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Kann die Ukraine ein Recht auf Widerstand für sich beanspruchen? Ein deutscher Disput

"Die moralische Verpflichtung zum (politischen) Widerstand – dargestellt an der Auseinandersetzung mit den Flugblättern der Weißen Rose"

Unter diesem Titel hat mein Tochter Laura 2013 ihr Bachelorarbeit verfasst. Heute bin ich dankbar dafür, in einem freundschaftlichen Streitgespräch auf ihre Erörterungen zurückgreifen zu können. Am Beispiel des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, die de jure einen Bruch des Völkerrechts darstellen, sollten wir uns alle  noch einmal vor Augen führen, ob und inwieweit das Widerstandsrecht ein Grundrecht darstellt und unter welchen Bedingungen es sozusagen Geltung erlangt. Zuvor möchte ich aber am Beispiel von Lauras Resümee kurz etwas sagen zur historischen und aktuellen Bedeutung der Weißen Rose. Die Weiße Rose findet hier exemplarisch Erwähnung, weil sie in ihrer nationalen und internationalen Bedeutung und Wertschätzung – auch im Rückblick – für Reste eines zivilisatorischen Minimums steht, die überhaupt erst nach der nationalsozialistischen Barbarei und ihrem Terror nach innen und nach außen so etwas begründen konnten, wie moralische Rehabilitation und Neuorientierung.

Laura schreibt:

Durch Helmuth von Moltke gelangt das sechste Flugblatt über Skandinavien nach England. 1,5 Millionen davon werden von britischen Flugzeugen im Herbst 1943 über Deutschland abgeworfen. Sie sind überschrieben: ‚Ein deutsches Flugblatt – Manifest der Münchner Studenten‘.

Und dennoch: Weder die Hoffnung auf größere Widerstandsaktionen nach der katastrophalen Niederlage von Stalingrad noch die Hoffnung auf eine Solidarisierung innerhalb der Studentenschaft, wozu gerade in den beiden letzten Flugblattaktionen aufgerufen wurde, erfüllten sich auch nur annähernd. Obwohl das Aufbegehren gegen das NS-Regime nur punktuell und in der Verbreitung begrenzt war, bewertet Gerd R. Ueberschär die zugrundeliegende oppositionelle Haltung  - in Übereinstimmung mit vielen anderen Historikern als ‚fundamental und für das Regime gefährlich‘. Die Brisanz der Flugblätter lag einerseits in ihrer präzisen und folgerichtigen Einschätzung der militärischen Lage sowie andererseits in der umfassenden Entlarvung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der radikalen Forderung nach Freiheit, Freiheit im Sinne von Gedankenfreiheit, dem Recht auf freie Meinungsäußerung und der Wahrung der Menschenrechte. Nicht zuletzt erhob die Weiße Rose in ihrem zweiten Flugblatt Anklage gegen den Nazi-Terror wegen der ‚bestialischen Ermordung von 300.000 Juden im eroberten Polen‘. Sie setzte damit früh schon ein nicht zu übersehendes Zeichen für die Brandmarkung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Und sie ging damit schon sehr früh von einer Einzigartigkeit dieses Verbrechens aus, ‚dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann‘.

Die Mitglieder der Weißen Rose argumentieren auf der Grundlage einer radikalen christlichen Werteorientierung, die im Sinn des Kierkegaardschen christlichen Existentialismus an die Verantwortung eines jeden einzelnen appelliert und dem sie das Menetekel eines göttlichen Strafgerichts im Sinnes des Augustinus gegenüberstellen. Im Rückblick von 70 Jahren wirken diese Appelle und Prophezeiungen in ihrer Präzision und Hellsichtigkeit geradezu erschreckend.

Heute wissen wir und können in aller Klarheit sehen, dass der von Claus von Stauffenberg versuchte und gescheiterte ‚Tyrannenmord‘ in seiner Notwendigkeit und Legitimität von der Weißen Rose bereits zutreffend gesehen und gefordert worden ist. Was Hitler zum Tyrannen machte und was – mit den Worten von Carlo Schmid – ‚alles zu Recht werden lässt, was gegen ihn getan wird‘, hatten die Mitglieder der Weißen Rose, insbesondere Hans Scholl und Kurt Huber, bereits in aller Deutlichkeit erkannt: Nämlich dass der Tyrann ‚den Menschen zu einem Lebern zwingt, das man nur akzeptieren kann, wenn man bereit ist, auf alles zu verzichten, was ein Leben in Selbstachtung möglich macht, wenn man bereit ist, das Böse zum Maßstab der eigenen Lebensordnung zu machen. Tyrann ist, wer uns zu Ehrlosen macht, wenn wir nicht widerstehen‘ (aus: Carlo Schmid: Menschenrechte und Tyrannenmord – http:www.20-juli-44.de/pdf/1958 schmid.pdf).

