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Lebensdichte Gegenwart und eine Liebe, für die es keine Worte gibt (Teil I)

Hierüber schreiben Peter Fuchs (2003) und Esrin Korff-Avunc (2021)

In Teil II - im Rahmen dieses Beitrags - werde ich den Kontext erweitern und erneut die Frage in den Raum stellen, was  sich eigentlich auf irreversible Weise in dieser Welt verankern müsste, stellt man sich vor, alle Kinder würden, wie Peter Fuchs im Verlauf seiner Argumentation in den Raum stellt, mit Blick auf ihre jeweilige Kindheit die besten (Entwicklungs-)Bedingungen vorfinden.

Das Kontrastprogramm entspricht dem gegenüber vielfach der Realität unter sozial und ökonomisch prekären Verhältnissen aufwachsen zu müssen und - wenn es ganz beschisssen kommt - dabei noch unter den Einfluss menschenverachtender Grundhaltungen und Ideologien zu geraten, wie sie auch gegenwärtig von ihrerseits geistig und seelisch gestörten Volksverhetzern à la Björn Höcke vertreten werden:

Als Peter Fuchs im März 2003 in der Frankfurter Rundschau den Artikel "Kinder der Zukunft - Ein Beispiel für die Kunst der Gegenwartsvernichtung" veröffentlichte, lag es jenseits unserer Vorstellungskraft, dass die von ihm eingeführten Begriffe der Gegenwartsvernichtung, der Gegenwartsvergessenheit, der Zeitberaubung und des Verlustes einer lebensdichten Gegenwart 17 Jahre später durch covid19 noch einmal Plausibilität und Überzeugungskraft gewinnen würden.

Die im Zuge der Pandemie eingeführten Kontakteinschränkungen führte in langen Phasen immer wieder zu einer weitgehenden Reduktion sozialer Kontakte auf die Keim- und Urzelle gesellschaftlichen Lebens, die Familie - und im worst-case, wenn das Unfassbare passiert, zu einem (dramatischen) Bekenntnis, das den Blick freigibt für eine Liebe, für die es keine Worte gibt. Eine unverhofft und urplötzlich einsetzende Gegenwartsverdichtung auf die Familie einerseits zu organisieren und sie andererseits auszuhalten offenbarte auf unterschiedliche Weise die Doppelbödigkeit der von Peter Fuchs diagnostizierten sozialen Mythologisierung der Kindheit. Um dies sehen zu können, ist es zunächst unerlässlich seine Kernargumentation nachzuvollziehen:

