Familie-soziologisch-therapeutisch-alltäglich
In die neue Rubrik des ZEIT-Magazins Was ich gern früher gewusst hätte schau ich sporadisch hinein. Ian Mc Ewan hat mich beeindruckt, aber vermutlich nur, weil ich ähnlich denke und fühle wie er. Im aktuellen ZEIT-Magazin hat Marina Abramovic Gelegenheit uns ihre Erkenntnisse mitzuteilen. Die ersten beiden Auslassungen lauten:
"Du kannst die Familie, in die du heineingeboren wurdest, hinter dir lassen" bzw.
"Die wahre Familie ist die, die du dir selbst schaffst".
Es stehen auf dieser Seite einige durchaus bedenkenswerte Anregungen. Und man mag mit der 1946 geborenen, weltweit aktiven und aufgrund ihrer aufsehenerregenden Performances beachteten Künstlerin Nachsicht üben, ihr meinetwegen eine gewisse Altersblindheit zugestehen. Und es kommt eben nicht von ungefähr, dass Marina Abramovic wenige Zeilen später meint:
"Physische Schmerzen zu ertragen und sie zu überwinden ist verhältnismäßig leicht, psychische Schmerzen sind eine weitaus größere Herausforderung."
Ja, Marina Abramovic, den Schmerz und den Umgang mit Schmerz - mit psychischen Schmerzerfahrungen - tragen Sie in die Welt. Um Himmels Willen - warum? Woher? Wohin? Die, die da ihre Familie selbst schafft, schafft ja nicht auf einer tabula rasa. Und es lässt sich vermuten, dass in den irrsinnigen physischen Schmerz demonstrierenden Performances merkwürdig-abstruse Akte der Eigenbluttherapie in Erscheinung treten. Aber der malträtierte Leib und die darunter zu vermutende malträtierte Seele sind ja nicht weg. Sie erfahren meinetwegen eine gewaltige Metamorphose. Das heißt schlicht: All diejenigen - verehrte Frau Abramovic, die sie mit ihrem (kreativen) Schaffensakt in eine wahlverwandtschaftlich begründete und legitimierte Familie einladen, stoßen auf eine Marina Abramovic, die - so ganz und gar geprägt, meinetwegen geschunden und geläutert daherkommt aufgrund ihrer nie aufhebbaren, nie zu löschenden familialen (Anlage und Umwelt gleichermaßen geschuldeten) Prägung.
Und ich selbst neige dazu ganau dies mit offenen Augen sehen zu können, sehen zu wollen: Familie – soziologisch gegen den Strich gebürstet, psychologisch auf Dynamiken abgetastet, persönlich und privat als Keimzelle, Nährboden, Humus, Misthaufen betrachtet und mit den eigenen Entwicklungslogiken und –brüchen abgeklärt – eine solche Haltung durchzieht meinen Blog seit 2014. Seit 2019 ist eine entscheidende Facette hinzugekommen. Wir sind Großeltern. Ich bin leidenschaftlicher Großvater - eine Tatsache im Übrigen, die ohne leidenschaftliche (und zugegebenermaßen auch fehlbare) Vaterschaft nicht vorstellbar ist. Die folgenden Auslassungen gehen den umgekehrten Weg. Wir alle müssen die Familie in die wir hineingeboren wurden, hinter uns lassen. Im besten Fall steht dann hinter uns eine Ahnenreihe, aus der ein Kraftfeld strömt. Und wie man an Ihrem Beispiel sehen kann, sehr geehrte Frau Abramovic, führen ja auch negative Kraftfelder unter Umständen zu kreativen Schüben. Aber wie auch immer - was sie da hinter sich gelassen haben, hat Anteil an dem, was sie nun Kraft Ihres Willens als ihre familiale - besser wahlverwandtschaftliche - Kreation betrachten.
Von meinen eigenen Großeltern haben leider nur Oma und Opa mütterlicherseits ihren Prägestempel hinterlassen – zumindest wenn man die genetische Dimension einmal außen vor lässt und sich primär auf die kommunikativen und interaktiven Begegnungen in Kindheit und Jugend beschränkt. Diese begegnungsabhängigen Prägestempel habe ich aufgenommen und meinerseits nach Jahrzehnten auch wieder in Sprache rückübersetzt. Gleichzeitig beginne ich jetzt damit das unfassbare, so köstliche Erleben der Enkel-Großeltern-Beziehung aus der Sicht des Großvaters zu thematisieren. Früher hätte ich gesagt, ich kann halt nur schreibend durch die Welt gehen. Aber das Schreiben ist absolut nachgeordnet, weil ich das außerordentliche Privileg habe, meinen Enkelkindern fast jeden Tag begegnen zu können. Das Schreiben vermag dann etwas zu ordnen und festzuhalten, was für die meisten Menschen einfach im Alltag verblasst. Es entstehen dann in der Tat so Köstlichkeiten wie Der Nussknacker und mein Büblein (siehe auch hier)! Gleichwohl ist der Alltag um so unendlich viele Facetten reicher – Facetten, die allemal nicht dazu taugen, Kindheit (auch frühe und früheste Kindheit) einfach nur zu idealisieren. In der Dichte des Erlebens, des Unterstützens, des Erleidens auch von schmerzhaften Ereignissen und Einschnitten baut sich das ganze filigrane Kunst- und Netzwerk familialen Erlebens im intergenerativen Zuschnitt auf.
Mir ist es wichtig diese Botschaft in die Zeit hinüberzuretten, in der ich nicht mehr sein werde. Sloterdijks präzise Umschreibung essentiellen Daseins Zur Welt kommen – zur Sprache kommen ergibt für mich nur Sinn, wenn wir eben nicht nur zur Welt kommen, sondern wenn wir auch zur Sprache kommen. Sprache kann wenig und doch so unendlich viel. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass meinen Kindern und Kindeskindern die Gänsehaut kommen wird, dass sie gewiss fasziniert und fassungslos stehen werden vor dem, was ihnen ihr Vater/Großvater/Urgroßvater hier hinterlassen hat.
Der Begriff des Alternativlosen verbietet sich eigentlich. Alternativen gibt es freilich. In meiner eigenen Familie gibt es generationenübergreifend keine entsprechende Tradition Geschichten auch nur zu erzählen oder gar aufzuschreiben. Vielmehr gilt es die möglicherweise existentiell begründete Verweigerung überhaupt noch einmal zur Sprache zu kommen zu respektieren. Mit der Absicht, sich eine unvoreingenommene Selbstvergewisserung zu gestatten, mag man sich im besten Fall eine gewisse Strahlkraft in die kommunikative Kultur der eigenen Familie erhoffen; möglicherweise so etwas wie positive Impulse mit Blick auf emotionale Fundierung oder auch positive und identitätsstiftende Momente, um zu verhindern, dass man irgendwann buchstäblich in der Luft hängt.
Verständlich ist der Respekt und mehr noch die Angst davor mit dem identitätsstiftenden Schreiben etwas preiszugeben, von dem zwar alle in diffuser Weise wissen, von dem aber das Tabuverdikt Tag für Tag ablenkt und wegführt. Manche erfahren diese Mangelsituation in Form von Depression und Niedergeschlagenheit; andere haben zumindest die Kraft, dem eigenen Weg noch einmal eine zukunftsfähige Richtung zu geben. Alles in allem leiden aber viele Familien letztlich an jenem Phänomen einer tief verankerten Sprachlosigkeit. Ich halte an der Hoffnung fest, dass Beispiele, wie jenes von Christiane Hoffmann:
ALLES WAS WIR NICHT ERINNERN (München 2022)als Leuchttürme wirken mögen. Sie schreibt in ihrem Epilog 1 auf Seite 269 (nachdem sie die 558 Kilometer des Fluchtweges ihres Vaters zu Fuß zurückgelegt hat) mit Blick auf ihre Töchter, die Enkeltöchter ihres Vaters:
„Zwei Jahre nach Deinem Tod (dem Tod des Vaters von C. H.) fahren unsere Töchter nach Polen, Deine Enkelinnen, zusammen mit zwei Freundinnen, vier junge Mädchen im Auto mit Kochgeschirr und Zelt. Sie sind begeistert von Polen, seiner Natur, den Städten, den Menschen, sie sagen, es sei die schönste Reise ihres Lebens. Sie schwimmen in der Weichsel, sie fahren nach Danzig und in den Badevorort Heubude, wo ein anderer Urgroßvater aufwuchs, sie wollen die Geschichte verstehen, sie besichtigen das Konzentrationslager Stutthof und die Wolfsschanze, die paddeln auf einem masurischen See, sie fahren nach Warschau und Breslau und wandern auf der Schneekoppe. Sie trinken abends am Lagerfeuer Bier mit jungen Polen, sie werden überall freundlich aufgenommen, sie sagen, sie seien noch nie so herzlich zurechtgewiesen worden wie im Wald von Masuren, wo sie ihr Zelt an einem Seeufer aufschlagen. Der Förster weckt sie am Morgen mit seinen drei Worten Englisch, welcome to Poland, entschuldigt sich, sie sehen, wie unangenehm es ihm ist, sie vertreiben zu müssen, sie sollen sich Zeit lassen mit dem Zusammenpacken, welcome toPoland. Auf dem Weg nach Süden nehmen Deine Enkelinnen die Autobahn A4, gut fünfzig Kilometer von Wroclaw passieren sie die Ausfahrt nach Brieg, hier müssten sie abfahren nach Rosenthal, aber sie fahren an der Ausfahrt vorbei, sie biegen nicht nach Rosenthal ab, sie überlegen es nicht einmal ernsthaft. Es zieht sie nichts in dieses schlesische Dorf, das irgendetwas mit ihnen zu tun haben soll. Für meine Töchter ist Rosenthal nicht mehr die verlorene Heimat, weder Paradies noch Fluch. Sie brauchen Rosenthal nicht mehr.“
Was wir brauchen und was wir nicht mehr brauchen, lässt sich nicht rein voluntativ – als freie Willensentscheidung ableiten. Wir benötigen die offene, aktive Auseinandersetzung mit unserer Herkunft, mit unserer Geschichte, um entscheiden zu können, was „nahe genug“ ist oder was möglicherweise noch einmal angeschaut werden muss, um damit abschließen zu können. Großeltern tragen ein hohes Maß an Verantwortung dafür in welchem Maß Zugehörigkeit und Zuversicht zentrale Anker auch im Leben ihrer Kinder und Enkel sein können.
Will man sich selbst ein Bild machen, wo man steht, bieten sich die von Kurt Lüscher (bibliografische Angaben siehe weiter unten) entwickelten Dimensionen an: Er spricht von dynamischen und spannungsvollen Grundverhältnissen. Für die subjektive Dimension nennt er Konvergenz (Annäherung) vs. Divergenz (Distanzierung). Für die institutionelle Dimension spricht er von Reproduktion (Beharren) vs. Innovation (Veränderung). Lüscher entwickelt eine diagrammatische Darstellung und arbeitet vier Grundtypen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit den dabei auftretenden Ambivalenzen heraus - Übergänge sind selbstredend möglich bzw. erstrebenswert (folgende Wiedergabe im Wortlaut):
- Typ 1: "Solidarität": Es überwiegen die persönliche Vertrautheit und das Zueinander in überkommenen Lebenswelten und Tätigkeitsfeldern; Ambivalenzerfahrungen werden mit dem Hinweis auf das Gemeinsame weitgehend überspielt oder verdrängt.
- Typ 2: "Emanzipation": Die gegenseitige Wertschätzung orientiert sich an der Vorstellung einer eigenständigen Persönlichkeitsentfaltung in sich wandelnden Lebenswelten; man gesteht sich Ambivalenzerfahrungen ein und bringt diese zur Sprache.
- Typ 3: "Atomsierung": Distanz und Entfremdung sowie sich rasch verändernde Lebenswelten führen dazu, dass man sich auseinanderlebt; mögliche Ambivalenzerfahrungen werden verneint oder kommen nicht zum Tragen (guten Tag Frau Abramovic).
- Typ 4: "Kaptivation": Man ist sich zusehends fremd und dennoch an überkommene Lebensformen gebunden; die Ambivalenzen äußern sich in Verstrickungen oder in einem instrumentellen gegenseitigen Umgang.
Ich hoffe mit diesen kleinen Häppchen Appetit geweckt zu haben. Viel Vergnügen im Familiendschungel! Dazu gehört beispielsweise auch der ironiegeschwängerte Blick eines Erich Kästners und nicht nur die blutgetränkte Selbstkasteiung einer Marina Abramovic.
F A M I L I E (hier auch ein Zugang zu den Unterscheidungen von Kurt Lüscher)
Die Großeltern haben Besuch (Erich Kästner)
Für seine Kinder hat man keine Zeit.
(Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehen kann.)
Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
dass man die Kinder ungefähr verstehen kann.
Spielt hübsch mit Sand und backt euch Sandgebäck!
Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
als ob man über einen Abgrund weg
in einen fremden bunten Garten sähe.
Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid.
Wir möchten euch auch später noch beschützen.
Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.
Wenn es gut sein (gewesen sein) soll - tot im Sinne Helga Schuberts(:-))