Traumatisierung und Sprachlosigkeit I - Das doppelte Lottchen? Für meine Schwester
"Der Palast" - nach dem ZDF-History-Beitrag zum Friedrichstadt-Palast haben wir zuerst die erste Doppelfolge - sozusagen in Echtzeit - und dann gespannt die weiteren beiden Doppelfolgen (über die ZDF-Mediathek) angesehen; viereinhalb Stunden Fernseh-Marathon. Es hat sich mit Abstrichen gelohnt. Danke Uli Edel für eine außerordentlich solide Umsetzung. Öffentlich-rechtliches Fernsehen kann mit bescheidenen und unterhaltsamen Mitteln etwas sehr Grundlegendes aufzeigen; zumindest nachvollziehbar andeuten, warum die DDR an ein Ende kommen musste. Was einerseits als allerbeste Unterhaltung daherkommt, taugt ämlich auf der anderen Seite dazu, wenigstens ansatzweise zu vermitteln, dass die Sehnsucht vieler DDR-Bürger nicht nur allein Freizügigkeit und Reisefreiheit zum Ziel hatte, sondern, dass die Erfahrung eines dauerhaften Unrechtsstaats bei einer Mehrheit auch das Bewusstsein für den Wert einer rechtsstaatlichen Ordnung mit funktionierender Gewaltenteilung enorm geschärft hat. Sich dies zu vergegenwärtigen, sollte auch und gerade in den neuen Bundesländern immer wieder erinnert werden. Das leistet der Film auch entgegen der oberlehrerhaften Kritik von Matthias Dell, denn wir befinden uns vor dem Bildschirm und nicht im zeitgeschichtlichen Oberseminar!
Bei allen Unterschieden zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen sollten wir an der Erkenntnis festhalten - und sie im tätigen Miteinander vertiefen und stärken -, dass der Quantensprung im Zusammenleben der Europäer (nach der Barbarei in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts) in der Begründung einer gemeinsamen Werteordnung besteht; das sehen aufgeklärte und durchaus patriotische Westdeutsche nicht anders als aufgeklärte und patriotische Ostdeutsche. Freiheit zu denken oder zu rufen, ohne gleichzeitig den Spannungsraum zu sehen, der aus den institutionellen Vorkehrungen gegen einen Machtmissbrauch resultiert, zeugt von mangelhafter politischer Grundbildung. Nicht nur Polen, Ungarn - nein auch Bürger Thüringens und Sachsens können die Vorzüge einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nur genießen, wenn sie sich den Grundgedanken und die Prinzipien der Gewaltenteilung zu eigen machen. Erst dann lässt sich auch handelnd und konkret begreifen, wieso es in einem Rechtsstaat, wie dem unseren, möglich ist, Gerichte anzurufen zur Klärung der Frage, ob die Einschränkung von Grundrechten verhältnis- und rechtmäßig ist!
Die Serie Der Palast ist geeignet auf ihre besondere - eben unterhaltsame - Weise für solche Unterschiede zu sensibilisieren. Und insofern greift die Rhein-Zeitung von heute (4. Januar 2022) in ihrer Würdigung der "doppelten Svenja" genauso zu kurz, wie Matthias Dell (Svenja Jung heißt im Übrigen die aus Weroth im Westerwald stammende Hauptdarstellerin, die auf grandiose Weise die Rollen einer DDR-Tänzerin und ihrer Zwillingsschwester aus dem Westen verkörpert und interpretiert). Kritik (Dell) und Würdigung (RZ) greifen deutlich zu kurz, weil Der Palast nicht nur die familiendynamische Seite einer Verzweiflungstat offenbart und spannend inszeniert, sondern weil es der Serie gelingt, den historischen Kontext nicht gänzlich zu einer Kitschkulisse entarten zu lassen, wie Matthias Dell gnadenlos kritisiert. Zweifellos tragen - neben Anja Kling - eine Reihe von renommiertesten Schauspielern (teils noch mit dem Hintergrund einer DDR-Sozialisation) zu einer Inszenierung bei (so wie auch der von Dell so gerügte Uwe Preuss als Parteifunktionär), die auch Nuancen des Zeitgeschehens und des Erlebens in der Niedergangsphase der DDR erspüren lassen.
Der starting-point hingegen - unmittelbar vor dem Mauerbau - markiert gleichermaßen den Offenbarungseid eines politischen Systems, das sich - da ihm seine Bürger in Massen den Rücken kehren - offen zu einen Unrechtsregime bekennt, indem es seinen Bürgern jegliche Freizügigkeit nimmt und sie einmauert.
Knapp, auf der Grundlage des aktuellen Wikipedia-Eintrags, ein paar Rahmendaten zur Handlung von Der Palast:
"Die Solotänzerin Christine Steffen, Tänzerin in der berühmten Girl Line, bereitet sich 1988 auf die große Show Jubiläum zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 vor. Völlig überraschend trifft sie im Friedrichsstadt-Palast ihre Zwillingsschwester Marlene Wenniger aus Bamberg, von der sie bis dahin nichts wusste. Marlene verhandelt geschäftlich für ihr Familienunternehmen mit dem DDR-Außenhandelsministerium. Beide versuchen, hinter das Familiengeheimnis zu kommen, das zu ihrer Trennung kurz vor dem Mauerbau 1961 führte."
Natürlich mag es wie ein aberwitziges Konstrukt anmuten, dass Roland Wenniger eine seiner Zwillingstöchter aus der DDR entführt - und das auch noch im Zeitfenster der Abriegelung des Ostteils der Stadt in der Nacht des 13. August 1961 durch DDR-Grenztruppen. Mich interessieren die Konsequenzen aus Schicksalszufällen, die geschehen und in ihrem Geschehen irreversibel sind. Deshalb widme ich diesen Beitrag auch meiner Schwester, deren schicksalsmächtiger Zufallsbefund schlicht darin besteht zur falschen Zeit von der falschen Mutter und einem falschen Vater gezeugt und geboren worden zu sein. Die falsche Zeit war eine Unzeit, weil die Mutter - erst siebzehnjährig - im katholischen Rheinland weder auf Verständnis, Duldung, Mitfühlen oder Unterstützung hoffen durfte. Die Geburt ihres Sündenfalls - man nannte die Frucht der Unzucht seinerzeit Bastard - musste weit von zu Hause in einem Entbindungsheim der NSV stattfinden (ihr könnt es nachlesen in Hildes Geschichte). Die Zuschreibung falsche Mutter ergibt sich aus dem Tatbestand eines falschen Vaters. Denn der falsche Vater war bereits Vater und befand sich im Stand einer vor einem deutschen Standesamt geschlossenen Ehe.
Es geht in Uli Edels viereinhalbstunden-Epos auch um das radikale Abschneiden von Kontakten, von Informationen, um das Durchtrennen innerfamiliärer Nabelschnüre - all dies kulminierend (nach Enthüllung der sachlichen Zusammenhänge) im Ausruf der Westtochter - Marlene Wenniger -, die ihrem Vater ins Gesicht schreit: "Du hast Gott gespielt, weißt Du, wie sich das anfühlt? Immer zu spüren, zu wissen, dass etwas nicht stimmt, dass einem etwas abgeschnitten worden ist? (freie Wiedergabe)." Im Gegensatz zu Matthias Dell, dem geschichtsakribischen Besserwisser, gestehe ich Roland Wenninger (Heino Ferch) durchaus so etwas zu, was man einen Handlungsnotstand - ein Dilemma nennen könnte. Sein Kalkül war nachvollziehbar und seine Bemühungen, Frau und zweites Kind (Christine Steffen) aus der DDR lotsen zu wollen (und auch zu können) scheinen gleichermaßen plausibel und nachweisbar. Hier entscheiden die Systeme, und ihre Protagonisten bleiben hinter allen Voraussetzungen einer freien Willensentscheidung zurück - und die Dinge nehmen, wie man sagt, ihren Lauf.
Bei der Rekonstruktion von Hildes Geschichte (Hilde wurde ja dann 1952 auch meine Mutter) ging es mir um jene points of no return, die die Schicksalsmacht ins Werk setzt/setzen. Und natürlich weiß ich, obwohl die Daten der Geschehnisse in die Ewigkeitsgeschichte eingebrannt bleiben, dass es mir bei meinen Rekonstruktionen nicht gelungen sein mag, G E S C H I C H Tschreibung für die Geschichtsbücher zu betreiben. Es ist/sind Geschichte(n) für die Stammbücher der Familien, die betroffen sind/waren, ohne voneinander zu wissen. Und es handelt sich um die Ergebnisse geschichtsmächtiger Handlungen unmündiger, verführter, verblendeter Menschen im zeitgeschichtlichen Kontext. Sie nähren bis heute die unfassbare Macht des Faktischen: Nicht zu wissen, nur von Ahnungen und Spekulationen abzuhängen markiert die eine Seite; Informationen zu verdecken, zu verschleinern, Zeugnisse zu vernichten, die Geschehnisse verdrängen und vergessen zu wollen - über Jahre, Jahrzehnte -, markiert die andere Seite. All dies sorgt für Familiendynamiken, von denen sich möglicherweise Oberlehrer, wie Matthias Dell, keine angemessene Vorstellung machen. Hier geht es um Jahre, Jahrzehnte - im Falle meiner Schwester sind es sechs Jahrzehnte, die es brauchte, um Licht in eine vollkommen verhüllte, verscharrte, verleugnete Vergangenheit zu bringen.
Teil II: Sprachgewalt und Sprachlosigkeit
Anne-Ev Ustorf (Jg. 1974) nimmt in der Einleitung zu ihrem Buch: Wir Kinder der Kriegskinder - Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs (Verlag Herder, Freiburg 2008 - erweiterte Neuausgabe 2016) Bezug auf die eigene Familiengeschichte. Mit Mitte 20 beginnt sie eine Psychoanalyse und lernt dabei - wie sie schildert - ihre eigenen Gefühle besser spüren und mitteilen zu können:
"Erst als ich begann, mich bewusst mit der Geschichte meiner Eltern, speziell der meiner Mutter, auseinanderzusetzen, ließ der innere Zwang nach, mich mit Schicksalen der in Deutschland lebenden Flüchtlingskinder zu beschäftigen [...] Hinzu kam in der Familie meiner Mutter kurz vor dem Mauerbau noch eine traumatische Flucht von Ost- nach Westdeutschland mit monatelangen Aufenthalten in Flüchtlingslagern und anschließendem mühsamen Neuanfang in der Nachkriegs-BRD [...] Hinter der emotionalen Unerreichbarkeit meiner Eltern, hinter ihrem unbedingten Leistungswillen und ihrer offensichtlichen Stärke verbargen sich Ängste und Bedürftigkeit (S. 18)."
Aus den vielen geschilderten Einzelfällen ergibt sich ein Strukturmuster, das mir selbst wohlbekannt ist, und das letztlich wohl nur durch eine qualifizierte psychotherapeutische Begleitung aufgeschmolzen werden kann. Anne-Ev Ustorf resümiert:
"Doch mehr als alles andere hat uns wohl die emotionale Sprachlosigkeit in unseren Familien geprägt. In der emotionalen Fremdheit zwischen den Generationen erkennen die Psychoanalytiker Hartmut Radebold und Werner Bohleber einen der wichtigsten Gründe dafür, dass heute so viele Kinder von Kriegskindern in Psychotherapie sind (S. 19)."
