<<Zurück

 
 
 
 

Peter Sloterdijk - Ekel als politische Evaluationskategorie?

Kleine Kostprobe vorweg - Peter Sloterdijk am 5. April 2015: "Im Ernst gefragt: Wer würde heute gern ein Teil Rußlands werden? Worin besteht der kulturelle Charme des dubiosen Landes? Was könnte Nicht-Russen zu einem russischen modus vivendi hinziehen? Die Antwort ist eindeutig: Rußland ist als Magnetpol für kleinere despotische Systeme und Länder auf autokratischen Abwegen attraktiv – fast alles übrige an seiner Erscheinung erregt Abwehr und zivilisatorischen Ekel. Der ideologiebasierte Komplottstaat >Sowjetunion< hat sich nach einer labilen Übergangsphase in den postsowjetischen Komplottstaat Russische Föderation verlängert. Als einzigen Attraktor hat sie Bündnisangebote für Staatsfiktionen mit analogen Komplottregierungen zu bieten. Wer wissen will, was Rußland ist und will, braucht nur die Nachrichten über die Bombardierung von Kliniken in Syrien durch die russische Luftwaffe zu konsultieren. Die Führung Rußlands hat nie aufgehört, sich als in einem Krieg befindlich zu denken – vor allem im Krieg mit der USA-geführten Nato, was zur Konsequenz hat, das zivilethische Kriterien außer Kraft gesetzt bleiben. Wer immer Krieg führt, kommt aus der moralischen Enthemmung nie heraus.“

Es ist ja nicht so, dass ich meine Haltung zu Putins Russland nicht mehr als deutlich artikuliert hätte – in vielen, vielen Beiträgen, teils mit kreativer Note - nachstehnd eine Auswahl:

Das bleibt in gewisser Weise folgenlos, weil ein No-name keinen Einfluss hat auf öffentliche Meinungs- und Willensbildung. Die Diskurse und teils heftigen Kontroversen im engeren Freundes- und Bekanntenkreis haben teils zu spürbaren Belastungen auch alter Freundschaften geführt. Wenn ich mir nun die aktuell vorliegenden Zeilen und Tage III 2013 – 2016 (bei Suhrkamp, Berlin 2023) von Peter Sloterdijk vornehme, dann kommt mir dies vor, wie eine früh manifestierte Bestätigung meiner Vorbehalte und meines Ekels Russland gegenüber. Peter Sloterdijk, den ich seit Jahrzehnten schätze und immer wieder als Referenz für eigenen Positionen reklamiere, soll hier eine Bestätigung erfahren, dass seine hellsichtigen Überlegungen bei seinen Lesern nachhaltige Wirkung entfalten (alle Hervorhebungen im Folgenden, FJWR).

Am 12. Januar 2013 vermerkt er: „Warum Putin die Ukraine auf die Bindung an Russland festlegen möchte? Er braucht, schreibt ein Kommentator, ukrainische Vitalität, um die russische Stagnation aufzuhalten.“

Aus heutiger Sicht – elf Jahre später – zeigt sich die Weitsichtigkeit dieses Kommentars. Putin, der am 22. Februar 2022 die Ukraine mit seiner Militärmaschine überfällt, vollzieht dies in der sicheren Gewissheit, der ukrainischen Vitalität innerhalb von 14 Tagen den Garaus zu machen. Die Unerträglichkeit in unmittelbarer Nachbarschaft die Lebendigkeit und Attraktivität einer demokratisch  verfassten Gesellschaft ertragen zu müssen, die dabei ist ein reiches und buntes zivilgesellschaftliches Vitalitätspanorama zu entfalten, kann nur durch deren radikale, martialische Beseitigung beantwortet werden.

