Von Putzerfischen und Schmeißfliegen
"Viele Frauen sind zu leicht zu beeindrucken. Sie umschwirren die Männer wie Putzerfische den Hai" von Sabine Rückert (ZEIT 6/2016, Seite 50) - und die Replik von Miriam Lau (ZEIT 10/2016, S. 56)
Sabine Rückert liest ihren Geschlechtsgenossinnen die Leviten und putzt die Männer runter - und dies vollkommen zu Recht. Ich selbst stehe kurz vor meinem 64. Geburtstag und habe letzte Woche das Datum meiner Versetzung in den Ruhestand mitgeteilt bekommen. Noch drei Semester, und es ist vollbracht. Ich darf (fast) alles sagen. Seit geraumer Zeit bin ich aus der harten Wettbewerbszone entlassen. Ich bin gesund. Es geht mir gut, und ich nehme die 10 Gebote Sabine Rückerts zum Anlass einer kritischen Selbstbesinnung. Die Lektüre Sabine Rückerts empfehle ich meinen Töchtern und meinen Nichten - den Töchtern meines verstorbenen Bruders; insbesondere Kathrin, die in absehbarer Zeit der ZEIT für eine befristete Zeit kooptiert sein wird, jener ZEIT, die ich so sehr schätze und deren Chefredaktion eben auch Sabine Rückert angehört. Im Übrigen sind meine Töchter und Nichten im heiratsfähigen Alter. Und es wird geheiratet. In diesem Jahr gehen die beiden Ältesten, Laura (meine Tochter) und Ann-Christin (meine Nichte und mein Patenkind) den Bund der Ehe ein. Und schon geht es mit Sabine Rückert auf die Reise in ein von ihr aufgespanntes intellektuelles Spannungsfeld - und im Übrigen auf eine emotionale Achterbahn, liebe Sabine Rückert, die man vermutlich erst verkraftet und übersteht, wenn man, wie wir beide, bereits im gesetzteren Alter ist:
1. Platon lügt
Sabine Rückert setzt den griechischen Philosophen Platon unter Ideologieverdacht. Der aber lebte doch vor unvorstellbar langer Zeit - vor etwa 2500 Jahren. Die Flause - wie Sabine Rückert meint -, die er uns in den Kopf gesetzt habe, laufe darauf hinaus uns ein Lebensgefühl als "unvollständige Hälften" zu suggerieren. Ursprünglich seien wir als Kugel gemacht gewesen - mit vier Armen und mit vier Beinen. Dieses Lebensgefühl - voll und rund zu sein und deshalb selbstbewusst - habe die Götter irritiert und neidisch gemacht.
"So schnitten die Götter die Kugel entzwei und warfen die Hälften auf die Erde zurück... Die Ent-Zweiung des Menschen war für Platon die Ursache allen erotischen Sehnens. Tja - und leider glauben wir noch immer daran."
Aber, liebe Sabine Rückert, das dürfen wir natürlich dem lieben Platon nicht vorwerfen. Nach Roland Barthes, nach Niklas Luhmann, nach Eva Illouz, nach Peter Fuchs - ich nenne Ihre ehemalige Redaktionskollegin Susanne Gaschke in gleichem Atemzug und könnte noch so viele nennen - sind wir nur dann die Dummen, wenn wir uns der Entzauberung der Mythen entgegenstellen. Und zugegeben, es wäre eine Schande, wenn für uns alle miteinander diese Entzauberung nicht einherginge mit dem "verzweifelten Getümmel bei der Suche nach der einzig möglichen Hälfte". Und das die Suche vergeblich sei, ist ja auch nur die halbe Wahrheit. Ok, es gibt unsere "zweite Hälfte" nicht, nur andere Kugeln, mit denen wir uns auf unbestimmte Zeit zusammentun. Und diese Kugeln, die sich da aufeinander einlassen, bilden in den seltensten Fällen optimierte Kugellager, die im Gleichklang und reibungslos laufen - gewissermaßen wie geschmiert. Was wir sehen und erleben, kommt uns häufig genug vor wie Kugeln in Unwucht - und um bei Platons Bild zu bleiben - mit unterschiedlich langen Gliedmaßen mit Beulen und schadhaften Stellen. Und wenn Ehen oder auch lose Verbindungen scheitern und "jede Kugel wieder in eine eigene Richtung rollt" mag das zwar "genauso gut" sein, aber es ist mit Schmerzen verbunden. Und dies ganz besonders dann, wenn aus den großen Kugeln kleine Kügelchen hervorgegangen sind und die vielleicht allzufrüh die eigene Richtung finden müssen.
Eine schöne besinnliche Passage entnehme ich Fulbert Steffenskys "Mut zur Endlichkeit": "Es wächst ein merkwürdiges neues Leiden, das durch überhöhte Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber entsteht. Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzeten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe also nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist. Souverän wäre es, den Durst nach dem ganzen Leben nicht zu verlieren; um es religiös auszudrücken: das Land nicht zu vergessen, in dem auch der Blinde sieht, der Stumme seinen Gesang und der Lahme seinen Tanz gefunden hat. Wenn man in dieser Weise der Endlichkeit fähig wäre, dann würde das beschädigte Leben von anderen nicht so maßlos irritieren. Wer nur Ganzheiten erträgt, gerät in Panik, wenn er die Lebensverletzungen wahrnimmt...
2. Das Happy End ist ein Mythos
Sabine Rückert meint, "Märchen, Jugendliteratur, Girls-Serien, Werbung, Collegefilme - alles zielt darauf ab, junge Frauen auf die Lebenslüge der ewigen Liebe einzustimmen und einzutrimmen". Man kann das - wie sie meint - Konditionierung nennen. Aber reicht das aus, um aus der Fiktion, dass sich die Liebenden am Schluss einander garantiert in die Arme fallen, die eigene "Lebenslüge" zu nähren. Zugegeben, die Brücken am Fluss, über die wir - zumindest in einem langen (Liebes-)Leben gehen müssen, stehen (gottseidank und in der Regel) nicht am Beginn eines Lebens als erwachsener Mensch. Und sicherlich kämen darauf Bezug nehmende Versuche einer Belehrung auch ganz sicher einer Verfrühung gleich - wir sollten nicht von vorne herein die Mythenentzifferer unserer eigenen Kinder sein wollen. Nolens volens sind wir es ja ohnehin - und dies in der Regel nicht, ohne uns (manchmal - auch moralisch) unerträglich zu verstricken! Und ganz im Vertrauen: vielen der Girlis, die mit Girls-Serien groß werden sind doch die desperate houswives ebenso vertraut, wie den Müttergenerationen Sex in the City oder ähnliche Mythenkiller. Also ich bin schon der Meinung, das wir als lebendige Produzenten vielfältigster Beziehungswüsten - der unvermeidbaren Beobachtung der Nachwachsenden ausgesetzt - die effektivsten Mythenzertrümmerer sind, die man sich vorstellen kann.
3. Er trägt dich nicht auf Händen
Ich mach jetzt eine Klammer und stimme Sabine Rückert uneingeschränkt zu: Der erste Satz: "Männer sind etwas Wunderbares, wenn man sich von ihnen nicht alles gefallen lässt." Die letzten acht Sätze: "Sie sind selbst die Autorin ihres Lebens. Ihr Konzept muss halten, auch in Krisen, dann wenn sie mit Jugendlichkeit nicht mehr punkten können. Und dieser Tag kommt. Deshalb sollten Sie sich nicht bevorzugen lassen, sich nicht unterwerfen, sich nicht abhängig machen vom Lob. Bilden Sie sich gut aus, arbeiten Sie hart, lernen sie dazu, und schauen Sie aufs Geld. Sie brauchen keinen Beschützer. Schön ist, wenn man sie mag. Aber noch wichtiger ist, dass man sie achtet."
Unter dieser Voraussetzung der Selbstachtung und des achtsamen Umgangs mit sich selbst sind sogar Erfahrungen nicht ausgeschlossen, die Peter Fuchs - im Luhmannschen Sinne einer systemtheoretischen Betrachtungsweise des Systems der Intimität (innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft) - folgendermaßen beschreibt: Während es in allen bekannten Funktionssystemen der Gesellschaft niemals um die Menschen als Ganzen gehe (in der Wirtschaft will man ihr Geld, in der Politik ihre Stimme, in der Wissenschaft ihre Expertise, in der Kunst ihr Geschmacksurteil, in der Religion ihr Glaubensbekenntnis, in der Erziehung ihr Wohlverhalten und ihren Lernerfolg, im Recht ihre Geltungsaktzeptanz usw. usw., gestatte er sich in Intimsystemen die Vorstellung - nüchterne Zeitgenossen sprechen von Illusion, es gehe um die Abgrenzung von: Wir ZWEI/Rest der Welt; nüchtern soziologisch formuliert: Es gehe um "wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz" - ja, es geht um die Vorstellung, man könnte als unverbrüchliches Ganzes gemeint sein, mit all seinen Macken mit all seinen "Idiosynkrasien". Ihr müsst es herausfinden - enttäuschungsfest und frustrationstolerant. Auwei!
4. Denken ist besser als Fühlen
Sabine Rückert nennt es "ein Requiem auf die Requisite" und nimmt die Frau als "Accessoire" in den Blick. Sie meint Frauen neigten zu so etwas: "Es gibt sie immer noch, diese Paare, da ist er 100%, und sie ist der Rest." Und sie ermahnt die Frauen zum "Selber-Leben" und zum "Selber-Machen - das "Selber-Scheitern" und "Selber-Gewinnen" eingeschlossen. Was soll man dazu sagen? Alle "100%-Konfigurationen" kommen einer Verwürfelung der Kugel gleich: Nichts rollt mehr, nichts bewegt sich mehr! Ob bei Männern oder Frauen - hier kommt alle Entwicklungshilfe zu spät! Ich folge Sabine Rückerts Warnungen vor symbiotischen Phantasien - zumal, wenn Mann oder Frau im Sinne des "Accessoires" nur noch zum Farbtupfer auf der drallen Hülle des Partners oder der Partnerin degenerieren.
5. Lieber schön geschieden als schlecht verheiratet
Aus "Scheiden tut weh" macht Sabine Rückert "Scheiden is schee" (südostbayrisches Idiom für "schön"). Die Ermunterung "einen quengeligen Ehemann" loszuwerden, flankiert Sabine Rückert mit effektvollen Bonmots: "Heute überleben wir Frauen. Aber alles hat seinen Preis. Der Ehemann bleibt nicht mehr unbedingt bis zum bitteren Ende bei Ihnen, manchmal geht er noch, wenn Sie glauben, er könne gar nicht mehr laufen." Nicht jeder Zynismus lohnt den Effekt. Allzuviele Männer werden im Alter - wenn sie ein Alter haben - zu Pflegefällen. Und die damit verbundene Last wird übergroß, wenn die Liebe klein ist. Genau darüber sollte man früh nachdenken, wenn man das "Bis der Tod euch scheidet" in Erwägung zieht. Andererseits haben kluge Denker - zum Beispiel, wenn sie wie Arnold Retzer das "Lob der Vernunftehe" anstimmen - die Bedingungen formuliert, die ein vertragliches Miteinander auch zu einem emotional und intellektuell bereichernden Projekt werden lassen. Neben und (in dem mit Arnold Retzer unterlegten Link) vor Arnold Retzer kommt Karl Otto Hondrich zu Wort. In "Meine Lieben" weist er auf die fatalen Konsequenzen hin, die ein leichtfertiger Umgang mit dem "Scheiden" häufig genug nach sich zieht - vor allem wenn man jung ist und Kinder mit auf dem Spielfeld sind). Dies gilt es zu bedenken, wenn Sabine Rückert meint:
"Machen Sie was Sie wollen. Sie haben die Qual der Wahl. Weder Moral noch Finanzen, noch die Angst vor dem Jüngsten Gericht fesseln sie an jemanden. Auch gute Freundschaft trägt ins Alter (vielleicht sogar entspannter)... Besser Sie haben im Alter treue Freunde als einen quengeligen Ehemann."
6. Die falschen Ansprüche der anderen
Das Beste zuerst: "Ich glaube: Man kann ein erfülltes Leben führen und ein wunderbares Zuhause für die Familie bauen, wenn man sich der Perfektion entzieht. Man muss nicht das Leben führen, das andere wollen. Schief und krumm kann man sein, dick und unsportlich, und immer ist das Leben schön."
Souverän wäre es, meint Fulbert Steffensky, das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze (noch) nicht möglich ist. Aber wie kommt man dahin? Indem man über die falschen Ansprüche der anderen nachdenkt? Ja, über die falschen Ansprüche der anderen und über die eigenen falschen Ansprüche! Im zirkulären, systemischen Miteinander ist das eine vom anderen schwerlich zu unterscheiden. Aber die Frage, welche Anspruchshaltungen wir den anderen und uns selber gegenüber entwickeln, sollte uns vor allem jeglicher Maßlosigkeit gegenüber immunisieren. Beginnen wir bei uns selbst!
7. Die Falle des Feminismus
Genau das macht Sabine Rückert auf eindrucksvolle Weise und begibt sich aufs Glatteis. Sie weiß, was sie wem zu (ver-)danken hat und erwähnt allen voran ihre Mutter (1917-2013). Sie findet viele Attribute, die jemanden zum Vorbild machen, so wie ihre Mutter, "die eine Chefin war und ein ubestechlicher, uneitler und sehr direkter Charakter. Sie war keine Feministin. Sie setzte sich kraft ihrer Persönlichkeit durch". Und so gerät denn auch der Feminismus zu einer "guten Sache, der die Gesellschaft zugunsten der Frauen revolutioniert hat... der für Frauen aber auch zur Falle werden kann". Sabine Rückert mahnt zu einer Grundhaltung, die immer auch die Frage stellt: "Woran bin ich eigentlich noch selbst schuld?" Sie fordert das Prinzip "Selbstverantwortung" ein. Da allerdings erweist sie sich als knallhart und unerbittlich - auch sprachlich:
"Frauen haben nicht immer recht. Viele von ihnen sind zu leicht zu beeindrucken. Manche von ihnen umschwirren die Männer wie Putzerfische den Hai. Frauen bauen Mist und unterwerfen sich. Zu viele Frauen glauben, es sei wichtig, einen Mann zu haben, und hoffen, er bliebe, wenn sie ein Kind von ihm bekämen... Das alles ist kein 'Frauenschicksal', sondern die Folge von Einfalt und mangelndem Selbstwertgefühl. Manchmal verstellt der Feminismus diesen harten, befreienden Blick auf die Frau."
8. Zu Kindern gibt es keine Alternative
Hier wird die Achterbahn zu einer intellektuellen und emotionalen gleichermaßen. Ich (als Mann) danke Sabine Rückert für diese Achterbahn und ihre entwaffnende Ehrlichkeit - unfassbar präzise und ergreifend!
"Ich wollte nie ein Kind. Kinder gingen mir auf die Nerven. Alle Kinder fürchteten sich vor mir. Als ich 35 war, bezeichneten mich Freunde als 'mental unfruchtbar' und priesen das Glück meiner ungeborenen Kinder. Ich haber dann doch ein Kind bekommen, weil mein Mann unbedingt eins wollte. Dabei habe ich mein Herz verloren. Heute bin ich meinem Mann dankbar, dass er mir durch hartnäckigen Kinderwunsch unsere Tochter abverlangt hat. Wer ein Kind hat, muss sich von sich selbst verabschieden, den Blick vom eigenen Nabel erheben und in die Ferne richten. Das ist schmerzhaft, aber befreiend. Verantwortung für andere übernehmen - das ist ein weltumstürzender Wechsel der Perspektive. Man nennt ihn auch: Erwachsenwerden." Zum Erwachsenwerden gehört allerdings noch ein wenig mehr. Susanne Gaschke hat das Mehr präzise benannt: "Auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen: Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei.“
Es ist ein wenig Dankbarkeit. Ich komme mir ein vor, wie ein Putzerfisch, der die nüchternen Gedankengänge Sabine Rückerts polieren darf. Ich wage es aber auch ihr zu widersprechen, indem ich ein dickes Fragezeichen setze hinter ihre Relativierung, dass man diesen neuen Blick auch ohne biologische Elternschaft gewinnen könne. Ich vermute, dass ein Mensch, durch den ein anderer Mensch ins Leben kommt, z.B. Tötungs- oder Gewaltphantasien - und erst recht entsprechende Handlungen - nur um den Preis des eigenen Verrückt-Werdens entfalten kann. Diese Verrücktheit allerdings ist real und lässt sich alltäglich beobachten.
Wenn ich nun persönlich werde und hoffe, dass diese Gedankengänge auch meine eigenen Kinder - und von meinen Nichten vor allem die jüngere - erreichen, dann hängt es zusammen mit der Haltung Sabine Rückerts, die zuletzt einen kapitalen Wandel paulianischer Dimensionen offenbart:
"Eine Chefin und ein Chef sind Ihnen Kinder und Karriere schuldig. Eine Gesellschaft muss es Familien so einrichten, dass sie vor ständigen Zerreißproben geschützt sind. Ich glaube, es tut jedem Chef sehr gut, ein Kind zu haben. Einer Chefin noch mehr. Das Perspektivgespräch mit einer jungen Mitarbeiterin müsste so laufen: 'Ich bin schwanger.' Antwort: 'Wunderbar! Gratuliere! Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft bei uns vor'?"
9. Enttäuschung ist die beste Medizin
Klug und weise - so nehmen sich die Ratschläge Sabine Rückerts mit Blick auf Lebenspläne aus: "Erwartungen aufzubauen ist eine Frauenkrankheit. Doch das Leben widersetzt sich der Planerfüllung. Das Wichtigste kann ich mir sowieso nicht aussuchen. Es wird mir geschenkt oder eben nicht. Und manchmal wird es mir geschenkt und dann wieder genommen." Jedenfalls betrachte ich es als außerordentliche Ermunterunng, all meinen Lehramtsstudierenden mit Niklas Luhmann auch künftig diese fundamentale Idee der Kontingenz des Lebens(laufs) nahezubringen, denn der Lebenslauf besteht (im Rückblick) aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Und ich scheue mich nicht, auch Sabine Rückerts Anti-Frustrations-Rezept weiterzureichen:
Enttäuschungen lassen sich nicht vermeiden, sie sind gute Medizin. "Damit verbundene Frustrationen sind am leichtesten mit Humor zu meistern. Deshalb: Am besten eine Dosis Gelassenheit (morgens und abends), einen schäumenden Krug Gelächter pro Tag und 30 Stunden gute Laue pro Woche" - oder mit Hilde Domin, auf die sich Sabine Rückert bezieht: "Ich setzte einen Fuß in die Luft - und sie trug."
10. Nur keine Panik!
Am Ende eines (auch langen) Lebens haben wir manchmal das Gefühl, es sei - allemal eingebettet in kosmische Dimensionen - nur ein Wimperschlag gewesen. Sabine Rückert plädiert für einen vorsichtigen Umgang mit Gefühlen: "Wer sich seinen Gefühlen ausliefert, steuert in eine Nebelwand." Ein (langes) Leben will gelebt sein:
"Zu den Entscheidungen, auf die es ankommt, gehört es, sich Zeit zu lassen. Es muss nicht alles im Alter zwischen 25 und 40 passieren. Junge Frauen in den hoch entwickelten Ländern der Welt haben heute eine Lebenserwartung von 100 Jahren und oft noch mit 50 die biologische Beschaffenheit einer 35jährigen. Sogar ihre Eier können sie einfrieren, bis sie sie brauchen. Also keine Panik. Sie können auch mit 60 neu anfangen. Die Statistik ist auf ihrer Seite."
Anthropologen suchen immer nach Konstanten, nach etwas Substantiellem zwischen Phylogenese und Ontogenese. Manchmal habe ich das Gefühl, wir stehen an der Schwelle, wo unsere Spezies das Paradigma wechselt und wir nicht mehr die sind, die wir zu sein glauben oder auch scheinen. Mit dem Einfrosten von Eizellen mag diese Schwelle noch längst nicht erreicht sein - da geht es wohl eher um Eingriffe ins Erbgut mit Aussicht auf den Menschenpark. Aber solange es Texte gibt, wie den von Sabine Rückert, behalte ich meine Zuversicht und schließe hier mit einem Zitat, das für das Schisma stehen soll - das Schisma zwischen Menschen die Kinder (geboren) haben und denen, die keine (geboren) haben:
"Für mich selbst ging die Karriere erst nach der Geburt meiner Tochter los. Meine Texte bekamen eine andere Qualität, meine Sprache eine andere Temperatur, meine Gedanken eine andere Dimension."
Apropos: Viele Männer sind zu leicht zu beeindrucken. Sie umschwirren die Frauen wie Schmeissfliegen die Kuh". Aber das ist eine andere Geschichte!