Zu einem solchen Leben waren die Mitglieder der Weißen Rose nicht bereit und das Opfer ihres Widerstandes gilt uns zu Recht bis heute als vorbildhaft. Mag man die frühen Versuche der Alliierten, die Aktivitäten der Weißen Rose propagandistisch auszuschlachten (Abwurf von Flugblättern über mehreren Großstädten des Reiches) vielleicht noch als ‚Instrumentalisierung‘ abtun, so spricht die früh einsetzende internationale Würdigung der Weißen Rose gewiss eine andere Sprache.

Zum Abschluss sollen zwei Resümees zitiert werden, die sich sowohl in der Bewertung als auch in ihrem Pathos einig sind, auch wenn sie einmal aus dem Mund von Carlo Schmid eine spezifisch deutsche Sichtweise wiedergeben, während die zweite Würdigung vom ehemaligen englischen Premierminister Winston Churchill stammt:

‚Uns ziemt nach dem Wort unseres Bundespräsidenten >kollektive Scham<. Diese Scham müsste uns ersticken; es müsste uns moralisch unmöglich sein, sie von uns wegzuwälzen, wenn nicht die Helden des Widerstandes es auf sich genommen hätten, zu kämpfen und zu leiden, damit auch in dieser unmenschlichen Zeit in unserem Lande eine Fahne der Menschlichkeit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Ehre im Sturmwind der Geschichte wehen könnte.‘

‚In Deutschland lebte eine Opposition, die zum Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Menschen kämpften ohne Hilfe von innen und außen – einzig getrieben von der Unruhe des Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das unzerstörbare Fundament des neuen Aufbaus (Winston Churchill 1946 vor dem britischen Unterhaus).

Unsere eigene deutsche Geschichte verbürgt uns auf unheilvolle Weise, dass Vorstellungen eines politischen Widerstands – als einem Verhalten, dass sich gegen eine als bedrohlich und illegitim empfundene Herrschaft richtet – einem obrigkeitsstaatlichen Habitus vor allem der politischen und wirtschaftlichen, aber eben auch einem großen Teil der kulturellen Eliten weitgehend fremd waren. Auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland kannte zunächst kein Widerstandsrecht. Erst im Zuge der Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetzgebung wurde Art. 20 des GG in Abs. 4 entsprechend erweitert. Er besagt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieses Abwehrrecht gegen schwere Rechtsverstöße  wurde als Ausgleich zur Notstandsgesetzgebung erst 1968 geschaffen und ist nach gängiger Rechtsauffassung eng auszulegen.

Im Streitgespräch ging es in erster Linie auch um die Frage, inwieweit die Ukrainer sich legitimer Weise auf ein Widerstandsrecht berufen. Zur Rechtmäßigkeit der russischen Invasion mit der Folge einer völkerrechtswidrigen Verletzung eines souveränen Staates, dessen Präsident und dessen Parlament in freien Wahlen – ganz in westlicher Tradition – auf Zeit vom Souverän gewählt werden (bzw. gewählt worden sind), habe ich mich in: Die Zeit für absolutistisch regierende Sonnenkönige läuft ab - auch in Russland geäußert. Mit Demut und mit Scham respektiere ich die Haltung der ukrainischen Führung, mit Bewunderung und ebensolcher Scham bewundere ich den Widerstand der ukrainischen Frauen und Männer, sich gegen einen Aggressor zur Wehr zu setzen, der das Böse verkörpert, insofern er nach Innen einen Polizeistaat errichtet hat, der sich einer Anerkennung der Menschenrechte grundlegend versagt. Betrachtet man den außerordentlichen Mut derer, die unter dem russischen Zwangsregime Putins Reste zivilgesellschaftlicher Opposition verkörpern, ist man geneigt mit Hans Scholl zu sagen: „Der Tyrann zwingt die Menschen zu einem Lebern, das man nur akzeptieren kann, wenn man bereit ist, auf alles zu verzichten, was ein Leben in Selbstachtung möglich macht, wenn man bereit ist, das Böse zum Maßstab der eigenen Lebensordnung zu machen. Tyrann ist, wer uns zu Ehrlosen macht, wenn wir nicht widerstehen.“ Auch der Widerstand in Rußland gegen eine durch nichts zu rechtfertigende Aggression nötigt uns hohe Achtung und außerordentlichen Respekt ab. Im Polizeistaat Putins riskiert jeder, der sich oppositionell positioniert, mit Leib und Leben - mindestens mit seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit (siehe Memorial/Irina Scherbakowa - Markus Lanz vom 3.3.22).

Im heutigen Disput stellte sich zentral die Frage, woran wir uns denn – angesichts unserer eigenen Geschichte – orientieren. Was bedeutet es denn in der Konsequenz, wenn wir ein grundlegendes Widerstandsrecht in Frage stellen: Es bedeutet ja nicht nur, dass wir – anders als Carlo Schmid und Winston Churchill – unsere gesamte Erinnerungskultur in ihren Grundfesten erschüttern, es bedeutet letztlich ja auch, dass die von Hans Scholl erwähnte Selbstachtung zu einer Negativkategorie wird; dass uns die Maßstäbe für legitimen Widerstand verloren gehen.

