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In progress? - Rauft euch zusammen!

Man kann auch gewinnen, wenn man erst - weiter unten - nach Karl Otto Hondrichs Appell: Rauft euch zusammen! zu lesen beginnt!

Mir fällt auf, dass ich fast alle meine Beiträge unter den Vorbehalt bzw. die Aussicht stelle: in progress (so wie auch im letzten Beitrag). Letzten Endes kann das eigentlich nur bedeuten, dass ich Angefangenes nicht zu Ende führe - oder vielleicht anders herum: Alles ist schon zu Ende - alles ist schon gesagt. Bei den inzwischen weit über 600 Beiträgen meines Blogs liegt zumindest nahe, dass ich aus dem mir Möglichen - vor allem mit Blick auf die Rezeption von Texten aus Literatur und Wissenschaft - ein filigranes Netzwerk erzeugt habe, das die Phantasie nährt, irgendwann einen Text nur noch aus Links zu erstellen, die sich aus sich selbst heraus erklären und nähren. Ja, irgendwann wird es gewiss so sein, dass sich mein Schöpfen aus den unendlichen Quellen menschengemachten Sinnierens und Reflektierens final erschöpft. Vielleicht führt es dann ein Eigenleben. Ob mich meine Kinder und Kindeskinder dann noch als zukunftsgläubigen Menschen erinnern, ziehe ich doch sehr in Zweifel; hingegen werde ich gewiss immer als jemand in Erinnerung bleiben, der sich mit seinen Herkunftszwängen auseinander gesetzt hat:

Der zukunftsgläubige Mensch – und seine Herkunftszwänge

So lautet die Überschrift zu einem Aufsatz, den Karl Otto Hondrich 1998 (!!!) im Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, herausgegeben von Bernhard Schäfers und Wolfgang Zapf, veröffentlicht hat. Ich entnehme ihn dem Suhrkamp-Band: Karl Otto Hondrich: Der neue Mensch, erste Auflage 2001, erschienen bei Suhrkamp, Seite 179-208.

Ich habe immer wieder betont, wie sehr auch Karl Otto Hondrich, der leider 2007 im Alter von noch nicht 70 Jahren schon verstorben ist, meine Wahrnehmung von Welt und Gesellschaft – und auch vom Dasein als der eine Teil eines Paares – beeinflusst und prägt. Auch diesen Aufsatz habe ich eher von hinten aufgezäumt, vollkommen verblüfft und erstaunt darüber, wie sehr Karl Otto Hondrich als Beobachter überzeugt. Wenige Jahre vor seinem Tod erschien Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft (Frankfurt 2004). Meine Zusammenstellung Rauft euch zusammen beispielsweise begleitet mich und die von mir beobachtete und verursachte Paardynamik seither und bis heute.

Wie so häufig lese ich mich von hinten nach vorn durch die Thesen Hondrichs, der zunächst einmal mit der frappierenden Behauptung aufwartet, dass Zukunftsvorstellungen für die Zukunft selbst keine Bedeutung haben:

„Denn alles, was wir an Voraussagen und politischen Vorschlägen, an Wunsch- und Weheszenarien entwerfen, steht unter dem soziologischen Diktat der unbeabsichtigten Folgen und Gegenbewegungen, kurz: der unergründlichen Macht der Zukunft.“ (S. 206)

Mit Nüchternheit und einer gewissen Zuversicht skizziert Hondrich 1998 das Szenario, das gut 25 Jahre später längst unseren Alltag bestimmt:

„Wir mögen die sinkenden Fertilitätsraten in die Zukunft fortschreiben. Wir mögen uns die individuellen und kollektiven Folgen ausmalen: von der Vereinsamung der Alten über die Belastung der Jungen, von der Entdynamisierung einer Greisengesellschaft bis hin zu ihrem Untergang, wenn die jugendlichen Träger ihrer aufklärerischen Werte gegenüber der Jugend antiaufklärerischer fundamentalistischer Gesellschaften hoffnungslos in die Minderzahl geraten sind… Doch an jeder Stelle solcher Szenarien sind Umkehrungen und Gegenbewegungen denkbar. Der Geburtenrückgang kann – gerade auch mit Hilfe individualistischer und rationalistischer Kalküle – aufgehalten werden, Produktivitätssteigerungen erlauben einer schrumpfenden aktiven Bevölkerung, immer mehr Alte und Leistungsschwache zu alimentieren, ohne daß der gemeinsame Wohlstand sinkt, Migrationen versorgen reproduktiv erlahmende Gesellschaften nicht nur mit jugendlichen Leistungsträgern, sondern schaffen auch Mittlergruppen zwischen den Kulturen und verwandeln kulturkämpferische Tendenzen in integrative… Die Zukunft bleibt offen.“ (S. 206f.)

Vieles von dem, was Hondrich in Aussicht stellt, müssen wir heute relativieren unter seiner Ausgangsthese, dass Zukunftsvorstellungen für die Zukunft selbst keine Bedeutung haben. Migrationen – 2015 war aus der Sicht von 1998 vermutlich schlicht unvorstellbar – haben eben nicht, oder nur bedingt, zu dem Effekt geführt, dass eine reproduktiv erlahmende Gesellschaft mit jugendlichen Leistungsträgern versorgt wird. Kulturkämpferische Tendenzen gewinnen tendenziell die Überhand gegenüber wirksamen integrativen Haltungen und Bemühungen.

