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McEwan - Was ich gern früher gewusst hätte

Seit Solar ist mir Ian Mc Ewan als hellsichtiger Analyst des Niedergangs unseres Planeten vertraut. Seit einigen Tagen hat er auch mein Vertrauen auf eigentümlich vertraute Weise gewonnen. Das ZEIT-Magazin hat seit wenigen Wochen eine Seite eingeführt, auf der Prominente schreiben dürfen, "was sie erst spät begriffen haben". Es sind jeweils nur wenige, verstreute Impressionen, die es hier auf's Papier schaffen. Diese Knappheit erzwingt eine Beschränkung auf Essentielles. Ich mag das bei Ian McEwan zumindest so empfinden, weil er mir - dem bis auf wenige Tage 71jährigen - als 74jähriger jene Stichworte liefert, die diesen Blog seit fast zehn Jahren prägen und rahmen. Dass eine Generationenzugehörigkeit verbindet, offenbart sich an so ungemein trivialen Empfehlungen, deren eine lautet:

  • Denk an deine Knie. Geh nicht dauernd Ski laufen, Squash spielen oder klettern. Jogge auf Gras.

Nun hab ich diesbezügliche Konsequenzen bereits vor längerer Zeit gezogen und verlange mir - wie Jean Remy von Matt - nach dem Aufstehen - 25 Minuten Initialisierung ab: Die Verknüpfung von Yoga und gymnastischen Übungen sollen einen Beitrag dazu leisten, dass ich vielleicht eines Tages relativ gesund sterben (siehe dazu Arnold Retzers zugleich ermunternde wie ernüchternde Anmerkungen) kann.

  • Setz dich jeden Morgen an den Schreibtisch, egal, wie du dich fühlst.

Auch diese Freiheit nehme ich mir - ich muss vom Schreiben nicht leben, sondern es hilft mir beim Überleben - vielleicht im Sinne Günter Kunerts, wenn er ein wenig euphemistisch meint: Schreiben ist Rettung vor dem Tod.

  • Wenn die Kinder ausziehen, zieh nicht in ein kleineres, sondern in ein größeres Haus, damit sie mit ihren Familien bei dir Platz haben.

Die große Rochade der letzten fünf Jahre mit einem Turnaround der kompletten Familie innerhalb eines Radius von wenigen 100 Metern kann man als das größte Glück der späten Jahre begreifen. Es hängt zusammen mit einer weiteren Erkenntnis Ian McEwans, die er von mir stibizt hat; schreibt er doch allen Ernstes:

  • Wenn du denkst, dass du die letzte Liebe deines Lebens gefunden hast, liegt sie noch vor dir: deine Enkel.

Da werden Marisa und Peter und viele andere aus vollem Herzen zustimmen.

Kleine Anmerkung: In meinem mäandernden Blog verliere ich mich unterdessen selbst. Aber dieser Hinweis Ian McEwans vergegenwärtigt mir nicht nur die ungemein erfüllte und intensive Bindung zu meinen Enkelkindern; er erinnert mich an eine berührende Geschichte, die Esrin Korff-Avunc im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters erzählt: Necdet Avunc - so schreibt seine Tochter, Esrin Korff-Avunc - wurde am 4. September 1939 in Manisa in der Türkei geboren und wuchs in Izmir auf. Er kam mit Mitte zwanzig als Gastarbeiter nach Deutschland. Er heiratete eine Deutsche, wurde Bankkaufmann; die beiden - Necdet und Uta - wurden Eltern dreier Töchter. Ich zitiere nun einen kleinen Abschnitt aus Esrin Korff-Avuncs Artikel, mit dem sie in der ZEIT (17/21, S. 60) anlässlich des Traueraktes für die Toten der Corona-Zeit am 18.4.2021 den Verlust ihres Vaters beschreibt: "Leider weiß ich nicht viel über die Kindheit meines Vaters in der Türkei, er sprach kaum davon. Allerdings: Von meiner Tochter Clara erfuhr ich jetzt, dass ihr Opa ihr vorschwärmte, wie er als Kind im Meer mir rosa Delfinen schwamm. Zu seiner Enkelin hatte er eine ganz besondere Bindung und sagte mir noch vor seinem Tod, dass es keine Worte für seine Liebe zu ihr gebe."

  •  Entscheide mit Mut. Gute Entscheidungen tragen ein Risiko in sich.

Nach mehr als sieben Jahrzehnten eines langen Lebens, weiß man - ahnt man -, wo man gute Entscheidungen getroffen hat; folgenreiche Entscheidungen, deren Folgen bis heute greifbar und prägend erscheinen.

  • Interviewe deine Mutter so systematisch, als wäre sie eine Fremde. Nimm das Interview auf. Und wenn es nur ist, um ihre Stimme zu bewahren.

Ganz nebenbei bemerkt. Wie mag sich das wohl anfühlen, wenn die Mutter tatsächlich eine Fremde ist bzw. bleibt, und wenn man sich - unvermeidbarer Weise - auf bemerkenswerte Weise dadurch auch selbst fremd bleibt? Für mich persönlich mag ich eher beanspruchen, der eigenen Mutter dadurch näher gekommen zu sein, dass ich ihre fremde bis fremdartige Geschichte wenigstens in einen wahrnehmbaren Horizont hineingeschrieben habe; eine lehrreiche Erfahrung, die einem nahelegt, im Vertrauten immer auch das Fremde vermuten zu müssen.

  • Schreib die Unterhaltungen mit deinen kleinen Kindern auf. Die verrückten Sprünge, die ihre Gedanken machen, sind unmöglich zu erfinden.

Danke, Ian McEvans - bei meinen Kindern habe ich das versäumt, bei meinen Enkelkindern schreibe ich Vieles auf, was sie später sowohl amüsieren als auch verblüffen wird (2002 habe ich begonnen meinen Kindern einen Brief zu schreiben - seit 2019 hauche ich dem Untefangen wieder Atem ein).

Vielleicht zuletzt noch diese Anregung:

  • Triff nicht deine französische Brieffreundin. Die Intimität eurer Briefe wird dem Treffen nicht standhalten.

Mache denselben Fehler nicht zweimal! Aber woher weiß man, dass man einen Fehler gemacht hat? Im Lernen aus Erfahrung verankern sich wohl die unvermeidbaren (und zuweilen schmerzhaften) Prozesse einer Horizonterweiterung, die ohne Handeln und ohne reflexive Anstrengungen schlicht folgenlos bleibt - sich gar nicht ereignen würde.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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