Volker Weidermann (ZEIT 15/23): Worauf freuen Sie sich nach dem Tod?
Karfreitag 2023 - Eine Offenbarung
7. April 2023 – Karfreitag – nach einem kurzen Frühlingserwachen Karfreitagsstimmung mit Eintrübung, Nieselregen. Ich blicke von meinem Arbeitsplatz hinauf zum Heyerberg, seit fünf Jahren mein unfassbar privilegierter Ausblick mit den steilen Weinbergen vor Augen, die uns hier umgeben. Vor meinen Augen schultert Jesus das Kreuz - ich blicke von meinem Schreibtisch aus auf die zweite Station des Stationenweges - von Philipp Dott 1963 in dreizehn Stationen aufwendig gestaltet (in der Werkschau sind alle dreizehn Stationen fotografisch gut nachvollziehbar dokumentiert - weit nach unten scrollen). Heute morgen während des Frühstücks haben wir uns gemeinsam (zu zweit) an die Bedeutung des Karfreitags in unserer Kindheit erinnert. Auch wenn wir uns abgewendet haben von der Katholischen Kirche, bleibt unleugbar der tief habitualisierte kulturelle Einfluss unbestritten. Mühelos gelingt es mir die besondere Karfreitagsstimmung in Erinnerung zu rufen: Der Leidensweg Jesu war bildhaft tief in uns eingeschrieben. Der Karfreitag war der Tag der Trauer, des Innehaltens - für mich eindrücklich symbolisiert durch das Schweigen der Glocken. Die erklangen erst mit der Auferstehung des Gekreuzigten wieder. Sie trugen den Jubel in die Welt mit allen Glocken, die das Zeug hatten zu läuten; den tiefen, dumpfen, den basso continuo verbürgenden mächtigen Glocken bis hin zu den kleinen und kleinsten Glöckchen, die die Auferstehung Jesu für alle hörbar in allen Höhen und Tiefen erklingen ließen. Davon ist nichts geblieben als schale Erinnerung, der indessen jegliche Überzeugungskraft genommen wird. Die Kirche entfernt sich bis zur Unkenntlichkeit von uns.
Vor mir liegt das Feuilleton der ZEIT (15/23): WORAUF FREUEN SIE SICH NACH DEM TOD? Volker Weidermann befragt Martin Walser, Mithu Sanyal, Helga Schubert, Feridun Zaimoglu, Péter Nadas, Navid Kermani, George Saunders und Karl Ove Knausgard - ausgelöst durch Julian Heigels (Bestatter) in die Welt getwitterte Frage: Worauf freuen Sie sich nach dem Tod? Nun werde ich hier nicht die gesamte Doppelseite referieren, sondern mich auf einige wenige Impressionen konzentrieren, die mich persönlich berührt haben, weil sie mein eigenes Driften in der Zwischenwelt irritieren - irritieren in einem positiven, vielleicht tröstlichen Sinn. Der Kontext ist und bleibt klar: Meine letzten Blog-Beiträge, ausgelöst vor allem auch durch den Besuch meiner Nichte Kathrin vor 14 Tagen, kreisen um jene Fragen, die ich - ob ich nun will oder nicht - mit ins Alter nehme, Tag für Tag - immer wieder neu beleuchtet. Volker Weidermann präzisiert die Titelfrage durch den Hinweis: "Wir haben Schriftsteller nach ihren Hoffnungen auf das Leben im Jenseits gefragt. Einer ist sogar schon da gewesen." Von Péter Nádas ist bekannt, dass "er selbst schon im Totenreich gewesen ist" - nach seinem Herzinfarkt.
Weidermann bemerkt, dass Nádas sich schon lange vor seinem eigenen Todeserlebnis mit Berichten von zurückgekehrten Sterbenden beschäftigt hatte. Nádas berichtet von "vier Phasen des Weggehens: 1. Ausschalten der Sensualität. 2. Schweben im kosmischen Raum. 3. Gewaltsames Umkippen (aus dem Mutterleib in den Geburtskanal). 4. Gang im Tunnel in Richtung Licht".
Ich habe diese kleine Passage hier weit eingerückt, weil ich damit signalisieren will, dass mich diese sogenannten Nahtodererlebnisse weniger interessieren. Weidermann verknüpft allerdings in seiner Dramaturgie die Auslassungen Péter Nádas' mit Navid Kermanis staunendem Unverständnis darüber, dass Péter Nádas sich bei seinem Weg ins Licht dafür verschließt, in diesem Licht Gott zu erkennen. Navid Kermanis neuer Roman Das Alphabet bis S erscheint im Herbst (Navid Kermani hat in diesem Buch für mich die Enkel erfunden - erhellend und gnadenreich zugleich, Anm. nach Lektüre), und seine Ich-Erzählerin, deren Mutter stirbt, beschäftigt sich intensiv mit den Nah-Tod-Erfahrungen des Péter Nádas. Kermani will damit anregen, dass die Nádas-Lektüre etwas außerordentlich Tröstliches für die Zurückgebliebenen habe. "Aber seine Weigerung (die Weigerung Péter Nádas', FJWR), bei alledem Gott zu sehen, irritiert die Ich-Erzählerin." Weidermann berichtet weiter, dass Kermani in einer Szene das Nádas-Buch (Der eigene Tod) als Grundlage für einen Workshop (in seinen eigenen Roman) einbaue, der das Sprechen über den Tod trainiere:
"Die Wirkung ist ungeheuer, 'wie beseelt' hören die Menschen sich gegenseitig zu. Einander eben noch gänzlich Unbekannte, erzählen sie sich 'denkbar persönlichste Geschichten'. Die unsichtbare Wand, die sonst voneinander trennt, wird wesenlos für kurze Zeit: 'Näher waren wir, beinah Fremde, uns nie'."