Und (noch) in vorsichtiger Zurückhaltung gibt es am 4. März 2013 folgendes zu lesen: „Bernard-Henri Lévy erscheint persönlich auf dem Maidan: Kämpft, Ihr Tapferen! Falls nötig, beweinen wir euch! Viel beunruhigender als BHLs Kiewer Rede, die den anti-russischen Rebellen Mut macht, sind die Kommentare der Leserschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, unter denen die freiwilligen Truppen der Putin-Anwälte eine kräftige Mehrheit bilden – die meisten von ihnen bereit, ihre Überzeugungen durch reichlichen Gebrauch von Beleidigungen zu untermauern [...] Herauszufinden bliebe, ob BHL etwas ausspricht, was für die raison d’etre Europas angesichts der russischen Politik der Größen-nostalgischen Übergriffe von allgemeiner Bedeutung sein müsste – die Notwendigkeit eines härteren Auftretens gegenüber der russischen Traumpolitik. Darüber ist nicht entschieden.“

Und am 15. April 2013 erweist sich Peter Sloterdijk einmal mehr als hellsichtiger und nüchterner Analyst der Putinschen Entartung: „Das Putin-Rätsel erweist sich darin, wie er alle Welt zwingt, über seine Psyche nachzudenken. Es ist keineswegs evident, ob er wirklich ein psychologisch relevantes Objekt oder gar einen psychiatrischen Fall darstellt – er könnte auch einfach ein Machtpolitiker alten Schlages sein, Geschöpf seiner Zeit, in der Rußland Schachweltmeister und Gulagaufseher hervorbrachte. Bislang hat der Westen Putin nicht mehr als eine Kompanie Psychologen entgegenzusetzen, die meisten mit dem Schwerpunkt bei megalomanischen Störungen (Megalomanie: Krankhafte Selbstüberschätzung und Überbewertung der eigenen Person als eine Form des Wahns Anm. FJWR). Auch Experten für Realitätsverlust nehmen sich seinen Kasus gerne vor. Sie sehen zumeist davon ab, daß seine Landsleute ihn für einen ziemlich normalen Russen halten, allenfalls für einen Schlaumeier, der, wenn nötig, über die ein oder andere Leiche geht, wie im KGB-Universum üblich. Was die Mittel- und Oberschichten der postsowjetischen Welt betrifft,  verstehen sie sich auf den Einbau von Eisentüren an den Wohnungen, die es den Besitzern oder Mietern erlauben, sich in ihren Privatinseln sicher zu fühlen. Mit der politischen Resignation schreitet die Archipelisierung der russischen Gesellschaft voran.“

Am 25. Juli 2014 gelingt Sloterdijk die historische Einordnung der postsowjetischen Großmannssucht in ihre archaisch anmutende und  Übelkeitsattacken auslösende Traditionslinie: „Die aktuelle Putinologie legt Wert auf die Feststellung: Die russische Außenpolitik sei weder primitiv-heroisch noch offen suizidal, sie folge bloß trotzig-selbstschädigend einer neo-zaristischen Nostalgie.“

Der 1. Oktober 2014 zeigt nun schon die radikale Differenz, die den hellsichtigen Putin-Analysten Sloterdijk von einem Irrgänger in der Einschätzung Putins unterscheidet: „In der Zeit spricht Maurizio Ferraris über das, was er das >altmodische Wagnis, den Dingen Namen zu geben<, nennt. Er meint, sein Bekenntnis zu einem >Neorealismus< zu stützen, indem er Putin zu einem Anwender >postmoderner Wahrheitstheorien< erklärt.
Ganz falsch – Putin ist nichts anderes als ein konsequenter Erbe der sowjetischen Lügenkultur, ohne eine Spur von postmodernem Pluralismusbewußtsein und perspektivischer Reflexion. Er streut sein Lügen aus in der Gewißheit, daß es immer irgendwo einfache Idioten geben wird, die sie glauben, oder nützliche Idioten, die sie verständlich finden.“

Am 27. Oktober 2014 zeigt uns Sloterdijk auf seine Art, welchen Phänotyp des Staatbürgers die staatliche Zwangs-Ordnung im Putin-Russland massenhaft hervorbringt: „Eine der jungen Errungenschaften Rußlands zeigt sich darin, wie das >Volk<, oder was man von ihm vor die Kameras holt, sich aufrichtig für die Vorzüge des Putin-Staats ereifert. Wo Propaganda war, ist Selbsterregung geworden. Der Fürst wirft Kamellen von seinem Prunkwagen, die Menge lutscht die nationale Süßigkeit. Wer wäre nicht lieber arm als zweitklassig?“

Und nur drei Tage später, am 30. Oktober 2014 ist zu lesen: „Bei Vladimir Sorokin, von man heute auf Zeit online ein in Berlin-Charlottenburg geführtes Gespräch findet, läßt sich einmal mehr in Erfahrung bringen, daß man über postsowjetische Zustände am besten in nekrologischer Tonart spricht, nicht, um Tote zu bestatten, sondern um Untote beim Spuken zu beobachten. Derrida hatte von >Spukwissenschaft< - hantologie – gesprochen, um dem Nachleben von okkult kopierfähigen Mächten unvergangenen Unglücks und unerledigter Rachebedürfnisse in aktuellen Akteuren auf die Spur zu kommen. Der Widergänger vom Dienst ist heute kein anderer als Putin, das traurig-megalomanische Nachkriegskind aus St. Petersburg, der sich in die Tradition des von Iwan dem Schrecklichen inaugurierten despotischen Zarismus einfügt, als ob ein Land wie das russische mitsamt seiner sinnlosen territorialen Überausdehnung noch immer allein durch die >Staatsvertikale< im Griff gehalten werden könnte.“

5. April 2015 – Auch nach der Krim-Annexion im Frühjahr 2014 bleibt Peter Sloterdijk von bestechender Klarheit in seinem Urteil: „Alle Welt faselt nach der Krim-Annexion von einem neuen >russischen Imperium< - offenbar will niemand einsehen, daß Imperien, wenn sie auch als reine Gewaltprodukte entstehen, nur als Attraktionsphänomene Bestand haben, sei es lediglich für eine gewisse Zeitspanne, bis endlich die zentrifugalen Kräfte überwiegen. Im Ernst gefragt: Wer würde heute gern ein Teil Rußlands werden? Worin besteht der kulturelle Charme des dubiosen Landes? Was könnte Nicht-Russen zu einem russischen modus vivendi hinziehen? Die Antwort ist eindeutig: Rußland ist als Magnetpol für kleiner despotische Systeme und Länder auf autokratischen Abwegen attraktiv – fast alles übrigen an seiner Erscheinung erregt Abwehr und zivilisatorischen Ekel. Der ideologiebasierte Komplottstaat >Sowjetunion< hat sich nach einer labilen Übergangsphase in den postsowjetischen Komplottstaat Russische Föderation verlängert. Als einzigen Attraktor hat sie Bbündnisangebote für Staatsfiktionen mit analogen Komplottregierungen zu bieten. Wer wissen will, was Rußland ist und will, braucht nur die Nachrichten über die Bombardierung von Kliniken in Syrien durch die russische Luftwaffe zu konsultieren. Die Führung Rußlands hat nie aufgehört, sich als in einem Krieg befindlich zu denken – vor allem im Krieg mit der USA-geführten Nato, was zur Konsequenz hat, das zivilethische Kriterien außer Kraft gesetzt bleiben. Wer immer Krieg führt, kommt aus der moralischen Enthemmung nie heraus.“

Der Ekel ist unermesslich und wird uns Deutschen ein Stück weit im Halse stecken bleiben, weil wir Putin-Rußland politisch (siehe als ein Beispiel das Münchner Abkommen von 1938) und ideologisch (siehe die Staatsrechtslehre von Carl Schmitt) die Blaupause geliefert haben – allerdings bisher exclusive des nach wie vor singulären, industriell organisierten Holocaust. Gleichwohl ist zu sehen, dass Putins Rußland sich unmenschlicher Kriegsverbrechen schuldig macht und Tag für Tag Raketen und Drohnen auf eine wehrlose Zivilbevölkerung abfeuert.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund