Unter jedem Dach ein A c h –
Hommage an Benedict Wells (und auch an Erich Kästner)
angelehnt an Benedict Wells: Die Geschichten in uns, Zürich 2024
(Seitenzahlen in Klammern)
eine ausführliche Würdigung findet sich in: Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben I
Unter jedem Dach ein A c h
Ein alter Sinnspruch,
dass unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte ruht –
unter jedem Dach ein Ach sich zeigt.
Benedict verleugnet gar seine Herkunft,
so groß und überwältigend muss das Ach gewesen sein:
Er heißt jetzt Wells – von well(s) done,
denn roh ist nicht zu genießen,
was selbst totgebraten noch im Halse stecken bleibt.
Hier gerät das Ach zum alles erdrückenden – Schir-ach:
Der Opa tatsächlich ein Obernazi – bis zuletzt:
„Ich hatte keine Worte für die Wut und Scham,
die ich angesichts meiner Vorfahren empfand“ (35).
der Vater ein Chaot -
die Mutter zuweilen statt lebendig fast schon tot. Und:
(„Die Frage, wer exzentrischer war, konnte sich je nach Schulden-
oder Medikamentenlage ändern“ <35>).
Da wird die Not zum Gebot:
- „Jahrelang trieb ich in meiner eigenen Wortlosigkeit
und hatte keine Ahnung, ob ich mich dabei auf das Ufer zubewegte
oder mich von ihm entfernte“ (35) –
weil ihm die Stimme fehlte:
„Keine Stimme für die Wärme und Geborgenheit,
die es zu Hause genauso geben konnte,
weshalb ich nie mit jemandem hätte tauschen wollen.“ (35)
Und Benedict sucht und findet - sucht und findet:
„In meinem Fall war es meine Schwester Ariadne -
ihr Glaube an mich war ein Lichtpunkt,
den ich selbst in dunkleren Phasen erkennen konnte.“ (80)
Und Benedict, der Gesegnete, beginnt sie zu bergen:
Die Geschichten in uns – in uns,
„die wir Menschen sind […] Wir haben blinde Flecken,
sind widersprüchlich und schwach,
enttäuschen uns und andere und tun oder sagen Dinge,
die wir später bereuen.“ (98)
Und lernt schreiben,
„um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein,
sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen,
die mir wichtig sind.“ (101)*
Und:
„Trotz traumatischer Momente, Brüche und Probleme
gab es in meinem Leben immer auch Liebe, Versöhnung -
und Gespräche, das hat mich geprägt.
Und ich hoffe, das schimmert auch durch das Buch.“ (101)
„Zu guter Letzt I:
Ich hoffe, ich habe im biografischen Teil
nicht zu viel Persönliches zugemutet […] Doch die Neverboys und –girls
von gestern sind oft die depressiven Bettergirls und –boys von morgen,
und falls nur ein Mensch sich in dieser Beschreibung gesehen fühlt,
war es mir das schon wert.“ (381)
*In Ergänzung: Die gesamte Passage (auf Seite 101), der diese drei Zeilen entnommen sind, lautet:
"Ich habe Schreiben gelernt, um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind. Etwas mit meiner Schwester (die ähnliche Erfahrunge gemacht hat wie ich und der ich Vom Ende der Einsamkeit widmete, da es ihr viel verdankt). Mit meiner Mutter (die wie bei den Romanen davor kluge Fragen und Anmerkungen zur Geschichte hatte). Mit meinem Vater (dem ich das Manuskript mal in mehreren Nächten vorlas). Trotz traumatischer Momente, Brüche und Probleme gab es in meinem Leben immer auch Liebe, Versöhnung und Gespräche, das hat mich geprägt. Und ich hoffe, das schimmert auch durch das Buch."
Liest man in Die Geschichten in uns die Passagen, in denen sich Benedict Wells mit den extrem belastenden Momenten seiner Kindheit auseinandersetzt, lässt sich erst einigermaßen angemessen erahnen, wie bedeutsam sich sein Resümee auf Seite 381 ausnimmt. Er schreibt dort:
"Meine Mutter konnte sich mit ihrem psychologischen Blick in alle Figuren hineindenken; dann diskutierten wir bei einem Essen über Alvas Vater oder die korrekte Darstellung der bipolaren Krankheit in Fast genial, aber auch über alles Mögliche andere. Diese liebevollen Momente und Besuche bei ihr nach schwierigen Jahren sind unendlich kostbar für mich; ein kleines Wunder und der Beweis, dass man nie aufhören sollte zu hoffen.
Mein Vater freute sich über alles, was ich machte und schrieb. Ein Jahr vor seinem Tod ließ er sich auch dieses Buch - Die Geschichten in uns - von mir vorlesen und kommentierte gut gelaunt die Stellen über sich selbst, besonders die kritischeren. Wenn er Geschichten erzählte, wurde selbst in der größte Unordnung schlagartig gemütlich. Seine Zuneigung und die inspirierenden, oft sehr lustigen Gespräche mit gehören zum Schönsten in meinem Leben."
Dies schreibt eben jener Benedict Wells, der weder sich noch seine Eltern schont mit dem Blick auf eine einsame Kindheit in materieller Not, die er auf Seite 34 in Die Geschichten in uns nur andeutet:
"Ich hatte auch keine Worte für die Einsamkeit in Gesellschaft anderer, die sich in den dreizehn Jahren im Heim entwickelte. Für die Kluft zwischen dem begüterten Zuhause, das viele Ausßenstehende bei mir aufgrund meiner Herkunft annahmen, un der Realität mit Psychatrien, Drogen, leerem Kühlschrank und Verwahrlosung. Für die Scham, wenn ich in den Ferien mal wieder den Gerichtsvollzieher, den ich öfter sah als die meisten Verwandten, durch unsere sagenhaft vermüllte Wohnung führte. Wie ich durch seine Augen begriff, dass wir statt in Betten nur auf versifften Matratzen am Boden schliefen, während er bei all dem Gerümpel nie etwas zum Pfänden fand (meine Sorge galt jedes Mal dem uralten Riesenfernseher)."