Ich kann dies aus meinen Seminar-Erfahrungen an der Uni (Grenzsituationen - Tod, Sterben, Trauer) bestätigen (hier war es insbesondere Der letzte schöne Tag, der ein ähnliches Fluidum entfalten konnte). Hier bietet sich ein Hinweis auf die von Iris Radisch mit Schriftstellern geführten Lebensendgespräche an.
Die übrigen Auslassungen finde ich weitgehend entbehrlich, obgleich sicherlich lesenswert - insbesondere für eine Leserschaft, die die Thematik üblicherweise an den Rand der Aufmerksamkeit drängt oder gar die Neigung zu völliger Ignoranz teilt. Volker Weidermann spricht mit Martin Walser - jeder Tag ist ein Gedicht, das wir aus Unachtsamkeit nicht lesen -, der mit seinen 96 Jahren rein statistisch "am dichtesten" dran sei. Einen eigenen Abschnitt möchte ich Helga Schubert widmen. Volker Weidermann stellt sie vor als gläubige Christin und gibt uns folgende Eindrücke - insbesondere zu ihrem aktuellen Buch wieder:
"Helga Schuberts neues Buch erzählt von ihrer Liebe zu ihrem Mann, Johannes Helm, den sie Derden nennt, lange schon krank und pflegebedürftig. Über den viele sagen, er könne doch jetzt mal sterben, das sei doch kein Leben mehr. Helge Schubert sieht es ganz anders. 'Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich.' Und: 'So darf ein Leben doch ausatmen. Aber wenn es dann doch irgendwann so weit ist, dann wird auch das gut sein. Am Ende des Buches stellt sie sich den Tod Derdens vor und wie er sein wird. Und wie sie dann weiterlebt. Ein Buch voller Trost und Gottvertrauen, getragen von der Gewissheit, dass die Toten in uns weiterleben."
Und nun gebe ich die Stelle wieder, die meinem Driften in der Welt, und die mein Ringen um Sprache (als erinnerte Vergangenheit und Gegenwart) zu einem permanenten Geschehen einer Innerlichkeit macht, aus der ich schöpfe und manchmal auch strahle:
Volker Weidermann: "Auf meine Frage nach der Freude schreibt Helga Schubert: 'Ich bin mir sicher, dass die mir nahen und wichtigen Menschen, auch nach ihrem Tod, in mir bleiben. Sie werden mich sehen und mich zu schützen versuchen, mich warnen und trösten, obwohl sie körperlich tot sind. Das würde aber auch bedeuten, und das habe ich noch nie bedacht, dass ich nach meinem Tod auch noch in den Menschen bleibe, denen ich nah und wichtig war, dass ich sie nun beschützen, warnen und trösten kann, wenn sie das wollen, auch wenn meine sterbliche Hülle, zu Asche verwandelt, schon lange auf dem wunderschönen Friedhof neben dem überlebensgroßen braunen Holzkreuz in der Erde ist. Darauf freue ich mich: auf eine Verbundenheit über den Tod hinaus, auf Leichtigkeit und Wohlwollen. Alle Schwere ist dann weg.'"
Danke Volker Weidermann, danke Helga Schubert. Auch wenn ich kein gläubiger Christ bin, bedeuten mir die Worte Helga Schuberts eine Offenbarung. Es bringt mir - ein wenig nüchterner formuliert - die gestrige Lektüre des Interviews mit Andreas Kruse in Erinnerung. Er beantwortet die Frage, wie alt er sich fühle, mit dem lapidaren Hinweis: "Ich fühle mich so alt, wie ich bin." Aber man müsse dabei aufpassen: "Wir haben ein körperliches, ein geistiges, ein seelisches und vielleicht so etwas wie ein existenzielles Alter." Sein Körper sei noch leistungsfähig, auch sein Geist. Und bei seinen Emotionen erkenne er, "dass sie sich differenzieren und irgendwie tiefer werden, ich verstehe sie besser."
Ich grüße und danke meinen Großeltern (besonders meinem Opa), meinen Eltern (Vater und Mutter), meinem Bruder, meinen Schwiegereltern (Schwiegervater und Schwiegermutter) und so manchem Freund - zuletzt Bodo.