  • Zu den gesellschafts- und bildungspolitisch extensiv gebrauchten Phrasen gehört zweifellos die Behauptung, Kinder seien unsere Zukunft! Peter Fuchs spricht von einem sonderbaren und aufklärungsbedürftigen Besitzverhältnis, in dem die Kinder (da ihre Gegenwart durch die Zukunft der Erwachsenen definiert wäre) sich selbst und ihre Gegenwart nicht hätten und die Erwachsenen ihre Gegenwart nur hätten als das, was die Kinder nicht seien: Zukunft! Seine zugespitzte These: "Man müsste annehmen, dass auf diese Weise die Zeit der Gegenwart aus der Konstruktion des Kindes und des Erwachsenen gleichsam abgepumpt würde. Wir hätten es mit einer gegenwartsvernichtenden Struktur, mit einer Maschine zu tun, die die Zeit der Gegenwart, die die Zeit des Lebens ist, verdunsten lässt."
  • Die komplementäre Seite sieht Peter Fuchs in einem Zeitarrangement im Sinne einer Temporalisierung der Gesellschaft, die sich in terms der Zukunftslastigkeit und der Gegenwartsminimierung offenbare. Begriffe wie Fortschritt und Wachstum seien in diese Koordinaten unauflöslich eingeknetet. Wir rasten auf Ziele zu hinter denen weitere Ziele steckten im Sinne eines Immer-Mehr und Immer-Besser: "Die Gegenwart wird zum Vehikel zur Beförderung dessen, was kommen soll, und alles, was kommt (und dann Gegenwart ist), wird in dieselbe Form gepresst: Es ist nicht Da-Sein, keine Hic et Nunc, kein Erfüllungs- und Lebeort, sondern ein Presswerk, in dem alles, was geschieht, die Gestalt des Aufschubs annimmt."
  • In dieses Presswerk gerate auch die soziale Konstruktion des Kindes. Es werde zu dem, wovon unsere Zukunft abhänge. Das Erziehungssystem habe längst seine Zeitgrenzen bis zum Mutterleib und bis auf das Säuglingsstadium hin ausgedehnt. "Die Eltern werden unter den Druck gesetzt Gedeihlichkeitsbedingungen der Zukunft des Kindes, die die Zukunft der Eltern ist, von Anfang an zu berücksichtigen. Das Kind, es spielt nicht, um zu spielen... es spielt vielmehr um zu lernen. Und je früher es richtig lernt, desto besser für die Zukunft: Englisch im Kindergarten, der Kindergarten als Vorbereitung der Schule... Vorverlegung der Einschulungszeit... Medikamente für nicht so leicht zukunftsanpassbare Kinder, Beratungen ohne Ende, Pisa-Studien, die erweisen, dass die Zukunftsfähigkeit der Kinder noch nicht genug im Blick auf deren Zukunft (also unsere Zukunft) trainiert wurde, Verzweiflungen der Eltern, dass ihre Kinder gegenüber dieser Zukunft versagen könnten - und bei alledem eine unfassbare Gegenwartsvergessenheit... Das setzt sich fort bis weit ins Jugendalter, ja bis ins Studium hinein, das dreht und wendet sich und hat kein Ziel. Die Eltern leben für die Kinder (nicht für sich selbst), die Kinder leben für die Eltern (nicht für sich selbst)."
  • Das Tückische - und das vielleicht Depremierende - dabei ist, dass diese Zirkularität - wie Peter Fuchs zu bedenken gibt -, eine Form der Leere begründe, die verdeckt werde durch die soziale Mythologie des Kindes: "einer Mythologisierung, die, wie man ja auch sagen könnte, einer grandiosen Instrumentalisierung der Kinder den Weg bereitet, die (wie ihre Eltern) in eine Zeitfalle geraten, in die Falle einer verheerenden Zeitberaubung. Die Kinderobsession so vieler Menschen mag ein Ausdruck sein, dass sie selbst nicht sehen, dass sie an derselben Fliegenrute kleben. Sie feiern die Kinder als das was sie nicht sind: Zukunft. Und verspielen dabei deren (und ihre eigene) Möglichkeit zu lebensdichter Gegenwart."

Der Mythos Kind/Kindheit hat in der Spätmoderne natürlich auch - und vor allem - eine glänzende Seite: So sieht sich denn Peter Fuchs auch genötigt, zunächst einmal klarzustellen, dass er nicht der Kinderfeindlichkeit verdächtig sei, sondern dass es ihm primär darum gehe möglicherweise schädliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen, "durch die Kinder so ins Zentrum der allgemeinen Lebensgestaltung rücken, dass sich die kostbare Zeit ihrer Gegenwart (und die kostbare Zeit der Gegenwart der Erwachsenen, die mit ihnen zu tun haben) auflöst."

Wenn wir nun den Mythos näher in den Blick nehmen, erfahren einige von uns - wie unter einem Brennglas -, wie sich der Blick fokussiert auf ein Phänomen, das uns erst die Moderne beschert hat; eine Moderne, in der Kinder nicht mehr als kleine Erwachsene - oder ausschließlich als notwendige Vorsorge mit Blick auf die eigenen elementaren  Grundbedürfnisse im Alter betrachtet wurden. Auf recht einnehmende Weise packt Peter Fuchs die neue Sicht auf Kinder und Kindheit in eine dem Grundphänomen gegenüber überaus angemessene Sprache:

"Kinder sind - alles in allem, und die besten Bedingungen vorausgesetzt - ganz einfach toll. Sie sind aus sich herauslaufende Räder, die Frisch-Entdecker der Welt, das quirlige, wahrhaftige Leben schlechthin, gegen das sich das Leben der Erwachsenen als trist, als eintönig, als verkrustet, als durchroutiniert erweist. Sie sind nicht kleine Erwachsene, sondern Personen eigenen Rechtes, die die Welt anders sehen als die Großen, von untern her, wie man im 19. Jahrhundert entdeckt, staunend, offen, bildbar, lärmend und vor allem: spielend. Sie sind schlammbedeckte Lustbringer mit vollen Hosentaschen, die nicht zu lieben, über die nicht zu lächeln, angesichts derer nicht ein warmes Gefühl zu haben oder nicht wenigstens anzudeuten, dass warme Gefühle angebracht sind, nahezu eine soziale Pathologie darstellt."

Warme Gefühle? Necdet Avunc - so schreibt seine Tochter, Esrin Korff-Avunc - wurde am 4. September 1939 in Manisa in der Türkei geboren und wuchs in Izmir auf. Er kam mit Mitte zwanzig als Gastarbeiter nach Deutschland. Er heiratete eine Deutsche, wurde Bankkaufmann; die beiden - Necdet und Uta - wurden Eltern dreier Töchter. Ich zitiere nun einen Abschnitt aus Esrin Korff-Avuncs Artikel, mit dem sie in der ZEIT (17/21, S. 60) anlässlich des Traueraktes für die Toten der Corona-Zeit am 18.4.2021 den Verlust ihres Vaters beschreibt:

"Leider weiß ich nicht viel über die Kindheit meines Vaters in der Türkei, er sprach kaum davon. Allerdings: Von meiner Tochter Clara erfuhr ich jetzt, dass ihr Opa ihr vorschwärmte, wie er als Kind im Meer mir rosa Delfinen schwamm. Zu seiner Enkelin hatte er eine ganz besondere Bindung und sagte mir noch vor seinem Tod, dass es keine Worte für seine Liebe zu ihr gebe."

Man kann aus den Analysen Peter Fuchsens die Idee ableiten, man sei als Eltern - vor allem aber auch als Großeltern - gut beraten, der Gegenwartsvernichtung mit lebensdichter Gegenwart zu begegnen. Es mag unfassbar widersprüchlich anmuten angesichts eines pandemischen Geschehens, das unter dem mehr als 80.000 zu beklagenden Toten allein in Deutschland auch Necdet Avunc registriert, aus der Sicht einer privilegierten Minderheit von einem Geschenk zu sprechen. Ich reduziere die Minderheit einmal auf meine eigene Person (einer von etwa 82 Millionen, die in Deutschland leben): Mein Enkel ist am 8. Mai 2019 geboren worden, meine Enkelin am 16. Dezember 2020 - mitten ins pandemische Geschehen hinein. Jeden einzelnen Tag - und es war in den vergangenen zwei Jahren fast jeder einzelne Tag - gestaltet sich, gestalten wir als  uneingeschränkte lebensdichte Gegenwart. So sehr ich Anteil genommen habe am Heranwachsen meiner eigenen Kinder, so sehr vermag ich gegenwärtig den von Peter Fuchs so kritisch und widersprüchlich analysierten Mythos Kindheit in mir noch einmal auszukosten: "Kinder sind - alles in allem, und die besten Bedingungen vorausgesetzt - ganz einfach toll...". An den Bedingungen bastele ich Tag für Tag mit. So nahe ich am alltäglichen (Entwicklungs-)Geschehen auch dran bin und Anteil nehme, so diskret führe ich meine Tagebücher - für die Kinder. Und so viele Worte ich auch mache, und so sehr die Hoffnung in mir auch lebt, meine Worte mögen meine Kinder und Enkelkinder in ferner Zukunft noch einmal mit meiner Liebe zu ihnen beschenken, so sehr teile ich die Botschaft Necdet Avuncs, dass es für diese Liebe keine Worte gibt.

Lebensdichte Gegenwart und eine Liebe, für die es keine Worte gibt (Teil II)

Auf diese Weise befeuere ich den Mythos, den Peter Fuchs so kritisch unter die Lupe nimmt. Ich gehe sogar noch einen entschiedenen Schritt weiter, indem ich den Kontext erweitere, um eine Idee - eine Vorstellung, die Klaus Theweleit in mir begründet hat und fortan nährt. Klaus Theweleits "Männerphantasien" standen ( Antonia Baum (ZEIT, 10/20, S. 51)) zuletzt auch im Mittelpunkt eines Artikels von Antonia Baum. Im Verlauf ihrer Ausführungen kommt es zu folgender Passage:

"Würde man einen Menschen als Baby und Kleinkind anbrüllen oder gar schlagen und würden dessen Bedürfnisse nicht adäquat beantwortet, etwa indem man es schreien lässt und ihm zu wenig Körperkontakt gibt?"

Antonia Baum arbeitet nun mit Klaus Theweleit die zentrale Argumentationsfigur heraus, nach der es bei alledem um die Konsequenzen eines Nicht-zu-Ende-geboren-Seins gehe. Statt Beziehung werde ein Panzer ausgebildet, um realitätstüchtig zu werden und das angsterfüllte, instabile Innere im Zaum zu halten. Theweleit dazu:

"Dadurch kann die Ich-Struktur nicht entstehen, also dass ich weiß, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Deswegen findet der soldatische Mann Drill und Hierarchien so wichtig. Weil sie ihm Körpergrenzen verpassen. Er muss wissen, wo oben und unten ist, und wenn sich da was ändert, fühlt er sich bedroht, und im schlimmsten Fall fordert er, dass das, wovon er sich bedroht fühlt, entfernt wird. Und aus diesem Grund sage ich, Faschismus ist primär keine Ideologie, sondern ein Körperzustand. Die Ideologie ist Schwachsinn und als solcher nur aufgeklebt."

Wie kommt Klaus Theweleit zu dieser Annahme: Er hat die schriftlichen Erzeugnisse von Freikorpssoldaten aus den 1920er-Jahren untersucht. Dazu greift er auf literaturwissenschaftliche Unterscheidungen sowie auf Erkenntnisse der Kinderpsychoanalyse zurück. In einem knappen Überblick fasst Antonia Baum Theweleits Erkenntnisse zusammen:

"Theweleit fiel die durch und durch angstbesetzte Wahrnehmung des 'anderen Geschlechts' der Freikorpsmänner auf, die Frauen nur denken konnten als Huren, Mütter oder 'weiße Krankenschwestern', wobei die 'reinen', entsexualisierten Frauen als Beschützerinnen Deutschlands wider  die rote Flut (Kommunismus) imaginiert wurden, während die 'Spartakistenweiber' umgelegt und kaputt geschlagen werden sollten."

Antonia Baum las als Studentin in den "Männerphantasien" - eine Erstausgabe aus den Händen ihrer Mutter - und stieß auf eine unbekannte Art und Weise, über Faschismus zu sprechen:

"Was ich las, kannte ich aus einem Teil der Familie, und darüber sprach dieser Teil garantiert nicht: Nicht über die Brutalität und Gnadenlosigkeit insbesondere der Männer gegenüber ihren eigenen Körpern auch in der zweiten Nachkriegsgeneration. Nicht über das 'Was dich nicht umbringt, macht dich nur noch härter', die Aufforderung mit dem Geflenne aufzuhören, die Begeisterung für einen Körper, der wie ein Instrument einsetzbar ist, und natürlich die Verachtung für alles, was typischerweise als weiblich und schwach gilt."

Beiläufig erwähnt Antonia Baum, dass der Berliner Verlag Matthes & Seitz die "Männerphantasien", ergänzt um ein Nachwort des Autors) neu auflegt und bemerkt ihrerseits - um eine angemessene Kontextualisierung bemüht - dazu:

"Das Buch sei 'so aktuell wie nie' steht in der Neuausgabe, was insofern stimmt, als sich gerade etwa alle drei Monate ein Mann entschließt, andere Menschen aus rassistischen, antisemitischen Motiven zu ermorden. Zum Zeitpunkt des Terroranschlags in Hanau war dieser Text (für die ZEIT, Anm. WR) lange fertig, es hat also praktische Gründe, dass hier das antisemitische Attentat in Halle im Vordergrund steht, bei dem ein Mann loszog, um gezielt Juden umzubringen. Dabei bezog er sich auf die Verschwörungstheorie, eine 'jüdische Finanzelite' habe sich den Feminismus ausgedacht, um Frauen am Kinderkriegen zu hindern, was wiederum 'Massenimmigration' zur Folge habe. Jener Tätertypus, so Theweleit, setze die Landesgrenzen mit Körpergrenzen gleich. Aus genau diesem Grund tobe im Zentrum aller männlich-terroristischen Attentate der jüngsten Vergangenheit eine mörderische Antiweiblichkeit: Frauen weigern sich Kinder zu bekommen, oder haben zu schwache Herzen, um Migranten abzulehnen. Vielleicht ist es das, was Theweleit meint, wenn er sagt, die Ideologie sei bloß draugeklebt: 'Es ist beliebig, wen der üblichen Verdächtigen sie verantwortlich machen für den Niedergang der Gesellschaft."

 

   
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