Heute morgen - am 31.12.2024 - lief in der ARD die letzte Verfilmung (2017) des Doppelten Lottchens von Erich Käster. Ich las mich noch einmal in den Kommentar der Gesamtausgabe zu: Erich Kästner: Eintritt frei! Kinder die Hälfte! - Romane für Kinder II (erschienen im Carl Hanser Verlag, München 1998) von Franz Josef Görtz ein - immer geht es auch um kaputte, geschiedene Trennungsfamilien, ganz besonders natürlich beim Doppelten Lottchen. Einer der Hintergründe liegt dabei zweifellos in der besonderen Beziehung Erich Kästners zu seiner Mutter. Franz Josef Görtz bemerkt auf Seite 669:
"Und wie Emil lieben auch Fabian, lieben auch Rolf Klarus aus der Kinderkaserne und Fritz Hagedorn aus Drei Männer im Schnee einen Menschen über alles: Die Mutter. Ganz so wie Erich Kästner selber."
Jener Kästner, zu dem Franz Josef Görtz (a.a.O., Seite 679f.) anmerkt:
"Es ist das Märchen von der Vernunft, das Kästner erzählt, wider besseres Wissen, doch in gutem Glauben: >Es war einmal ein netter alter Herr, der hatte die Unart, sich ab und zu vernünftige Dinge auszudenken. Das heißt: Zur Unart wurde seine Gewohnheit eigentlich erst dadurch, daß er das, was er sich jeweils ausgedacht hatte, nicht für sich behielt, sondern den Fachleuten vorzutrage pflegte. Da er reich und trotz seiner plausiblen Einfälle angesehen war, mußten sie ihm, wenn auch mit knirschenden Ohren, aufs geduldigste zuhören. Und es gibt gewiß für Fachleute keine ärgere Qual als die, lächelnden Gesichts einem vernünftigen Vorschlage zu lauschen. Denn die Vernunft, das weiß jeder, vereinfacht das Schwierige in einer Weise, die den Männern vom Fach nicht geheuer und somit ungeheuerlich erscheinen muß. Sie empfinden dergleichen zu Recht als einen unerlaubten Eingriff in ihre mühsam erworbenen und verteidigten Befugnisse. Was, fragt man sich mit ihnen, sollten die Ärmsten wirklich tun, wenn sienicht herrschten, sondern statt ihrer die Vernunft regierte<. Ein Traum, und Kästner träumte ihn sein Leben lang: daß einmal, ein einziges Mal, Vernunft walten und schalten dürfe in den Angelegenheiten, die das menschliche und vor allem das zwischenmenschliche Leben betreffen. Es ist der Traum eines Idealisten,der sich selbst einen Moralisten nennt und als >Urenkel der deutschen Aufklärung< begreift: >Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder glaubte, doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand.< Eine Klemme, aus der dem Kinderbuch-Autor Erich Kästner nur das Märchen hilft: das Märchen von der Vernunft, an das der Lyriker, der Kabarettist, der Publizist gleichen Namens längst nicht mehr glaubt."
So ergibt sich denn eine weiter unvermeidbare Hommage an den Lyriker Erich Kästner, die ich Benedict Wells widme, der im Rückblick auf eine - von außen betrachtet - desaströse Kindheit alle Selbstgerechtigkeit fahren lässt. Erich Kästner zeigt in der Tat zwei Gesichter, das versöhnliche in seinen Kinderromanen und das bitter-sarkastisch-ironische in vielen seiner Gedichte, so in: Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühen - hier zuerst im Original und dann in meiner Adaption:
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Kennst Du das Land... Hommage an Erich Kästner
von Erich Kästner und Benedict Wells
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Kennst Du das Land, wo Selbstgerechte blühn? Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn Dort stehn die Söhne stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen. bemühen trotzerfüllt sich zu entfernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe. Dort wachsen unter ausgefeiltem Intellekt
Und unsichtbare Helme trägt man dort. Gedanken, die jagen alle Herzensliebe fort;
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe. Ein Ethos hat man dort entdeckt
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort! Aus reinem Geist, kein Blut fließt dort.
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will Wenn dort ein Vater etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen - - was hat so einer schon zu wollen?
steht der Verstand erst stramm und zweitens still. Dann schweigen alle still,
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen! Die Augen und die Ohren zu, die Münder ganz verquollen.
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen Die Kinder sind hier weder süß noch auserkoren,
und mit gezognem Scheitel auf die Welt. Die taumeln ohne Orientierung durch die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren. Dort wird man nicht als Sohn, als Schwesterlein geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält. Dort will man schlicht, dass man die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein. Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen? Es könnte glücklich sein und alle glücklich machen!
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein Dort müsste jemand sein und schwören Stein und Bein:
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen. Nun will ich friedlich sein, begrab die alten Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann! Selbst Geist und Güte kehren nun zusammen ein.
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen. Und wahres Heldentum strebt hin zu neuen Zielen
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann. Jetzt weckt das Kind den wackren Mann
Das will mit Bleisoldaten spielen. Und will Familie spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. Dort reift Vernunft nun endlich aus und bleibt nicht grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen. Was man auch baut, man will draus lernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Kennst Du das Land, wo Freiheit und Vernunft erblühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! Du kennst es nicht? - Wir wollen von ihm lernen.