Der Abstand von gut 25 Jahren zum Erscheinungstermin dieses Beitrags gewährt mir persönlich einen geschärften Blick dafür, wie sehr wir alle unter Druck geraten aufgrund einer der zentralen Prämissen, die moderne – meinetwegen spätmoderne – Gesellschaften mehr und mehr prägen; und zwar auf eine irreversible, sozial verheerende Weise. Um diese These zu begründen, greife ich auf Hondrichs Argumentationskern zurück, mit dem er Entwicklungslinien beschreibt, die sich (leider) aus der Sicht von 1998 als überaus zukunftsprägend erwiesen haben – vor allem in ihren toxischen Effekten:

„Individualisierung heißt denn auch das Zauberwort, in das sich heute die Gestaltungsvisionen der Zukunft kleiden, nachdem Sozialismus, Nationalismus und andere kollektive Identitätszuschreibungen verbraucht erscheinen.“ (S. 195) Karl Otto Hondrich würde sich möglicherweise verwundert die Augen reiben, wenn er heute sehen könnte/müsste, wie der Grenznutzen der Individualisierungsthese in manchen sozial prekären (Rand-)Zonen unserer Gesellschaft erreicht ist und durch – in der Regel – rechte bis rechtsextreme kollektive Sehnsuchtsphantasien ersetzt werden. Aber wenden wir uns zunächst einmal der Diagnose Hondrichs zu, einer Diagnose, die das individuelle Driften Einzelner in der postmodernen Gesellschaft gleichermaßen beschreibt als ein Phänomen, bei dem die sozialen Kosten beginnen bei Weitem den sozialen Nutzen zu überwiegen:

„Heute, im Zeichen weltweiter ökonomischer und kultureller Vernetzung, erscheint die Option zum Weltbürger nicht nur als eine Entfaltungschance, sondern fast als eine Notwendigkeit: Das Individuum muß in vielen Fällen aus seinen engeren Herkunftsbindungen heraustreten, um in Zukunft bestehen zu können. Illusionär ist allerdings die Annahme, daß Herkunftsbindungen dadurch aufgehoben oder auch nur schwächer würden. Das Gegenteil ist der Fall. Denn nur in nicht selbstgewählten Primärbeziehungen, die gar nichts anderes sein können als Herkunftsbindungen an Familie, Sprach-, Wert- und Gewaltmonopolgemeinschaft, gewinnt das Individuum die Anerkennung und Selbst-Sicherheit, die nötig sind, um selbstgewählte Zukunftsbindungen – noch dazu mit Menschen anderer Sprache und Sozialisation – eingehen zu können.
Herkunftsbindungen im eng begrenzten und sicheren Rahmen sind die Voraussetzungen für erweiterte und selbstbestimmte Zukunftsbindungen. Und diese führen aus den Herkunftsbindungen nicht nur hinaus, sondern auch wieder in sie zurück. Denn alle Beziehungen, die wir den weltweiten Waren-, Arbeits-, Liebes- und Bekanntschaftsmärkten selbst wählen oder bestimmen können, können von uns selbst und – was viel schlimmer ist – von den anderen, also gegen unseren Willen, abgewählt werden. Jeder aktive Wahlakt an jedem Markt hat sein passives Pendant: das Nichtgewähltwerden, das FallengelassenwerdenWohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denjenigen gehören, die noch nicht oder nicht mehr gewählt werden und neue Wahlbindungen nicht aus dem Ärmel schütteln können? Es bleiben uns die Eltern, Geschwister, eigene Kinder, alte Freunde, der Sozialstaat: alles Herkunftsbindungen, die wir nicht selbst gewählt haben und die uns deshalb auch nicht abwählen und fallen lassen dürfen. Ohne sie wäre der Ausflug in die >reine Zukunft unserer Wahl<, so vielversprechend er zunächst beginnen mag, am Ende ein Horrortrip ins Niemandsland.“ (S. 198f.)

Wohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denjenigen gehören, die noch nicht oder nicht mehr gewählt werden und neue Wahlbindungen nicht aus dem Ärmel schütteln können? Alexander Kluge antwortet ebenso wie Karl Otto Hondrich:

"Wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (hier geht es zum Interview Denis Schecks mit Alexander Kluge)

 Rauft euch zusammen!

Das ist die vordergründige Antwort, die Karl Otto Hondrich in "Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft" gibt (Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2004). Warum vordergründig? Zunächst einmal kann ich jemandem, der - wie ich 1997 - die Achterbahn eines Individualisierungsexzesses bestiegen hat, nur die schlichte Empfehlung geben, den Link: Rauft euch zusammen! einmal zu öffnen und sich dann der Argumentation Karl Otto Hondrichs auszusetzen. Mit Blick auf die Vordergründigkeit beschränke ich mich auf zwei Fundstellen, mit denen das Dilemma offenkundig wird, das Karl Otto Hondrich mit seinem Appell unaufhebbar verbunden sieht:

 „Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus!“ (Hondrich 2004, 166).

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!‘ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!‘ nicht fehlen (Hondrich 2004, 167f.)."

 

Ja, lieber Karl Otto Hondrich - alle Toten fliegen hoch -, ich wünsche Dir, dass Du einen Ort gefunden hast - in mir hast Du jedenalls einen exklusiven Logen-Platz, denn ich kann Dir zurufen:

Hier steh ich nun, ich alter Tor, viel klüger als zuvor!

Danke Karl Otto Hondrich!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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