Kommen wir noch einmal auf die Begriffe Demut und Scham im Kontext der Diskussion um ein Recht auf Widerstand zurück. Demut und Scham gebühren selbstredend jemand, der 70 Jahre friedenspolitische Rendite für sich in Anspruch nehmen konnte. Sie rühren sich spontan angesichts der Situation einer Nation – aber damit eben auch jedes einzelnen der durch sie repräsentierten Menschen –, für die die Entscheidung Widerstand oder Akzeptanz des Rechts des Stärkeren, keine akademische Frage ist, sondern eine existentielle Frage des Überlebens. Wir haben heute Morgen auch über den Nato-Doppelbeschluss diskutiert. Ich gebe zu bedenken, dass sie seinerzeit aufkommende Idee: Lieber rot als tot für viele Ukrainer keine Alternative darstellt (wobei die Platzhalterin "rot" vor Schamesröte vergehen muss!!!), und dass wir (Deutschen) die letzten sind, die den Ukrainern ein Recht auf Widerstand absprechen können. Schambesetzt und demütig schließe ich mich Carlo Schmid und Winston Churchill an und bekenne, dass meine Identität als Deutscher ohne den Deutschen Widerstand im Dritten Reich keinen Bestand hätte. Nachstehend wiederum eine eher akademische Erörterung der Formen passiven und aktiven Widerstands. Die Emigration wrd als eine Form passiven Widerstands gesehen. Wer käme denn für den Freund als Asylgeber in Frage? Da der Westen sich – durch Putins – Aggression geeint zeigt (Die UN haben den russischen Einmarsch in die Ukraine in einer Resolution mit überwältigender Mehrheit verurteilt), bieten sich primär China, Nordkorea, Syrien, Eritrea und Weißrussland an. Das möchte ich selbst meinem Freund des heutigen Disputs nicht zumuten. Lasst uns lieber streiten Hand in Hand in einem Land, in dem der Streit um die politische Richtung zu den grundlegenden Werten der politischen Kultur gehört – mit und ohne Parteibuch (das ich im Übrigen – entgegen der Aufforderung des Freundes – nicht zurückgeben werde).

 

Anhang:

Formen passiven und aktiven Widerstands

Ger van Roon (Widerstand im Dritten Reich, München 1979) leitet seine Untersuchungen mit einer notwendigen Unterscheidung ein, wonach beim deutschen Widerstand grundsätzlich zwei Gruppen zu unterscheiden sind: „Gruppen, welche die demokratische Weimarer Republik mit getragen hatten, und jenen, die den Untergang der Republik nicht bedauert und zunächst nichts dagegen einzuwenden gehabt hatten, einem antidemokratischen Regime zu dienen“ (van Roon 1979, S. 16). Bei der letztgenannten Gruppe entwickelte sich seiner Auffassung nach der Gedanke von der Notwendigkeit des Widerstandes langsamer. Erst als sich deutlich herauskristallisierte, dass die nationalsozialistische Machtübernahme zu einer umfassenden Gewaltherrschaft entartete, verdichteten sich auch in konservativen Kreisen Einwände zu Formen von Opposition oder gar passivem Widerstand (vgl. ebd. S. 17).

Verweis auf das Stufenmodell nach Peukert

Das Stufenmodell von Detlef Peukert lässt sich mit den Abstufungen des Widerstandsbegriffs von Ger van Roon insofern in Verbindung bringen, als es auch van Roon um die Abgrenzung eines unverbindlichen „Nonkonformismus“ von Formen des Widerstands geht. „Verweigerung“ und „Protest“ ordnet van Roon in eine Vielzahl  von Formen passiven Widerstands ein, die er von offenen aktiven Ausprägungen des Widerstands unterscheidet: "Im Dritten Reich hat es zahlreiche Formen von passivem Widerstand gegeben, der je nach Lage der Dinge und nach der Mentalität der Beteiligten variierte“ (ebd., S. 18). Er nennt die „Emigration“, die „beantragte Entlassung“, „Hilfe für Verfolgte des Regimes“, „propagandistische Aktivitäten“, den „mündlichen oder schriftlichen Protest“. Auch den „Streik“ rechnet von Roon zu den Formen passiven Widerstands und entwickelt seine Typologie hinein in Grenzbereiche zum aktiven Widerstand. Auch die „Befehlsverweigerung oder das Nichtausführen von Befehlen“ und die „Eides- und Kriegsdienstverweigerung“ subsumiert er unter Formen passiven Widerstands.

Erst eine „letzte und radikalste Phase“ in der Entwicklung des Widerstandes ist aus van Roons Sicht die des aktiven Widerstands: „Dabei wird das Regime als solches abgelehnt, und man kämpft für eine Alternative. Ein gewaltsamer Umsturz ist das kurzfristige Ziel, eine neue Regierung mit einem neuen Programm das längerfristige… dazu gehören auch die Ausführung von Attentaten und schließlich der Staatsstreich“ (ebd., S. 25).

   
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