wehe, sie reden darüber!" Dann erübrigt sich auch die Frage, was einen guten Vater von einer guten Mutter unterscheidet: "Es gibt keinen Unterschied, es sollte keinen geben."
Lassen wir zuletzt noch einen alten Fahrensmann zu Wort kommen - zumindest für mich, der ich in den siebziger Jahren schon von Klaus Hurrelmann (81) das ABC der Sozialisationsforschung übernommen habe:
Er erinnert sich: "Zu meinem Vater hatte ich kein gutes Verhältnis. Ich habe ihn erst mit vier Jahren kennengelernt, weil er in britischer Gefangenschaft war. Er war nie mit mir zufrieden und vermisst an mir die rauhe Männlichkeit, mit der er groß geworden war. [...] Eine Woche nachdem ich mein Abitur in der Tasche hatte, konnte ich ihm endlich ausweichen. Erst mehr als zehn Jahre später, als ich im Beruf Erfolg hatte... änderte sich seine Haltung. Von heute auf morgen war plötzlich sehr stolz auf mich. Daraus habe ich gelernt,meinen Kindern keine Erwartungen an ihr Leben und ihre Ambitionen vorzugeben, sondern sie in dem zu unterstützen, was sie sich vornehmen. Zugleich habe ich mich bemüht,mein Modell vom Mannsein und von Männlichkeit nachvollziehbar zu leben. Das hat öfter dazu geführt, dass ich von ihnen kritisch angegangen wurde - und das geht bis heute so. Aber ich finde, das macht das Vatersein aus: einen eigenen Lebensstil haben, ihn offen zu leben und zu verteidigen, ihn bei berechtigter Kritik auch zu korrigieren. Meine drei Kinder sind nach meiner Einschätzung damit gut gefahren."
Der SPIEGEL-Beitrag schließ mit der Vorstellung, ein guter Vater zu sein, bedeute zunächst einmal vor allem, über Vaterschaft nachzudenken, zuhören, bereit zu sein, die eigene Rollenauslegung auch infrage zustellen, sich verletzlich zeigen: "Als Mutter gilt natürlich nach wie vor die Frau, die ein Kind geboren hat. Mütterlich handeln aber können auch Männer."
Selbstredend erscheint mir der Beitrag in mancherlei Hinsicht zu flach. Wir kommen nicht umhin, danach zu fragen, was insbesondere Männer und ihr Männlichkeitsgebaren immer wieder auch zu einem toxischen Phänomen in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht entarten lässt. Die tiefsten Einblicke gewährt immer noch Klaus Theweleit mit seinen Männerphantasien. Seine Erkenntnisse hochzurechnen und in aktuelle gesellschaftliche Kontexte zu überführen ist eine noch zu leistende Aufgabe - zumindest mit einem Beitrag aus meinem Lyrischen Klärwerk habe ich erste Schritte gemacht:
Hier endet der Originalbeitrag - alles andere sind schon online-gestellte Ergänzungen bzw. Querbezüge:
Wer wir sind
Wer wir sind?
Wie können wir das wissen?
Wer wir sind als Kind?
Schaut euren Eltern ins Gewissen!
Gewiss kann heute jeder seh‘n
dass – wo die Seele grob verroht,
wo Solidarität und Mitgefühl vergeh‘n
ein steter Kreislauf droht.
Klaus Theweleit ruft in die Runde:
„Seht dort, die halb-gebor‘ne Brut*,
wie ein Fanal trägt sie die Wunde,
verwandelt sie in rohen Hass und Wut.
Was heißt hier: halb-gebor'ne Brut?“
Nicht jedes Kind wird angebrüllt, geschlagen,
alleingelassen – ohne Zuspruch, ohne Mut,
auf sich gestellt in allen Lebenslagen!
Du meinst, es fehlt an Liebe und an Wärme –
vielleicht ganz schlicht: an Urvertrau'n?
Und Angst schürt das Gelärme?
Worauf kann man denn noch bau'n?
Ja, Angst bereitet immerfort den Grund,
mit dem beginnt die Welt sich aufzulösen,
- nur noch Fragment, kaputt und wund -
wer sind die Guten, wer die Bösen?
Natürlich ist es leicht, die Bösen auch zu packen,
in einer Welt, in der das Fremde droht.
Wir sind es nicht! So brüll(t)en immer schon die rechten Spacken.
Und sehen ab von sich – reflexhaft und verroht.
Und brüsten sich als singulär und arisch,
als einzigartig grenzt man and're aus.
Und geht ein Fremder fehl, dann ist das exemplarisch,
und alle Fremden müssen raus!
Der eigne Körper wird zur Waffe,
gestählt und taub negiert er jeden Schmerz.
Und nur ein Feind nimmt an, da klaffe
tief in uns ein triefend-blutend Loch im Herz.
Und immer wieder frag ich nach den Müttern.
Wer gebiert denn einen Hurensohn?
Es müsst ihr Herz und den Verstand erschüttern,
wenn Söhne würdelos verlieren sich in blankem Hohn.
Wer glaubt denn heute noch der Haarer
und lässt sein Kind verwahrlost schrein?
Es müsst ein Schmutzfink sein von Pfarrer,
gewissenlos im Anblick fremder Pein.
*um diese Begriffswahl nachvollziehen zu können, muss man sich mit Klaus Theweleit auseinandersetzen (geht über diesen Link)
"Mütter, die im Schoße tragen
Ein hart Geschlecht, das wie aus Erz geschweißt
Und ohne Knechtsinn, bänglich zagen
Sich kühn den Weg zum neuen Aufstieg weist?
Wollt ihr wirklich wieder
Mütter, die nicht abseits stehen,
Wenn blonde Söhne ruft der Kampfesschall,
Die schützend im Gebet zur Seite gehen
Und segnend Hände breiten überall?
Ja, wollt ihr wirklich wieder
Mütter, die da opfernd geben,
Was sie genährt mit ihres Leibes Blut.
Und wenn der Wunde tiefste schlug das Leben
Sich selbst verströmen in der Liebe Glut?" **
**den Urheber/die Urheberin dieser rot gesetzten Zeilen konnte ich nicht ermitteln
Hört doch Björn, den Höcke reden,
hört des Krahs Gekräh!
Ich frage von euch jeden:
Wollt ihr's wirklich wieder flink und hart und zäh?
Schluss mit eurem billigen Protestgehabe,
ein jeder weiß und hat gewußt -
ein jeder, auch die letzte Schabe,
wer sich bedient und labt an eurem Frust.
Steht auf und nehmt das Leben in die Hand,
steht ein für eure Sache,
ihr lebt in einem freien Land -
schon sieht sie sich - die AfD - als Wache.
Wollt ihr den totalen Sieg
zum Preise eurer Freiheit?
Wenn nicht, dann seht ihn endlich - ihren Krieg,
mit dem sie spalten uns're Einheit!
Und ich frage weiter:
Erich Kästner: Wie kann das sein?
Wie kann das sein?
1) Wie kann das sein?
Mein Kopf sagt nein!
Mein Herz will schrein!
Wir sind die Enkel jener Schinder,
deren widerlichster sprach: zuerst die Kinder!
2) In Posen nahm er sie beim Wort
und sprach von Anstand vor den Schloten;
sie schufen jenen Ort,
belebt von Henkern und von Toten.
Sie hielten sich daran und töteten (zuerst) die Kinder!
3) Die Herrenrasse sagt: der Freund! - der Feind!
Und Carl der Schmitt ermuntert sie, das Fremde auszumerzen.
Der Herrenmensch marschiert im Wahn vereint
enthemmt, bar jeder Regung noch im Herzen.
Er mordet, was im Wege steht und tötet immer auch die Kinder - (zu allerst) die Kinder!
4) Und Schinder wachsen nach – aus BluBo und aus BrauSi.
Der Abschaum pflanzt sich fort, gebiert den Bastard,
der tackert sich die Ahnentafel auf die Stirn;
hat ne Kloacke dort, wo andre haben Hirn.
Wer glaubt, dass die mal waren Kinder?
5) Nie Wieder! Wer versteht das nicht?
Spricht R v W doch von Befreiung!
Und Willy Brandt kniet nieder und bittet um Verzeihung;
bekennt sich zu den Grenzen – zum Gewaltverzicht!
Wie kommen BluBo, BrauSi in das Hirn verführter Kinder?
6) Wenden wir’s mal kämpferisch mit Erich Kästner!
Der dichtete – bevor die Erste Republik zusammenbrach – das Marschliedchen.
Und irrte sich fatal, der Kästner Erich!
Denn die SS marschierte bis nach Stalingrad und Auschwitz hörte ihre Liedchen.
7) Wir machen's besser – ein Ruck geht durch die Republik.
Nie wieder? Ja, das ist wohl heute, wir machen es publik!
Wir hören noch den Kästner rufen – nach über neunzig Jahren
und sind uns sicher, dass wir wachsam und auch klüger waren!
kleine Verstehenshilfen ganz unten im Anhang
Erich Kästners Marschliedchen wurde 1932 in der Weltbühne unter dem Titel "Denn ihr seid dumm" veröffentlicht. Ich habe versucht es zu aktualisieren- und war erstaunt, wie sehr Erich Kästner mit seinen Gedichten gegenwärtig ist. 1932 allerdings unterlag er leider - mit Blick, auf das, was da kam - einem fatalen Irrtum - das darf sich nicht wiederholen!
Marschliedchen 2022
Die Dummheit zog in Viererreihen (so zieht sie immer noch),
Heut schämt die Dummheit sich der Dummen.
So dämlich wie ihr seid, mahnt sie euch zu verstummen,
Statt Idioten gleich nach deutschem Wesen heut zu schreien.
Ihr kommt daher und wärmt die schalen Suppen,
In euren Schädeln haust ein brauner Geist,
Der euch verwirrt und alles mit sich reißt -
Nur nicht von euren Augen alle Schuppen!
Marschiert ihr nun in Chemnitz und in Halle…,
Ihr findet doch nur als Parade statt,
Denn das, was jeder da von euch im Kopfe hat,
Man nennt es Dum(pf)mheit wohl in jedem Falle!
Weil wieder predigt ihr den Hass
Und wollt die Menschheit spalten -
Statt schlicht an Recht und Ordnung euch zu halten,
Wähnt ihr das Volk zu sein und träumt vom völkisch-deutschen Pass!
Ihr habt die Trümmerwelt im deutschen Wahn vergessen,
Von Schuld und Sühne ist die Rede nie,
Ihr brüllt nach deutscher Größe selbstvergessen;
Ich hoff ihr schießt euch nur ins eigne Knie!
Ihr wollt die Uhren rückwärts drehen
Und stemmt euch gegen die Vernunft.
Dreht an der Uhr und doch: die Zukunft
wird euch als ewig gestrig sehen!
Wie ihr’s erträumt, wird Deutschland nicht erwachen,
Denn ihr bleibt dumm, nicht auserwählt!
Die Zeit ist nah, da man erzählt:
Das war’s: ein Staat ist mit Idioten (und auch der AfD) halt nicht zu machen!
Kleine Verstehens- und Erklärungshilfen (alle Hervorhebungen - farblich und fett FJWR):
Erste und zweite Strophe:
Mit dem widerlichsten Schinder ist Heinrich Himmler gemeint, der in Posen 1943 die ungeheuerlichste und zugleich widerwärtigste Rede gehalten hat, in der er die an der industriellen Massenvernichtung aktiv Beteiligten belobigte für die Tatsache selbst im Angesicht dieser Tötungsorgien anständig geblieben zu sein. Zu einem tieferen Verständnis des Holocaust ist es hilfreich Unterscheidungen zur Kenntnis zu nehmen, die Zygmunt Bauman - ein polnisch-stämmiger Soziologe, der in England lehrte, vorgenommen hat (hier: Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt 2007):
Die Juden im Machtbereich der Nationalsozialisten wurden in diesem Sinne kollektiv und pauschal der Kategorie des homo sacer zugerechnet, zu Menschen also, deren Leben - wie Bauman zeigt - keinen Wert besitzen und deren Ermordung als moralisch bedeutungslos betrachtet wurde und daher straffrei blieb. Bauman argumentiert, dass hier der Staat für sich das Recht beanspruche, bestimmen zu können, wer in den Genuss gesetzlich verbriefter Rechte und ethischer Prinzipien gelange und wer davon auszuschließen sei. Im Sinne Carl Schmitts liegt genau darin ein Wesensmerkmal moderner Souveränität - souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt (siehe dazu Thomas Assheuser in der ZEIT 8/20, S. 54). Der Holocaust war nach allgemeiner Auffassung die extremste und radikalste Manifestation dieses Anspruches (vgl. Bauman, S. 76). Zygmut Bauman (S.77) zitiert John P. Sabini und Mary Silver:
"Betrachten wir einmal die Zahlen. Der deutsche Staat ermordete ungefähr sechs Millionen Juden. Bei einer Größenordnung von 100 Toten am Tag [also der Zahl der Opfer der berüchtigten 'Kristallnacht', dem von der nationasozialistischen Regierung organisierten Progrom gegen die deutschen Juden -Z.B.] hätte man dafür beinahe 200 Jahre gebraucht. Die vom Mob ausgeübte Gewalt beruht auf einer untauglichen psychologischen Grundlage, nämlich auf Emotionen. Man kann Menschen so manipulieren, dass ihr Zorn entfacht wird, aber man kann diesen nicht über 200 Jahre aufrechterhalten. Emotionen und ihre biologische Basis haben ein natürliches Verfallsdatum; jede Lust, selbst die Mordlust, ist irgendwann gestillt. Darüber hinaus sind Emotionen notorisch unbeständig und ändern sich rasch. Ein lynchender Mob ist unzuverlässig, er kann von Mitleid übermannt werden - etwa durch das Leiden eines Kindes. Um eine 'Rasse' auszurotten, ist es aber wesentlich, die Kinder zu töten."
Dritte Strophe:
Für die Ideologie der Nazis - und im Übrigen aller Despoten, insbesondere vom Zuschnitt Putins - ist eine Schrift von zentraler Bedeutung, die Carl Schmitt 1932 unter dem Titel Der Begriff des Politischen veröffentlicht hat (hier in der 7. Auflage bei Duncker&Humblot, Beron 2002). Dort ist unter anderem zu lesen: "... so darf der Gegensatz von Freund und Feind noch weniger mit einem jener anderen Gegensätze verwechselt oder vermengt werden. Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen [...] Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines 'unbeteiligten' und daher 'unparteiischen' Dritten entschieden werden können." (S. 27)
Hier haben wir die Blaupause für den Hitler-Stalin-Pakt vor Augen. Wir können aber auch sehen, dass man sich im Denken Schmitts und seiner Epigonen - heißen sie nun Hitler, Stalin oder Putin - letztlich auch nicht an geschlossene Verträge halten muss, denn "im extremen Fall sind Konflikte mit ihm möglich, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung (adé UN-Menschenrechts-Charta, FJWR), noch durch den Spruch eines 'unbeteiligten' und daher 'unparteiischen' Dritten entschieden werden können". Wer kann also mit Putin verhandeln? Mit wem verhandelt Putin?
Gehen wir zu einer Passage über, die essentiell der Begriffsbestimmung des Politischen gewidmet ist. Wir können angesichts der obigen Unterscheidungen nicht nur erkennen, wie die schlichten Unterscheidungen Carl Schmitts zu brutalsten politischen Praktiken der Nazis geführt haben, sondern wir erkennen zugleich, wie sehr Putin und andere Despoten in die Schule Carl Schmitts gegangen sind:
"Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht. Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind." (S. 26)
Wem dies noch nicht deutlich genug ist, kann den damit definierten Begriff des Politischen mit Carl Schmitt durchaus noch schärfer fassen:
"Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen." (S.28)
Und hört doch einmal den AfD-Rednern in den Parlamenten - gar nicht auf der Straße - zu, wie sehr sie gelehrige SchülerInnen Carl Schmitts sind:
"Die Begriffe Freund und Feind sind keine normativen und keine 'rein geistigen' Gegensätze. Der Liberalismus hat in einem für ihn typischen Dilemma von Geist und Ökonomik den Feind von der Geschäftsseite her in einen Konkurrenten, von der Geisseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen versucht. Im Bereich des Ökonomischen gibt es allerdings keine Feinde, sondern nur Konkurrenten, in einer restlos moralisierten und ethisierten Welt vielleicht nur noch Diskussionsgegner." (S.28)
Wir können doch nun ein wenig deutlicher sehen, wieso Putin die verweichlichten westlichen Demokratien mit Häme überschüttet. In seinem System gibt es keine Konkurrenten und erst recht keine Diskussionsgegner mehr!
Vierte Strophe:
BluBo und BrauSi = Blut, Boden, Brauchtum, Sippe
Fünfte Strophe: