Mit der Mischpoke gegen die Wand? Oder vielleicht doch haarscharf drumherum?
Vor einem knappen Jahr elektrisierte mich in einer Ausgabe des ZEIT-Magazins ein Interview mit Andreas Mühe. Wieder einmal - einmal mehr - war eine Initialzündung gegeben sich hineinzubegeben in die Höhlen- manche würden auch sagen - in die Höllenlandschaft einer Familiendynamik, in der vieles in Bewegung ist, in der ein Klimawandel einsetzt mit der Folge, dass gemäßigte Zonen mehr und mehr auch extreme Wetterlagen erleben - mit Starkregen, Dürren und Hagelschlag.
Im aktuellen ZEIT-Magazin vom 11.4.2019 (Nr. 16) erwischt mich derselbe Andreas Mühe erneut: "Familienporträt - Drei Jahre arbeitete der Fotograf Andreas Mühe an Porträts seiner Familie, für die er verstorbene Verwandte als Puppen nachbauen ließ, darunter seinen Vater Ulrich Mühe."
In DIN A3-Format inszeniert Andreas Mühe - wie auf einer Bühne (so der Kommentar der ZEIT-Redaktion) - seine Familie väterlicherseits in dem Foto "Mühe II, Mischpoche". Der Text liefert auf der einen Seite - im Sinne einer unausweichlichen Selektion - einen informativen Cocktail, hinter dem immer noch das Ringen um Konsistenz und Verstehen spürbar ist; auf der anderen Seite verdichtet er diesen Informationsbrei im Sinne dieses Ringens zu erzählbaren Geschichten.
Was fotografisch sichtbar wird, sind in der Tat Porträts ihrer Schlüsselfiguren, die zu statischen Familienrekonstruktionen arrangiert werden. Es sind das Gesamtarrangement, Haltung und Blickrichtung, Mimik und Gestik sowie Kleidung, die Rückschlüsse erlauben bzw. nahelegen mit Blick darauf, wie sich die einzelnen Akteure wohl fühlen mögen. Es sind also eher Skulpturen - keine Aufstellungen, die Bewegung und Dynamik ermöglichen würden, die insofern auch keine Lösungen anbieten bzw. anstreben.
Mir hat das aber gereicht, weil ich mit Blick auf Statik und Dynamik eines Zweiges meiner Familie dazu angeregt werde, von mir aus vergleichbare Inszenierungen vorzunehmen. Dazu muss ich weder Puppen bauen lassen noch muss ich mir die gesamte Mischpoke - soweit noch mobilisierbar - auf eine Bühne holen. Aber eines rückt umso eindrücklicher in den Vordergrund, je älter ich werde: Vater und Mutter treten mit dem zeitlichen Abstand, der zwischen ihren Tod und meine gegenwärtige geistige und emotionale Präsenz rückt, immer deutlicher hervor. Dazu und zu dem, was ihnen und mir generativ vorausgeht, vermehren sich die Fragen. Deren Beantwortung könnte einen Beitrag leisten zu einem Familienporträt, bei dem niemand ausgeschlossen wäre. Um mich nun nicht endlos zu wiederholen, stelle ich mir vor, eher jene Facetten zu beleuchten, die bislang bei allen Bemühungen um Rekonstruktion und Deutung eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Ich werde bei Gelegenheit ein Genogramm einfügen, um wenigstens die genealogischen Linien transparent zum machen. Beginnen möchte ich aber mit Erinnerungen, die auf emotional gefärbten Zugängen basieren, die teils aber durch handfeste Dokumente gestützt werden:
Andreas Mühe unterliegt der großen (Sehn-)Sucht ein Vaterbild zu bewahren - vielleicht auch zu schaffen, bei dem in den Vordergrund rückt, dass der Vater sich "vom abwesenden Star zu einem Vertrauten" wandelt: "Er reist mit seinem Vater zur Oscarverleihung, und gemeinsam mit seinen Geschwistern begleitet er ihn bis zu seinem Tod." Mein Vaterbild hat sich über all die Jahre unserer gemeinsamen Zeit bis hinein in die Gegenwart positiv ausgeprägt - mit der bemerkenswerten Tatsache, dies von einem ungewöhnlich hohen Ausgangsniveau aus feststellen zu können:
Mein Vater ist am 11.12.1922 geboren worden. Er hat Lesen und Schreiben gelernt, hat eine Lehre als Zimmermann begonnen, ist ab 1940 - noch keine 18 Jahre alt - zum Reichsarbeitsdienst RAD eingezogen worden. 1941 Soldat erfolgte seine Einberufung mit einer Zuweisung zur 65. Infanteriedivision. Er hat Flugzeughallen in Frankreich gebaut, war als Besatzungssoldat in Holland und hat den gesamten Italienfeldzug er- und überlebt. 1945 ist er in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Er kam schon Ende 1945 - auf nie bescheinigte Weise - kriegsversehrt nach Hause. Ich bin ganz und gar überzeugt davon, dass seine Splitterdeponien neben den desaströsen Arbeitsbedingungen als normaler Kopfcroupier im Casino Bad Neuenahr zu seinem frühen Tod beigetragen haben. Zu Hause - in Bad Neuenahr in der Kreuzstraße - dort, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte - traf er auf die älteste Tochter der Nachbarsfamilie. Er kannte sie von Jugend an, und immer wenn er - während der Kriegsjahre von 1942 bis 1944 - auf Heimaturlaub war, geriet sie ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit; jene junge Frau, die 1941 ungewollt schwanger geworden war, und die 1942 in Flammersfeld - in einem NSV-Heim - die kleine Ursula geboren hatte, ein uneheliches Kind, oder eben im Sprachgebrauch eines erzkonservativen katholischen Milieus das, was man einen Bastard nennt. In "Hildes Geschichte" habe ich beschrieben, wie die Liebesblödigkeit Theos obsiegte - gegen die Widerstände der eigenen Mutter, die ihm immer und immer wieder in den Schädel hämmerte, dass er sich seine Kinder selbst machen könne; gegen die Vorbehalte Hildes selbst, die vermutlich in einer Mischung aus Scham und Stolz gleichermaßen jahrelang seinem Werben widerstand. Ein dickeres Brett ist vermutlich in Liebesdingen selten gebohrt worden. Erst im August 1948 heirateten Hilde und Theo. Auf dem Hochzeitsbild fehlt bereits Theos Mutter, sie verstarb kurz vor der Hochzeit. Die kleine Ursula sitzt zwischen Hilde und Theo. Vielleicht kennzeichnet ein "Dazwischen" das Fluidum, in dem sich Ursula fortan bewegte; mit der Besonderheit, dass Theo diesen Schwebezustand nie hat ins Unerträgliche abgleiten lassen. Um zu verdeutlichen, was ich damit sagen will, springe ich ins Jahr 1988. Die Spanne von vierzig Jahren umfasst das gemeinsame Leben von Hilde, Theo und Ursula (1952 kam ich und 1955 kam Willi dazu). Am 24. April 1988 ist Theo im Alter von 65 Jahren verstorben. Über alle Maßen bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass Ulla - Theos Adoptivtochter - einen Monat zuvor die Festrede zu seinem 65stem Geburtstag gehalten hat. Sie hat in dieser Rede betont, dass sie - wie es in der Todesanzeige steht - einen "herzensguten" Vater gehabt habe. Dafür gibt es in der Tat Zeugen. Bezeugen können dies - je älter sie wurden - ihre beiden Brüder, Franz Josef und Wilfried - ganz sicher auch unsere Cousine Gaby. Willi lebt leider nicht mehr. Er ist vor 25 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich wähle nun einmal das Mittel der stichwortartigen Charakterisierung eines Mannes, der als Vater keinen Unterschied gemacht hat zwischen seinen beiden leiblichen Kindern und dem Bastard, der 1942 unehelich geborenen Adoptivtochter:
- Da wo Wahrnehmung zunehmend auch in reflektierte Beobachtung und Bewertung übergeht, verdichtet sich ein Bild, bei dem der Vater in einem eher schwierigen, konfliktbeladenen Mutter-Tochter-Verhältnis häufig einen ausgleichenden Part einnahm. Dabei dominiert - einmal abgesehen von atmosphärischen Eindrücken - eine Haltung des Vaters, die nie einen erkennbaren Unterschied zwischen den eigenen Söhnen und der adoptierten Tochter erkennen ließ. Im Gegenteil hatten wir Schwierigkeiten, die irgendwann nicht zu übersehenden Altersdifferenzen verstehen zu können, die zwischen der 1942 geborenen Schwester und den 10 bzw. 13 Jahren später geborenen Söhnen ins Bewusstsein drängten. Trotz dieser Altersdifferenz kamen wir beiden Brüder nicht auf die Idee, die Vaterschaft unseres Vaters auch der Schwester gegenüber in Zweifel zu ziehen. Die letzten Lebensjahre unseres Vaters verstärkten den Eindruck einer vorbehaltlosen liebevollen Bindung all seinen Kindern gegenüber. Unser Vater hatte ein dichtes und filigranes Netzwerk gesponnen, das uns jede erdenkliche Form der Unterstützung gleichermaßen selbstverständlich wie diskret zu teil werden ließ.
- Die Theorie des Referenzrahmens lehrt uns Abstand zu nehmen von dem untauglichen Versuch, Lebensweisen, Handlungsweisen, emotionale und kognitive Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster unserer je aktuellen Lebensweltbezüge nahtlos zu übertragen auf historisch, sozial, kulturell und politisch gänzlich andere Rahmenvorgaben, denen unsere Eltern oder gar Großeltern ausgesetzt waren. Eine kaum fassbare bzw. begreifliche Dimension nachträglichen Erstaunens ergibt sich daher für mich aus der radikalen Interpretation der Vaterrolle, die Theo Ursula gegenüber (aus-)gelebt und vertreten hat. Dazu muss man sich zunächst einmal klar machen, dass die ungewollte Schwangerschaft Hildes zur absoluten Unzeit (im achtzehnten Lebensjahr) innerhalb eines erzkatholischen kleinstädtischen Milieus dem schlimmstmöglichen Unglück gleichkam; ein Unglück, das zweifellos selbstverschuldet war und das sich über die Zeit einer neunmonatigen Schwangerschaft unvermeidbarer Weise buchstäblich zu einem weiblichen Kainsmal auswuchs. Die sich auswachsende Verkörperung der Sünde führte denn auch zu der unausweichlichen Konsequenz, dass Hilde aus dem Blickfeld einer gleichermaßen entrüsteten wie selbstgerechten Gemeinde verschwinden musste. Es kommt einem Treppenwitz der Geschichte gleich, dass Hildes Aufnahme in einem Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (in Flammersfeld/WW) eine Geburtsvorbereitung in der Obhut professioneller Hebammen und Gynäkologen bedeutete. Dort erblickte Ursula als gesundes, properes Mädel am 5.6.1942 - wie man so schön sagt - das Licht der Welt; 28 Tage vor Hildes achtzehntem Geburtstag!
- Hilde ist im Sommer 1942 - eben 18 Jahre alt - mit Ursula nach Bad Neuenahr zurückgekehrt. Erst viele Jahrzehnte später ist ihren Kindern klar geworden, wie sehr das Stigma des gefallenen Mädchens und die uneheliche Ausgeburt ihres Sündenfalls die Jugend und das Erwachsenwerden Hildes geprägt haben. Theo ist im Verlauf seiner Soldatenzeit viermal auf Urlaub in Bad Neuenahr gewesen - Im Dezember 1942, im September 1943, im Februar 1944 und im Oktober 1944. Die einem schwarzen Loch gleichkommende Anziehungskraft, die Hilde auf den eben einmal 1 1/2 Jahre älteren Nachbarsjungen ausübte, hat Theo ganz offensichtlich sehr früh und ganz nebenbei einen Narren an der kleinen Ursula fressen lassen. Ich habe das in Hildes Geschichte auf S. 202f. angedeutet. Es muss mehr als Solidarität gewesen sein, mehr als nur Empathie; Theo hat sehr früh eine unverbrüchliche emotionale Bindung an Hildes Tochter in sich ausgebildet. Nimmt man die Bilder hinzu, die Ernst - Theos Schwiegersohn -, und die Michael - Theos Enkel -, die beide nicht mit ihm verwandt sind immer wieder in vielen Facetten aufscheinen lassen, dann weiß man spätestens, dass Theo eine tiefe nachhaltige gleichermaßen emotionale wie wohlwollende Beziehungsgabe in sich trug, die heute in uns allen noch nachhallt. Ich möchte dies ganz besonders meinen Töchtern und meinen Nichten vermitteln, denen es allesamt nicht mehr vergönnt war, ihren Großvater väterlicherseits wirklich kennenzulernen.
All dies ist nicht selbstverständlich. Man muss Theo wohl das zuschreiben, was man Herzensbildung nennt. Selbst in extremen Situationen da zu sein - gewissermaßen unverrückbar - bedeutet dies, was man mit Blick auf die Ahnen als "guten Wind" verstehen mag. Auch hier mag man es eine Ironie des Schicksals ansehen, dass Theo - ebenso wie Ursula - Michael, ihren Sohn in sein Herz geschlossen hat, 24 Jahre bevor ihm die erste eigene Enkelin geboren wurde. Nichts liegt mir ferner, als den guten Menschen aus der Kreuzstraße in unerträgliche Höhen eines Gutmenschen hinein zu stilisieren. Aber er wächst immer noch über uns hinaus - vor allem angesichts der Nöte, die im Verwandtenkreis die Herzen engt. Und es mag sein, dass Theo es tatsächlich nicht verstanden hätte - wie sein Schwiegersohn immer wieder betont -, dass seine geliebte Tochter nach seinem Tod begann behutsam, aber konsequent ihre Herkunft aufzuklären. Ich bin mir da ganz und gar nicht sicher! Vielleicht hätte er uns helfen können zu verstehen, was sich im tausendjährigen Reich zugetragen hat, was die Seelen, die Herzen und auch den Geist ganzer Generationenkohorten verdarb. Wer diesen Gesinnungsterror und den Missbrauch seiner soldatischen Tugenden und seines Opfermuts überlebt hat, der musste zeigen, inwieweit er bereit war in einem neuen Deutschland, dessen demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung den 8. Mai 1945 eben in der Retrospektive nicht als Niederlage, sondern als Tag der Befreiung erscheinen lassen, seinen Beitrag zu leisten. Welche Verantwortung den Nachkriegsgeborenen damit zugefallen ist, werde ich weiter unten thematisieren (es lohnt sich aber auch hier schon der Frage nachzugehen, warum Alexander Gauland keine Drecksau ist).
Der Sprung, den ich jetzt wage, den haben andere vor mir gewagt. Aus ihren Bemühungen beziehe ich jene Einsichten und Sätze, mit denen ich uns zur Besinnung anregen möchte. Dass mir das überhaupt möglich ist, verdanke ich schlicht der Tatsache, dass Theo den Krieg - wohlmöglich haarscharf - überlebt hat. Mein unausgesetzter existentieller Schwindel beruht auf der Tatsache, dass jemand wie er, der alle Attribute in sich vereinte, die man dem stilisierten Mythos des deutschen Soldaten zuschrieb, nämlich flink wie ein Windhund zu sein, hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder, dass jemand wie er diesen Krieg überlebt hat und sowohl mich als auch meinen Bruder mit in diese Welt befördert hat. Theo Witsch hat - wie ca. 18 Millionen deutsche Soldaten einen Eid auf den Führer geleistet. Man hat ihm das Eiserne Kreuz verliehen und das Verwundetenabzeichen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser 18jährige Junge nachhaltig gezweifelt hat an der Berechtigung diesen Krieg zu führen. Inwieweit die Nazi-Ideologie (Blut und Boden - Volk ohne Raum - die Sonderstellung der arischen Rasse und die Minderwertigkeit, das "Untermenschentum" der jüdischen und slawischen Rassen) ihn erreicht haben, vermag ich nicht zu berurteilen. Theo hat über seine Soldatenzeit ein Fotoalbum geführt. Es zeigt ihn immer wieder im Kreis von Kriegskameraden - häufig im Mittelpunkt stehend mit seinem Akkordeon. Es erschließt sich mir nicht annähernd, wie es ihm gelungen ist, dieses Akkordeon, das er - weitgehend unversehrt nach Hause gebracht hat - durch die Kriegswirren zu bugsieren. Es gibt Fotos, die ihn mit Hund und Pferd zeigen. Es gibt Fotos von Pferdekadavern und Bombentrichtern, abgestürzten Flugzeugen und abgeschossenen Panzern. Es gibt eine Fotostrecke von 5 Fotos, die ihn bei einer Wehrübung auf Schmittenhöhe in Koblenz zeigen. Die Fotos entstammen der Kamera eines SS-Kriegs-Berichterstatters.
Jahre später bestätigen die von mir bis heute gehüteten Fotos das Vaterbild, das ich weiter oben skizziert habe. Trotz der vermutlich soldatisch untadeligen Haltung Theos sehe ich ihn nicht als Nazi oder Vertreter der Naziideologie. Er verfügte weder über die Gnade der frühen noch der späten Geburt. Als Angehöriger des Jahrgangs 1922 stellte er mit den etwa 10 Jahrgängen vor ihm und sicher mit den 5 bis 6 auf ihn folgenden Jahrgängen das Gros der Frontsoldaten. Und er hatte - wie betont - das Glück nicht zu den ca. 5,2 Millionen getöteten deutschen Soldaten zu gehören. Zu diesen 5,2 Millionen gehört aber Franz Streit. Er hatte sich bei Hilde das jus primae noctis erschmeichelt, was zur gänzlich unwahrscheinlichen, aber gleichwohl trivialen Zeugung und Geburt Ursulas geführt hatte - jener Ursula, die Theo adoptieren wird, jene Ursula, die am 15. März 1988 in Bad Bodendorf auf der nachgetragenen 65. Geburtstagsfeier bekennen wird, dass sie keinen besseren Vater hätte haben können. Ich habe gelernt, den Lebenslauf als eine Form zu begreifen für die unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens; so zum Beispiel folgender Geschehnisse (und ihrer Bewertung) :
- Der folgenreichen Begegnung Hilde Lahnsteins und Franz Streits -
- einer finalen Liebesbeziehung dieser beiden Menschen - einer 17jährigen und eines 27jährigen, denen die galaktische Macht des Eros die Kraft und die Blödigkeit verlieh, etwas zu tun, was sich in den Konsequenzen dem Denken und Fühlen - vor allem einer 17jährigen jungen Frau in einem erzkatholischen sozialen und familialen Milieu im Ahrtal im Jahr des Herrn 1941 als vollkommen unvorstellbare Handlungsoption offenbart hätte, wäre sie bei Verstand gewesen und geblieben!
- Sie - Hilde Lahnstein - hätte weder empfangen noch geboren jene Frau, die ihren Vater nie kennenlernen wird, die Theo adoptieren wird, in deren Leben 1952 der ältere und 1955 der jüngere Bruder treten werden, so wie im Jahre 2000, als der jüngere Bruder auf dem Weg nach Österreich bei einem Flugzeugabsturz sein Leben schon verloren hatte - auf absurd kontingente Weise - auf ähnlich absurd kontingente Weise dann zwei weitere Brüder in ihr Leben treten: Gert, 1940 geboren und Werner geboren 1942 ein halbes Jahr nach Ursula seine Schwester, die er mit Gert 60 Jahre später kennenlernen wird - 57 Jahre nach dem Tod ihres gemeinsamen Vaters Franz Streit!
- 1962 wäre Michael - der Sohn Ursulas - der Neffe von Franz Josef, Wilfried, Gert und Werner als der Mensch, der er heute ist, nicht geboren worden. Alexander Kluge mahnt uns zu der schlichten Einsicht, dass wir unter unseren 8 Urgroßeltern nicht geboren sein würden. Und er besänftigt uns mit dem Hinweis, dass sich grundsätzlich 8 Urgroßeltern gewiss keine Vorstellung davon machen können, in wem sie da einmal zusammenkommen werden - Alexander Kluge bemerkt sogar süffisant, dass man selbst bei der Erinnerung an diese 8, unter deren Gabe wir nicht geboren sein werden, den Eindruck gewinnen müsste, bei uns selbst müsste ständig Bürgerkrieg herrschen. Ich habe das im Übrigen heute Nachmittag (15.4.2019) in besonders beeindruckender Weise vor Augen gehabt, als ich mit meiner jüngsten Tochter Anne bei ihrer Oma im Altenheim war: Anne - kurz vor der Niederkunft - ihrer Oma (95 - Jahrgang 1923) gegenübersitzend, die ihr über den Bauch streichelt und sich auf ihre Urenkelin/ihren Urenkel freut; eindrücklicher kann man sich Alexander Kluges Hinweis nicht vor Augen führen!
- Wenn wir - mit Odo Marquardt - weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind, dann lasst uns immer wieder erinnern, wie wir allein mit dem Menschen zusammengekommen sind, mit dem wir gemeinsam unserem Kind/unseren Kindern das Leben geschenkt haben - vice versa!!! Wir besinnen uns dann auf der einen Seite aller Einzigartigkeiten und Köstlichkeiten, die unser Zusammenkommen begleitet haben, so wie wir uns - zumindest dann, wenn wir die verlockenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme halbwegs in Schach halten - erinnern und besinnen, welch Unglück wir unter Umständen über andere Menschen gebracht haben, mit denen wir fest verbunden waren, mit denen wir womöglich schon Kinder in diese Welt bugsiert hatten; Menschen, von denen wir angenommen haben, dass wir jeweils die Besseren sind, die besseren für den, den wir auserkoren hatten, von dem wir uns auserkoren gefühlt haben. Alle Selbstgerechtigkeit und alle Chuzpe würde von uns auf der Stelle abfallen. Das könnte helfen, aktuelle Krisen besser zu verstehen oder überhaupt erst die Frage zuzulassen, ob heute (noch) alles so gut ist, wie wir es erhofft hatten.
- Die Geburt unserer Kinder und die daraus folgenden Überraschungen: Wer kommt da in unseren Kindern zusammen? Warum sind die so, wie sie sind und nicht anders? Sind die überhaupt so, wie wir sie sehen - oder nicht vielleicht doch ganz anders? Möglicherweise sind sie doch eher so, wie sie sich selbst sehen! Und was bedeutet das über einen ganzen Lebenslauf. Müssen wir uns immer wieder überraschen lassen? Und es bleibt natürlich eine ewig offene Frage, ob zum Beispiel unsere Erziehung gesetzte Ziele erreicht oder nicht, ob unsere Erwartungen erfüllt werden oder nicht, ob wir die Erwartungen der anderen erfüllen? - und bekanntermaßen kommt ja beides vor! Und wer sind wir für unsere Eltern? Und was geschieht mit jemandem, der seine Eltern womöglich nicht leiden kann? Was bedeutet das für seine eigenen Kinder?
Wohin führen all diese Fragen? Vor allem wozu führen sie eingedenk der Tatsache, dass die Zukunft unbekannt bleibt und Überraschungen bereit hält?
"Die Beschreibung 'Lebenslauf' legt eine ständige Wiederbeschreibung nahe mit jeweils neuen Kompromissen zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Sie mag erklären, weshalb man so geworden ist, wie man sich vorfindet; aber sie garantiert nicht, dass diese Beschreibung auch morgen noch überzeugt. Diese Auffassung des Begriffs Lebenslauf hat keine teleologische Struktur. Sie formuliert keine Erziehungsziele. Sie ist abgestimmt auf die Unterscheidung von Medium und Form. Der aus Wendepunkten bestehende Lebenslauf ist einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andereseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Standpunkt aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und verschließen (Niklas Luhman: Erziehung als Formung des Lebenslaufs, Frankfurt 1997, S. 21f.)."
Was mag beispielsweise an skriptartigen Narrativen im Sinne von Kontinuität und Diskontinuität überwiegen? Mich berühren Deutung und Umdeutung des Vaterbildes, das sich Andreas Mühe zurechtlegt:
Da ist der Vater, der fünf Kinder mit drei Frauen hat; der Vater, der mit Andreas (*1979) und Konrad (*1982), den Söhnen aus erster Ehe, "für kurze Zeit allein in Karl-Marx-Stadt lebt", der aber "kaum in Berlin seine erste Familie hinter sich lässt - die Söhne bleiben bei der Mutter, in ihren ersten Lebensjahren bekommen sie ihren Vater selten zu sehen". Der Vater verliebt sich neu - 1984 wird Anna Maria geboren. 1989 fällt die Mauer. Im ZEIT-Magazin steht zu lesen: Für Ulrich Mühe "muss es ein Schock gewesen sein. Eben noch wird er in einem Theaterstück gefeiert, so hat es der Schriftsteller Jochen Schmidt nach Mühes Tod bechrieben, wenn er als Shylocks Diener im Kaufmann von Venedig ein paar Mauersteine übereinanderlegt und laut darüber nachdenkt, 'ob er drüberspringen und seinen Herrn verlassen sollte'. Im nächsten Moment existiert die Mauer einfach nicht mehr, ebenso das Land, das Mühes Resonanzraum war. In dieser Zeit verliebt er sich wieder. Er arbeitet mit der Hamburger Schauspielerin Susanne Lothar zusammen, einem Star aus dem Westen, bekannt für ihre radikalen Rollen, sie werden ein Paar, heiraten und bekommen zwei Kinder. Sie bleiben bis zu ihrem Tod zusammen."
Im ZEIT-Magazin werden die Irrungen und Wirrungen - vor allem auch die Kränkungen und gegenseitigen Beschuldigungen zum "Drama der Familie Mühe" verdichtet. Andreas Mühe hat ganz offensichtlich folgende Passage dann autorisiert, die am eindrücklichsten die Sehnsucht nach Erlösung und vielleicht auch so etwas wie deren Erfüllung veranschaulicht:
"Das Verhältnis zwischen Ulrich Mühe und seinem Sohn Andreas wird in den Jahren vor Mühes Tod besser und besser. Der Vater wandelt sich vom abwesenden Star zu einem Vertrauten. 'Wir sind uns am Ende meiner Pubertät nahegekommen, von meinem 16. Lebensjahr bis zu seinem Tod, da war ich 27', sagt Andreas Mühe. 'Er war ein sensibler Mensch, ich glaube, das bin ich auch, darin haben wir uns gegenseitig erkannt am Ende seines Lebens.' Er reist mit seinem Vater zur Oscarverleihung, und gemeinsam mit seinen Geschwistern begleitet er ihn bis zu seinem Tod."
Andreas Mühe konnte - es irgendwann leiden. Die wenigen weiter oben eingefügten biografischen Splitter mögen eine Vorstellung davon vermitteln, was mit es gemeint sein mag. Dass er es irgendwann leiden konnte, hängt ganz sicher mit seiner Bereitschaft zusammen, sich den Dramen in seiner Familie - und letztlich dem Gesamtkonstrukt Familie zu stellen. Er hat radikal damit begonnen, sich seine Familie v o r z u s t e l l e n - er weicht dieser Konfrontation nicht aus; möglicherweise mit einer jämmerlichen Haltung, die ihn zirkulär und auswegslos immer wieder darin bestätigt hätte, es nicht leiden zu können. Ja, ich folge dem alten Bert Hellinger - als er noch bei Vernunft war -, wenn er sagt, wir haben unsere Eltern und Großeltern so zu nehmen wie sie sind und wie sie waren. Wir haben nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen. Die Aufgabe, die uns mit Blick auf unsere eigene Gegenwart und Verantwortung sowie mit Blick auf unsere Kinder zufällt, hat sich darauf zu konzentrieren, wie in die deutsche Geschichte das Barbarentum Einzug halten konnte - und wie wir verhindern, dass Barbaren wieder Einfluss auf den Gang der Geschichte nehmen!
Ein kleiner Exurs (erfolgt bei mir immer, wenn ich nicht weiterweiß):
Mit Günter Grass, Niklas Luhmann und Wolfgang Klafki nenne ich lediglich drei Angehörige des Jahrgangs 1927. Alle drei waren Soldaten, der eine Angehöriger einer SS-Elite-Einheit, die beiden anderen Flakhelfer, die bis zuletzt ihre Pflicht erfüllt haben. Grass hat zu lange geschwiegen, Luhmann ist Soziologe geworden, wollte verstehen und nicht verrückt werden. Am eindrücklichsten hat Wolfgang Klafki versucht zu erklären (Drittes Kapitel), wie Generationen junger Männer den ideologischen Verlockungen der Nazis erlagen. Er hat sehr viel früher, als es Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 als Präsident dieser Republik öffentlich bekannte, den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung begriffen.