In Sprachlosigkeit manifestiert sich jenes Phänomen, dass oft genug Generationen und Menschen voneinander trennt, die einander verbunden sind. Angelika Glöckner (Lieber Vater, liebe Mutter..., Freiburg 1999) greift auf einer psychotherapeutischen Ebene verschattete Kindheit als Grundphänomen auf und bietet Methoden an, sich mit konfliktbeladenen Beziehungen auseinanderzusetzen und Lösungen zu erwägen. Über unsere persönlichen frühen Geschichten diskutiert und spiegelt sie unterschiedliche Bindungsmodi und sucht nach problemorientierten Lösungen für emotionale Blockaden. Ich beschränke mich im Folgenden auf zusammenfassende Heinweise und greife ein Angebot Angelika Glöckners an ihre Leser auf:
Eine Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse im Hinblick auf das Kraftfeld des familiären Systems (a.a.O., S. 179-181):
"Bedenken Sie immer wieder:
- Alle heutigen Erwachsenen sind auch Kinder ihrer Eltern und stets wie mit unsichtbaren Banden ihrer Ursprungsfamilie verbunden. Aus dem Boden dieser Geschichte mit all ihren Ereignissen und Schicksalen wachsen sie hervor.
- Je schicksalsträchtiger eine solche Geschichte ist, um so stärker wirken die Bande des Verpflichtetseins und der Liebe.
- Kinder - oft auf sehr verborgene Weise (z.B. Rebellion) - haben ein natürliches Bedürfnis erlebter Pflicht nachzukommen und ihren Beitrag zum Glück ihrer Eltern zu liefern: Werden diese als froh und zufrieden erlebt, so wird auch leichteren Herzens das eigene mögliche Glück genommen.
- Brechen Kinder die (äußeren und inneren) Bande zu ihren Eltern ab (aus Hass, Schmerz oder anderen Gründen), so kommt es oft auch zu einem innerseelischen Bruch: Man hat Eltern (und anderen wichtigen Personen im System) einen Platz im Herzen verwehrt, und dies macht eine ausgewogene und friedfertige psychische Entwicklung schwerer.
- Wie dann der reale Kontakt gestaltet wird, ist Sache der eigenen Neigung, realer Verantwortung und vorhandener Möglichkeiten in Beziehung zum Gleichgewicht der eigenen Ursprungsfamilie.
- In jede spätere Beziehung (der Eltern, Kinder usw.) fließen Ordnungen und Dynamiken der früheren mit ein.
- Auch deshalb lohnt es sich, Kinder über wichtige Schicksalsdinge im Ursprungssystem aufzuklären: Wer gehört zum System dazu? Was geschah mit einzelnen Mitgliedern, und was wurde aus ihnen?
- Geschieht eine solche Information aus liebevoller und achtungsvoller Haltung, so verbindet man das Kind den positiven Kräften seiner Vergangenheit (selbst wenn sie schicksalsträchtig war und/oder Schlimmes passier ist). Eine solche Verbindung nährt die eigene Seele, kräftigt den psychischen Haushalt und stabilisiert die Fähigkeit zu Ruhe und Ausgeglichenheit.
- Wird hingegen verborgen gehalten, verheimlicht, tabuisiert oder dauerhaft rücksichtslos gehandelt oder ignorant, so wird es dem Kind meist schwer, sich seelisch in positiver und achtungsvoller Weise seiner Vergangenheit zu verbinden: Man steht dann der Versvollständigung des Kindes im Wege: weil man die notwendigen und reifungsfördernden Verinnerlichungsprozesse stört, verhindert, oder verzerrt.
- Wird dem Kind jene Schau auf die eigene Geschichte ermöglicht und gewährt (in angemessenem Alter und in passender altersgemäßer Weise), dann werden Austragungen unnötig: Ein solches Kind muss keine oder wird keine Auffälligkeiten entwickeln, um auf andere Menschen des Systems aufmerksam zu machen: Es übernimmt nichts Schicksalhaftes, es trägt Gefühle und/oder seelisch Unverarbeitetes anderer nicht aus oder führt es fort.
- Dies gilt in sämtlichen schicksalsträchtigen Zusammenhängen wie etwa Unrecht und Schuldhaftes, ungewöhnliche Tode, Verluste, Ausgrenzungen, Nichtwürdigungen und Stellvertretungen aller Art."