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Peter Härtling: O’BÄR AN ENKEL SAMUEL IV

Eine Erzählung mit fünf Briefen (P.H. im Interview) (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008)

Der vierte Brief (hier gehts zum dritten Brief) – im Buch ist es der fünfte Brief

Ostern gerät zum Wendepunkt in der Schlüsselbeziehung zwischen O’BÄR und dem Kleinen Herrn. Die Familie trifft sich zum Osterfest bei den Großeltern, und das Fest gerät zu einer kleinen Katastrophe. Sechs quirlige Enkelkinder machen ordentlich Betrieb, und die Eltern ereifern sich über die Fülle der Geschenke mit dem Tenor, allmählich übertreffe Ostern Weihnachten. Da entsteht plötzlich ein logistisches Zuordnungschaos zum Beispiel mit der Frage, ob überhaupt darauf geachtet worden sei, dass sich die Namensschilder nicht von den Verpackungen lösten – „und am Kindertisch wurde von den Älteren, nicht ohne Zweifel an seiner Existenz, der Osterhase durch den Garten gescheucht und ihm alle Erwartungen und Wünsche aufgeladen“.

Samuel – der Kleine Herr – und sein Cousin Paul, die beiden Jüngsten „selbstverständlich Analphabeten, konnten nicht, wie die Älteren, die Namensschilder auf ihren Päckchen lesen und rissen in versteckten Nischen die Verpackung auf, um das Geschenk auf die persönliche Tauglichkeit zu prüfen. Die Beschenkten wiederum brachten die beschädigten Packungen mit Geheul den Eltern zur Ansicht, und sogleich erhob sich die Frage nach dem Schuldigen: Paul? Samuel? Beide traten, vereint betreten, vor. Sie hätten doch ihre Namen nicht lesen können. ‚Du kannst doch deinen Namen schon schreiben‘, womit beide gemeint waren, und beide antworteten aus einem Mund: ‚Aber nicht lesen.‘“

Da passt im Cousinen-Cousin-Gequirl nicht zusammen, was zusammen gehört. Vollends aus den Fugen gerät das Osterfest, als Line – Samuels Mutter - auf einmal ruft: „Wer hat Samuel gesehen? Er ist verschwunden!“ Da macht nicht nur O’Bärs Herz einen Satz. Offenkundig hat niemand bemerkt, wie der Kleine Herr den Garten verließ. Weber – die Kunstfigur Härtlings, seines Zeichens O’Bär spürt, wie Angst und Ratlosigkeit seine Gedanken in Beschlag nehmen. Seine Frau, Grete bedrängt ihn: „Sie hob die Schultern, fragend und verzweifelt: ‚Du gehst so oft mit dem Kleinen Herrn spazieren. Du weißt doch, wo es ihn hinzieht.‘“ Alle schwärmen aus, kehren zurück – erfolglos. Dann meint Line, Samuels Mutter, er sei bestimmt ICEs gucken (der Schock springt aus dem Buch – sofort stellen sich (bei mir - FJWR) Erinnerungen ein, die sich mit dem tragischen Tod eines Dreijährigen vor mehr als dreißig Jahren verbinden – der Junge hatte ein Loch im Gartenzaun entdeckt und war auf die unmittelbar dahinter liegenden Bahngleise gelaufen). In Weber macht sich der Schrecken breit, unbeweglich wie er geworden ist, muss er sich vor Erschöpfung hinlegen. Er sinniert – ihm kommt in Erinnerung, was ihm Samuels Wortschöpfung „alleinde“ bedeutet, dass er einen solchen Narren an dem Kerlchen gefressen hat. Er wird sich gewiss, dass er mit Samuel entdeckt, wie er anfangen könnte. Dann die Erlösung:

„Sie war von Weitem zu hören: Die Klage des eingefangenen Helden, sein Geschrei. Hannah auf dem Einrad meldete das Glück: ‚Wir haben den Samuel gefunden. Jetzt weint er.‘“

Und O’Bär? „Weber wollte ihn auf den Arm nehmen und trösten und warnte sich sogleich, er könnte den Halt verlieren und mit ihm hinstürzen, aber Samuel war schon bei ihm, umklammerte seine Beine: ‚O’Bär‘ und ersparte seinem Großvater, sich bücken zu müssen.“

In der Folge bedenken sich O’Bär und der Kleiner Herr in wechselseitiger Fürsorge, man könnte die Schilderungen mit Peter Fuchs auf den Punkt bringen und von einer wechselseitigen Berücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz sprechen. Dann der Abschied:

„Der Kleine Herr hatte ‚Tschüss‘ gerufen, schon routiniert in Abschieden – ‚Gib dem Opa noch einen Kuss‘ -, er hatte gewartet, bis der Großvater auf der Bank vor der Hütte Platz nahm, bereit, umarmt zu werden: ‚Tschüss, O’Bär‘.“

Peter Härtling muss die Kunstfigur Weber erfinden, um wieder zur Sprache zu kommen. Ihm reichen keine Aufzeichnungen, meinetwegen im Tagebuch oder in irgendwelchen Kladden. Er steht – oder besser – er setzt sich unter Erwartungsdruck. Darüber kann man sehr zwiegespalten sein. Eine Legitimation für sein Vorgehen fasst er folgendermaßen zusammen:

„Zum ersten Mal seit Langem drängte es ihn, einige Notizen zu schreiben, Gedanken festzuhalten, die ihm der Kleine Herr gemacht hatte. Er musste den Dreijährigen in sich entdecken, Entsprechungen finden und festhalten, die Beschreibung eines Parallelverhaltens versuchen. Er musste sich als Dreijähriger an diesem Dreijährigen messen, der ihm so wohltat.“

Peter Härtling hat uns in Nachgetragene Liebe tiefe Einblicke in seine Kindheitserinnerungen gestattet. Und ich gestatte mir – statt Weber zu folgen – noch einmal in der Nachgetragenen Liebe zu schürfen, um verstehen zu können, warum O’Bär einen solchen Narren an dem Kleinen Herrn gefressen hat, ihn so liebevoll in sein Herz schließt.

„Ich bin fünf. Ich bin mit meinem Dreirad unterwegs zwischen Hartmannsdorf und Burgstädt, doch meine Phantasie traut sich die Ferne nicht mehr zu. Ich will gestreichelt und umarmt werden. Ich höre das Auto, die Hupe stößt mich in den Rücken, scheucht mich an den Rand. Meistens trug er graue Anzüge, wattierte Zweireiher, die seine Schulten auseinanderzogen, ihn noch schwerer erscheinen ließen, als er war. In einem grauen Anzug steigt er aus dem Auto, richtet sich auf, geht auf das Kind zu, das sich über den Lenker beugt, kein Wort über die Lippen bringt, packt es wie ein Karnickel, reißt es hoch, schleppt es, zusammen mit dem Dreirad, zum Wagen. Beides verstaut er im Fond, setzt sich neben den Fahrer, sagt kein Wort, schüttelt nicht den Kopf, murmelt nichts, schimpft nicht. Als der Wagen vor dem Haus anhält, wendet er sich endlich um. Sein Gesicht ist noch größer und runder als sonst. Er sagt: Steig aus und entschuldige dich bei deiner Mutter. Er kehrt dem Kind schon wieder den Rücken zu, eine graue, vorwurfsvolle Falte unter dem braunen Nacken und dem schwarzen, glattgekämmten Haar (9 - Hervorhebungen FJWR).“

Die Differenz kann nicht größer sein, Erwartung und Erleben offenbaren eine galaktische Differenz. Peter Härtling sieht sich außerstande, zwischen sich und seinem Rädchen zu unterscheiden: „Beides verstaut er im Fond…“ Der kleine Peter mutiert zu einer blutleeren Sache, abgelegt im Fond und abgestraft durch einen mit brachialer Gewalt schweigenden Vater:

„Ich kann mir deine stumme Strenge nicht erklären, Vater. Warum hast du mich nicht ausgeschimpft? Warum hast du deinen Zorn nicht gezeigt oder die Freude mich gefunden zu haben. Warum hast du nicht gesagt: Mutter und ich, wir haben uns sehr um dich gesorgt, und nicht gefragt: Wo wolltest du denn mit deinem Dreirad hin? Warum hast du damals dein Schweigen begonnen und es so gut wie nie gebrochen (9f.)?“

Springen wir von 1938 zurück in das Jahr 2007. Für den Kleinen Herrn kündigt sich ein Geschwisterkind an und seine Oma meint zu seinem Großvater – O’Bär:

„Und du wirst nicht mehr an diesem närrischen Beziehungsspiel mit dem Kleinen Herrn festhalten können.“

Wir gelangen nun zum Kern – zum absoluten Gravitationszentrum diese kleinen Büchleins: Weber – O’Bär – Peter Härtling antwortet seiner Frau:

„Ich habe doch mehr von ihm gelernt, als ich erhoffte. Ich muss ihm noch einen Brief schreiben, den letzten.“

Seine Frau antwortet:

„Wie sich das anhört. Was soll Samuel mit diesen Briefen anfangen? Stell dir vor, er liest sie mit fünfzehn. Was schert einen Jungen in diesem Alter das Kind, das er gewesen ist? Womöglich schämt er sich für den Kleinen Herrn.“

Und Peter Härtling?

"Das kann er nicht. Denn er wird anders angesprochen, er ist mit seinem Großvater auf einer schwierigen Strecke unterwegs. Nach Jahren wird er diese Briefe als Botschaft, als Dank und Erklärung für eine unerklärliche Nähe verstehen. Eine Nähe in Wörtern.“

An dieser Stelle werde ich für meinen Teil – ganz zum Schluss – Peter Härtling widersprechen, ihn zumindest ergänzen. Aber immerhin: Der Kleine Herr hat ihm dazu verholfen die Wortlosigkeit aufzubrechen, die seinen Alltag lähmt.

Noch eine kleine Kostprobe vor dem letzten Brief – ein Telefonat zwischen O’Bär und dem Kleinen Herrn und das anschließende Gespräch der Großeltern:

>„Hallo, Samuel! Was treibst du gerade?“
„O’Bär.“ Er reagierte nicht auf Webers Frage.
„Meine Mama sagt, du bist krank. Du musst aber bald gesund sein, bis wir wiederkommen. Und unbedingt musst du Medusin nehmen.“
„Medusin?“
„Ja. Medusin. Zum Gesundwerden.“
„Und was hast du gespielt?“
„Der Jesse ist da.“
„Macht ihr Quatsch?“
„Ja.“ Er lacht und fängt an zu singen.
„Medusin. Hast du gehört, Grete? Er sagt Medusin.“

„Dir wird zu diesem Samuelischen Wortfund bestimmt wieder eine triftige Erklärung einfallen. Ich finde Medusin übrigens auch hübsch. Das klingt heilsamer als Medizin und lässt sich leichter schlucken.“
„Ganz in meinem Sinn. Medusin, ein Medusensubstrat. Rasch wirksam.“
„Ganz im Sinne des Kleinen Herrn, der nicht weiß, was er für eine Rolle spielt.“
„Wenn er wüsste, wie er uns beschäftigt, wie wir über ihn reden.“
„Das ist eine müßige Frage. Er verstünde uns nicht.“
„Noch bin ich O’Bär“, sagte Weber, ohne diese kryptische Anmerkung zu erläutern.<

Uns Alten – uns Großeltern – kommt da nichts kryptisch vor. Und Peter Härtling lässt seinen Weber den Schleier des Kryptischen lüften, indem er ihn nachsinnen und sagen lässt:

„Er redete (mit Samuel) – dem Erfinder einer Medusin, die mit keiner Nachwirkung drohte, über einen Widersinn, der ihm zu schaffen machte: Dass die Zeit nämlich viel rascher verflog als noch in den Jahren zuvor und dass der Raum, den er noch vor Jahren ohne jeden Widerstand durchmessen hatte, jetzt nur noch mit kleinen Schritten zu bewältigen war. So hatten sich Raum und Zeit verändert, und seine Vorstellung von seinem Befinden und seiner Bewegung auch. Darüber ließe sich vielleicht schreiben, auch anderen zur Erklärung und zum Trost.“

Noch bin ich O’Bär. Ja, es ist beides zugleich: Ein spätes zur Welt kommen, indem Peter Härtling wieder zur Sprache kommt! Und es ist die abschiedliche Perspektive zu wissen, das O’Bär verschwinden wird und sich wandeln wird – hoffentlich zu einer lebendigen, nachhaltigen Erinnerung und einem lebenslangen Wärmespender!

