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„Als ‚Historiker‘ wirkt Putin wie ein gelehriger Schüler Hitlers“

Heinrich August Winkler hat diesen Satz formuliert in seiner in der ZEIT (11/22, S. 8) veröffentlichten Analyse „Was Putin mit Hitler verbindet“. Gerd Koenen ruft im SPIEGEL (10/22, S. 68/69) „Das Ende unserer moralischen Komfortzone“ aus. Ich nutze beider Argumentation um mich mit Bauchschmerzen und mit Bitterkeit jenem „grellen Blitz der Erkenntnis“ auszusetzen, der – so Gerd Koenen – „in der Mitte der bundesdeutschen Öffentlichkeit und des Berliner Parlaments eingeschlagen hat“.

Wenden wir uns zunächst einmal Heinrich August Winkler zu, dem sicherlich eine Sonderstellung in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts zukommt. Sein Wort hat Gewicht und sollte nicht vorschnell von einer friedensbewegten Geste hinweg gewischt werden. Winkler beschreibt in einem ersten Schritt „die Analogie des Vorgehens“ (mit Blick auf Hitler und Putin) und nennt sie „schlagend“.

„Und nicht nur die Taten ähneln sich, sondern auch die Worte. Die Tiraden, die Putin gegen die ‚Drogensüchtigen‘ und ‚Neonazis‘ in Kiew mit dem (jüdischen) Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an der Spitze richtet, finden ihre Entsprechung in den hemmungslosen Beschimpfungen, mit denen der deutsche Dikator im September 1938 die Prager Regierung unter Präsident Edvard Benes überhäufte.“

Die nun folgenden Einordnungen verlangen uns zumindest einmal ein kurzes Innehalten ab, insofern die „ultranationalistische“ Grundgesinnung in ihren aberwitzigen Legitimationsanstrengungen eben auch eine verblüffende Analogie aufweisen: Hitler – so Winkler – berief sich auf den besonderen Rang des >alten deutschen Reiches<, also der Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, zu dem eben jahrhundertelang auch Böhmen und Mähren gehört hatten. Winkler argumentiert, wenn Putin heute für die eurasische Großmacht Russland eine Einflusszone reklamiere, in der westliche Mächte, aber letztlich auch die Vereinigten Staaten nichts zu suchen hätten, mache er dafür ähnliche Gründe geltend wie Hitler vor acht Jahrzehnten. Hitler hatte sich seinerzeit auf die Monroe-Doktrin aus dem Jahr 1823 berufen, wonach sich europäische Mächte nicht in die Angelegenheiten Nord-, Mittel- und Südamerikas einzumischen hätten. Winkler erwähnt weiterhin Carl Schmitt, der als Jurist den deutschen Herrschaftsanspruch gegenüber den Tschechen mit „den besonderen Rechten“ legitimiert, die sich daraus ableiten ließen, dass Deutschland kein „gewöhnlicher Nationalstaat sei, sondern von alters her ein >Reich<, ja das Reich schlechthin.“

Wladimir Putin hat offenkundig im Juli 2021 auf Russisch und Ukrainisch einen Aufsatz veröffentlicht „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“. Auch er versteigt sich bis ins Mittelalter, „um seine These von den gemeinsamen Ursprüngen und der weithin gemeinsamen Geschichte von Russen, Ukrainern und Belarussen zu begründen“. Am Ende seiner Ausführungen äußert Putin die Überzeugung, „dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann“. Heinrich August Winkler kommentiert diese Aussicht sarkastisch mit der Bemerkung:

Spätestens seit dem 24. Februar 2022 weiß man, was Putin unter ‚Partnerschaft‘ und ‚echter Souveränität‘ versteht.“

Zur Osterweiterung der Nato stellt Winkler unmissverständlich fest, dass das von Putin seit 2008 reklamierte Versprechen, die Nato nicht über die deutsche Ostgrenze hinaus auszudehnen, nicht gibt! „Die Helsinki-Schlussakte von 1975 und die Charta von Paris von November 1990, zwei auch von der Sowjetunion unterzeichnete internationale Verträge, verbürgten allen Unterzeichnerstaaten das Recht auf freie Bündniswahl.“ Auch im Nachgang des Bukarester Nato-Gipfels von 2008 war das zentrale Ergebnis, dass eine weitere Ostausdehnung der Nato auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. In diesem Zusammenhang muss unbedingt die seinerzeitige Intervention Sarkozys und Merkels Erwähnung finden. Winkler fasst sie folgendermaßen zusammen:

„Sarkozy und Merkel machten zu Recht einen Unterschied zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine auf der einen und den baltischen Republiken auf der anderen Seite. Die souveränen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren 1940 im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion annektiert worden: ein von den Westmächten niemals anerkannter Völkerrechtsbruch.“

Heinrich August Winkler geht sogar mit Blick auf die Ukraine soweit, zu behaupten: „Wenn der Westen in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges ein Land getäuscht hat, war es nicht Russland, sondern die Ukraine.“ In einer extrem knappen Analyse der Bedingungen und Konstellationen, die zur gegenwärtigen Situation führten, kommt Winkler zu einem nüchternen Resümee:

„Der Westen hat die offene Situation nach der Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991 genutzt, um seinem Bekenntnis zur Selbstbestimmungsrecht der Völker Taten folgen zu lassen. Er hat sein Verteidigungsbündnis für demokratische Staaten geöffnet, für die die überwiegend friedlichen Revolutionen von 1989/90 vor allem eines bedeuteten: die Abschüttelung des Jochs von Jalta, der Beschlüsse jener Konferenz vom Februar 1945, mit denen die Sieger der Zweiten Weltkriegs Europa in einen freien und in einen unfreien Teil spalteten.“

Heinrich August Winkler spezifiziert in der Folge, was denn eine verantwortungsethische Politik im Sinne Max Webers bedeuten könne und verweist darauf, dass sich eine solche Politik immer auch um die Berücksichtigung historischer Erfahrungen bemühen müsse:

„Zu diesen gehören, auch wenn man gegenüber historischen Analogien vorsichtig sein muss, die fatalen Folgen der Unterschätzung der Aggressivität Hitlers durch die Westmächte in den Jahren vor 1939.“

So sei es eben eine Illusion gewesen, wenn viele „Westler“ und nicht zuletzt viele Deutsche nach dem Fall der Mauer der Auffassung folgten, fortan würden „uns“, das heißt der westlichen Welt, existentielle Herausforderungen erspart bleiben: „Putin konfrontiert die westlichen Demokratien mit der Frage, wie ernst sie ihre viel beschworenen Werte nehmen.“

Es fällt mir schwer, jenen noch ein Ohr zu geben, die – wie ich – als die Profiteure der sogenannten Friedensrendite mehr als 70 Jahre Frieden in Westeuropa erleben durften; jenen, die dann friedensbewegt um keinen Preis erkennen mögen, wie sehr sie – realpolitisch betrachtet – ihren stets warmen Arsch durch unsere Komfortzone bewegen, die sich (und diese Erkenntnis schmerzt enorm) einem Gleichgewicht des Schreckens verdankt. Man möge doch in den Blick nehmen, was Heinrich August Winkler in Aussicht stellt und dennoch an ein seidenes Hoffnungsfädchen knüpft:

„Niemand weiß, ob er (Putin) inzwischen so sehr zum nihilistischen Desperado geworden ist und sich wie andere radikale Nationalisten vor ihm so stark in eine Opferrolle hineingesteigert hat, dass er bereit ist, auch den letzten Preis seiner nationalistischen Verblendung zu zahlen: das Risiko einer nuklearen Katastrophe für sein eigenes Land. Der extremste aller Ultranationalisten ist diesen Weg in den Untergang 1945 gegangen.“

Winkler äußert Hoffnung, dass es so viel Vernunft in Putins Moskau noch gebe, um sich klarzumachen, dass der Westen heute nicht mehr der von 1938 ist: „dem Jahr der Münchner Konferenz, auf der Großbritannien und Frankreich durch Willfährigkeit gegenüber Hitler den Frieden retten zu können meinten“.

Es ist müßig, ob ohne die Appeasement-Politik (Beschwichtigungspolitik, von englisch to appease –  eine Politik der Zugeständnisse, der Zurückhaltung, der Beschwichtigung und des Entgegenkommens gegenüber Aggressionen zur Vermeidung eines Krieges), also die Politik der britischen und französischen Regierung gegenüber Nazi-Deutschland die etwa 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs (einschließlich des industriellen Massenmords an den Juden) hätten verhindert werden können. Nur eines dürfte in der Analogie dann doch deutlich werden: Ohne den geringsten Widerstand (sieht man von der von Putin der Ukraine unmittelbar aufgezwungenen Aggression und dem Widerstand der Ukraine einmal ab), wie er gegenwärtig durch die westlichen Sanktionen mobilisiert wird, wäre ein Ultranationalist wie Putin, der offenkundig von einem status quo ante träumt, nicht ansatzweise zu bremsen.

Auch Gerd Koenen steht einigermaßen fassungslos vor der ungeheuren Chuzpe, mit der Putin und Lawrow sich in Nazi-Analogien begeben:

„‘Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen‘ – also jener lügnerische Satz Hitlers, der am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg eröffnete. Bis vor Kurzen hätte sich vielleicht niemand getraut, dieses Wort des deutschen Gröfaz mit der irren Rede Putins drei Tage vor dem Einmarsch und einer zweiten, noch irreren Rede parallel zu setzen, als er von einer ‚Nazi-Junta‘ in Kiew faselte, die im Auftrag der Nato einen ‚Blitzkrieg‘ (er verwendete das deutsche Wort) vorbereitet habe, um einen ‚Genozid an vier Millionen Menschen‘ zu vollenden.“

Es mag umso bitterer – und eben für viele provokativ – wirken, wenn Gerd Koenen auf einen Zusammenhang aufmerksam macht, der uns Deutschen schwer zu schaffen macht. Denn er ist der Auffassung, dass es auch unmittelbar nach Beginn der Invasion noch durchaus unklar gewesen sei, ob allein diese Invasion genügt hätte, um den (erwähnten) Erkenntnisblitz „im Gros der deutschen Öffentlichkeit und Politik zu zünden“.

„Wäre Putins Kriegsplan aufgegangen, die russische Armee nach kurzem Widerstand in Kiew eingezogen und sein Gegenspieler Selenskyj im amerikanischen Hubschrauber (wie angeboten) davongeflogen – wer weiß, ob nicht allgemeine Erleichterung ausgebrochen wäre und ‚gerade wir Deutschen‘ uns wieder berufen gefühlt hätten, den ‚Gesprächsfaden mit Moskau‘ ins Endlose weiterzuspinnen. Erst die todesmutige und erstaunlich wirkungsvolle Gegenwehr der ukrainischen Armee hat diese Rechnung (Putins Rechnung) durchkreuzt. Und mehr noch haben das vermutlich die Bilder der zahllosen jungen und älteren Männer und Frauen getan, die sich in den Rekrutierungsbüros melden, Molotowcocktails und Straßensperren bauen oder – wie in Prag 1968 – den verwirrten Invasoren mit bloßen Händen entgegentreten, statt ihnen zuzujubeln, wie offenbar in Moskau erwartet wurde.“

Gerd Koenen hebt gleichwohl den fundamentalen Lernprozess Deutschlands einerseits und die neoimperialen Weltmachtphantasien Putins andererseits als galaktischen Unterschied hervor. Er bedeutet nichts anderes als das Bekenntnis zu einen zivilisatorischen Minimum auf beachtlichem Niveau. Die daraus unter anderem von Koenen gezogenen Schlussfolgerungen bedeuten gleichwohl eine Provokation für alle, die aus einer pazifistischen Grundhaltung heraus argumentieren:

„Jetzt ist die deutsche Öffentlichkeit also, buchstäblich über Nacht, umgeschwenkt – als letzte und sehr spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Die Bundestagsentschließung vom 27. Februar bedeutet eine epochale Veränderung der Rolle und Stellung der Bundesrepublik in Europa, in der Allianz, in der Welt. Und siehe da, nirgends in unseren Nachbarländern hat diese ‚zweite Wiederbewaffnung‘ der vereinigten Bundesrepublik Furcht geweckt, sondern im Gegenteil für starke Erleichterung gesorgt. Während Russlands neoimperiale Weltmachtphantasien so oder so auf ein tragisches Debakel zusteuern und jetzt einem moralischen Offenbarungseid gleichkommen, haben sich auch alle postnationalen Größenfantasien auf deutscher Seite erledigt, die mit diesen Ambitionen auf eine scheinbar hochmoralische und geschichtsbewusste, tatsächlich aber äußerst trübe Weise (Hervorhebung, FJWR) verbunden gewesen sind.“

Das ist ein Brocken, an dem wir friedensbewegten Teilnehmer der Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss schwer zu kauen haben. Koenen skizziert die deutsche Haltung einer Appeasement-Politik freilich verbunden mit einer äußerst geschäftsbewussten und –tüchtigen Haltung recht drastisch, indem er betont, dass inmitten dieser trüben Suppe seit Jahren ein Ex-Kanzler schwimmt, „der gerade auftragsgemäß dabei war, die Verträge für Nord Stream 2 einzufädeln – ganz im Sinne der offiziellen deutschen Außenpolitik einer ‚Annäherung durch Verflechtung‘.“

Und nun bleibt uns zunächst nichts anderes, als uns zu folgenden Vorwürfen zu positionieren:

„Aber was im Gewand einer feierlichen ‚Nie wieder‘-Rhetorik und gespickt mit ‚Lehren aus der Geschichte‘ daherkam, und zwar genau in dem Moment, als für alle Welt sichtbar ‚wieder Krieg in Europa‘ war, das war neben robustem Geschäftssinn eben auch eine versteckte Größenfantasie. Sie verbirgt sich genau in der Formel ‚Gerade wir als Deutsche…‘, die bis heute präsidiale Reden gewohnheitsmäßig schmückt und scheinbar genau das Gegenteil signalisiert: eine historisch erworbenen Selbstbescheidung und postnationale Verantwortungsethik. Aus ihr soll sich dann auch unser ‚besonderes‘ Verständnis für die ebenfalls ‚besonderen‘ Sicherheitsbedürfnisse Russlands herleiten, welche gleich hinter den zur Staatsraison erhobenen Sicherheitsinteressen Israels rangieren. Dieser deutsche ‚Schuldkomplex‘, von dem polemisch oder auch anerkennend gesprochen wird, ist aber keineswegs so übergroß, wie er aussieht. Im Gegenteil: Er ist auf ein moralisch und politisch gut handhabbares, um nicht zu sagen recht komfortables Set ritueller Formeln reduziert, die eine lebendige historische Selbstaufklärung und den überfälligen Abgleich der widersprüchlichen europäischen Erfahrungen und Geschichtserzählungen eher behindern.“

Und es kommt noch klarer und noch härter, wenn es darum geht historische Schuld mit einer aktuellen verantwortungsethischen Politik abzugleichen:

„Die gar nicht zu tilgende historische Hauptschuld Deutschlands (ich scheue diesen Begriff keineswegs) war die gewollte, durch nichts und niemanden erzwungene Eröffnung des Zweiten Weltkriegs  im Jahre 1939, der von Beginn an als ein Eroberungs-, Versklavungs- und Ausrottungskrieg angelegt wurde – zuerst gegen Polen.“

Und die zu lernende Geschichtslektion mit Blick auf die Putinschen Größen- und Allmachtsphantasien zwingt uns zu einem nüchternen Blick auf das, was auch die Sowjetunion in ihren Grenzen vor ihrem Zerfall ausgemacht hat. Lassen wir diesen Blick zu, dann verflüchtigen sich die geopolitischen Sicherheitsinteressen des heutigen Russlands zu einem einzigen historisch belegbaren Nationen- und Landfraß, der sich zu guten Teilen eben auch deutscher Hybris verdankt:

„Gerade der unbedingte Eroberungswillen Hitlers, der vom Gros der deutschen Gesellschaft aktiv oder passiv getragen wurde, hat es auch der Sowjetunion Stalins erst ermöglicht, in loser, aber aktiver Kollaboration mit dem Deutschen Reich im Sommer 1939 ihren eigenen Krieg zur Annexion Ost-Mitteleuropas zu führen. Mehr noch: Moskau hat die deutsche Kriegsmaschine bei ihren Eroberungszügen nach Westen und nach Süden absichtsvoll gefüttert, weil Hitler, wie Stalin seinem Komintern-Chef Dimitroff eine Woche nach Kriegsbeginn sagte, ‚gute Dienste bei der Zerschlagung des Weltkapitalismus‘ leiste und auch bei der Wiedergewinnung historischer Gebiete für die Sowjetunion.“

Umso perfider muss uns Deutschen Putins Vorgehen erscheinen. Er beansprucht Gebiete – ganz in der Spur Stalins (den er als Wahrer und Mehrer des Imperiums – wie Koenen betont – ausdrücklich rehabilitiert hat) – als „legitime Sicherheitssphäre“, die im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion besetzt worden sind: „Dazu zählen die 1939 und 1940 annektierten Gebiete der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens, die baltischen Republiken und Finnland, das nach unerwartet heftiger Gegenwehr teilamputiert und ‚finnlandisiert‘ wurde.“

Und Koenen legt den Finger weiter in diese offenen Wunden einer imperialistischen sowjetischen Politik:

„Man muss weder Historiker noch Osteuropäer sein, um zu bemerken, dass die von Putin gezeichneten ‚roten Linien‘ ziemlich genau der Teilungslinie entsprechen, die Stalin, Molotow und Ribbentrop im August 1939 mit fettem blauem und rotem Stift auf der Karte des östlichen Europa eingezeichnet und signiert haben.“

Ähnlich wie Heinrich August Winkler folgert auch Gerd Koenen, dass Putin jetzt in perverser Verkehrung  eine neue Kriegsbereitschaft züchte, die von absurden Bedrohungsszenarien und Feindbildkonstruktionen lebe. Das aktuelle Bild der russischen Gesellschaft nimmt auf diesem Hintergrund äußerst desaströs aus. Die Rede ist hier nicht davon, dass Putin ja nicht nur – wie Winkler meint – als gelehriger Schüler Hitlers erscheint, sondern dass der tönerne Koloss, dem er vorsitzt, nach innen zunehmend vom Instrumentarium Stalinschen Terrors lebt: Gleichschaltung von allem, was Meinung macht, Wegschließen und Ausschalten von allem, was nach Opposition riecht, die Rede ist vielmehr – wie Koenen meint – von einem Land als ein „Raum ohne Volk“. So sollen die abstrusen Feindbilder kompensieren, was dieses „immense, nach innen schrumpfende, nach außen expandierende Land nicht mehr hergibt, zwar reich an fossilen Energien und Rohstoffen sowie an hochgezüchtetem Militärgerät, aber arm an lebendiger sozialer Energie und an ökonomischer und wissenschaftlicher Innovationskraft“.

Aus all dem leitet Gerd Koenen seinen Schlussakkord ab:

„‘Gerade wir als Deutsche‘ sollten aufhören, den putinistischen Ideologen dabei auch nur den kleinen Finger zu reichen. Als ein zentrales und starkes, aber stinknormales europäisches Land sind wir gefordert, den Ukrainern wie allen anderen Bedrohten beizustehen und uns an den jetzt notwendigen Verteidigungs- und Eindämmungsmaßnahmen zu beteiligen.“

Ich wiederhole mit Gerd Koenen: Wir sollten all dies tun in der inständigen Hoffnung, dass vielleicht der Abschied vom russischen Imperium gerade in diesem  Moment schon begonnen hat.


Heinrich August Winkler zur Leistungsfähigkeit und zu den erforderlichen fiskalischen und umverteilungsspezifischen Erfordernissen in Corona-Deutschland (Auszug aus dem  weiter oben verlinkten Wikipedia-Beitrag:

"Angesichts der Coronakrise im Frühjahr 2020 hält es Winkler für illusorisch zu meinen, die Folgelasten seien allein durch neue Schulden zu meistern. Deutschland werde um eine 'Umverteilung großen Stils', einen Lastenausgleich zwischen den von den materiellen Folgen weniger Betroffenen und den in ihrer beruflichen Existenz Gefährdeten, nicht herumkommen. Diese Umverteilung werde den historischen Lastenausgleich zugunsten der Heimatvertriebenen und Ausgebombten nach dem Zweiten Weltkrieg weit übertreffen. 'Möglicherweise werden die Kosten, die auf Deutschland zukommen, auch noch höher sein als die der deutschen Einheit nach 1990.' Im Rahmen der Europäischen Union fordert der Historiker, dass die wirtschaftlich stärkeren Staaten den wirtschaftlich schwächeren 'Hilfe zur Selbsthilfe' leisten."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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