Der letzte Brief:

„Mein lieber Kleiner Herr, liebster Samuel,
ich schreibe Dir das Datum auf, an dem Du das für uns beide so entscheidende Imsepene-Lied sangst: Juni 2007. Du begannst mit dem Beschwörungswort: Imsepene, wiederholtest es, als stecktest Du bereits im Refrain des Lieds, zogst die Schultern hoch, krümmtest Dich, und Deine Stimme färbte sich vor Qual. Imsepene – eine Aztekenkönigin?, fragte ich mich. Nur, wie kommt eine Kindergärtnerin darauf, den Zwergen ein Aztekenlied beizubringen? Danach klangen, nach der angestrengten Nennung von Imsepene, ein paar Wörter auf, die stimmten, aber nicht verstanden werden konnten: ‚lecker Regen auf‘. Du griffst mit den Händen in die Luft, schienst den Regen stimulieren zu wollen, rührtest die Hände heftig und klatschtest schließlich auf den Tisch: Imsepense, Fam riss.‘ Deine Mama, um der mystischen Angelegenheit auf den Grund zu kommen, verlangte eine Wiederholung. Sie drängte, sie spornte Dich an. Imsepene schüttelte Dich, Du patschest noch einmal auf den Tisch, fuhrst mit beiden Händen steil nach oben, als wolltest Du Imsepene um Schutz anrufen, und wandtest Dich schließlich Deinem unsichtbaren Papa zu, wagtest ein verständiges Lachen und sagtest: ‚Kamera‘. Deine Mama erkundigte sich den Tag darauf im Kindergarten nach dem Text. Der verblüffte sie und uns: ‚Imse, bimse, Spinne, wie lang Dein Faden ist.‘ (Die Kinder werden aufgefordert mit beiden Händen die Bewegung der Spinne nach oben zu verfolgen und vorzumachen.) ‚Fällt herab der Regen, und der Faden riss.‘ (Darum die tropfende Bewegung der Hände und ihr heftiges dramatisches Auseinandergehen.) ‚Kommt die liebe Sonne, trocknet den Regen auf.‘ (Daraus, aus den zum Himmel gereckten Armen, die nach der Sonne suchen, las ich die Anbetung der Aztekenkönigin Imsepene. Nach oben klettert auch – göttlich und wirklich – die gerettete Imsepene, die Imse-bimse-Spinne.)
Das Video, das uns Alte so erheitert, hält aber auch Deine außerordentliche Anstrengung fest. Sie verändert Dein ganzes Wesen. Du torkelst gleichsam zwischen der Sprache, die zu dem Lied gehört, und die Dir so unverständlich ist, und Deiner Sprache. Es ist eine Metasprache, sie kommt aus einem Gedächtnis, das noch von Zusammenhängen erfüllt ist und plötzlich aus ihnen fällt. Imsepene.
Liebster Samuel, verzeih mir, ich bin allzu theoretisch geworden. Aber Du hast mich mit dieser Vorstellung gleichsam erlöst, denn mir wurde klar, dass mein Imsepene einen anderen Grund hat. Ich war der Sätze überdrüssig geworden. Mit Dir unterwegs fasste ich wieder Vertrauen zu Wörtern, mein Kleiner Herr. Ich werde mir noch einmal, wie zum Abschied, Dein Imsepene angucken, zugeneigt und mit einem unterdrückten Lachen. Denn wie kann ich jemand auslachen, der mir so spielend hilft. Ich umarme Dich, mein Kleiner Herr, und freue mich, Dich bald wiederzusehen, vielleicht mit Deiner Schwester (das haben die Ärzte nun Deinen Eltern verraten) -
Dein O’Bär

Eine Liebe, für die es (eigentlich keine Wörter gibt!?)

Nein, nein Peter Härtling - nicht nur eine Nähe in Wörtern. Du alter, kranker, unbeweglicher Mann - musst Dich nicht bücken, der Kleine Herr fasst Dich um die Beine, deckt Dich zu - liebt Dich auf seine Weise, so wie Du ihn; mit allen Sinnen - das ist nicht nur eine Nähe in Wörtern!

Und jetzt sitze ich hier, höre Van Morrison und beweine unser aller Endlichkeit - es gibt noch was zu lernen(:-)) Nix mitnehma von Georg Ringsgwandl meint ja nicht nur Materielles(:-(

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund