„Die Zukunft der Liebe:Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Doppelmoral“ von Susanne Gaschke (ZEIT 1/99) und „Die betrogene Familie“ von Susanne Mayer (ZEIT 6/01)
und ein wenig Literatur, aufgezeigt am Beispiel von Mario Jiménez mit den Worten von Antonio Skármeta – und all dies flankiert von Reflexionen über „Paare–Leidenschaft und lange Weile“ (die Version unter Berücksichtigung der paartherapeutischen Hinweise von Rosemarie Welter-Enderlin befindet sich - in Kürze - unter dem Menü "Familie und Partnerschaft")
Was machte ich bloß, hätte ich DIE ZEIT nicht? Hier ein schönes Beispiel, wie weit zurück liegende Beträge auch heuten noch Aktualität beanspruchen können:
Zwei Frauen, Susanne und Susanne, zwei Artikel, einmal über „Die betrogene Familie“, einmal über „Die Zukunft der Liebe“. Susanne Meyer darf auf Seite 1 leitartikeln und den „demografischen Irrsinn“ brandmarken. Der Zweispalter gewinnt einer vordergründigen, gleichwohl tiefsinnigen Analyse gegenwärtiger familienpolitischer Essentials am Rande eine grundlegende, gleichermaßen anthropologische Dimension ab: Warum gründen Menschen Familien, warum bekommen diese Menschen Kinder und mit dem Blick auf gegenwärtige demografische Verwerfungen: Kann gesellschaftliche Wertschätzung bzw. Missachtung, kann Politik Motive, die Familiengründung und Kinder„aufzucht“ beeinflussen, verändern und möglicherweise aushöhlen? Die Demografie und ihre Interpreten sagen zur Zeit „ja, das ist so!“ Es werden weniger Kinder geboren und in den immensen Anforderungen, die mit dem langen Atem verbunden sind, einer Familie mindestens solange eine Perspektive zu geben, bis Kinder sozialisiert und kulturiert sind, scheitern viele Menschen immer öfter.
Susanne Meyer und Susanne Gaschke buchstabieren diese Zusammenhänge auf der Ebene unterschiedlicher „generalisierter Kommunikationsmodi“, wie man mit Niklas Luhmann sagen könnte: Der „binäre Code“ des Wirtschaftssystems lässt sich mit Haben/Nichthaben operationalisieren. Und im Großen und Ganzen bedeutet es heute auf die Seite des „Nicht oder Weniger-Habens“ zu wechseln, wenn man Kinder in dieser Gesellschaft aufzieht. Susanne Meyer argumentiert in einer wirtschaftlichen und politischen Logik, wenn sie sagt und empirisch eindrucksvoll belegt: „Dass die Erziehung zweier Kinder viele Jahre dauert und ein aktiver Beitrag zur Rentenversicherung ist, der genauso viel zählt wie eine Berufstätigkeit.“ Und dass sich politische Missachtung, ja geradezu demografischer Irrsinn darin ausdrücke, dass eine Frau immer noch elf Kinder gebären müsse, um eine existenzdeckende Rente zu verdienen. Wenn Politik und Steuerrecht die Wahl „Keine Kinder“ mit deutlichen finanziellen Vorteilen honoriere, dann könne man sich doch nicht ernsthaft wundern, wenn immer mehr Frauen und Männer einfach keine Kinder mehr bekommen: „Weil alles dagegen spricht, die Ausbildung, der Beruf, der Stress, die Steuer, natürlich das Risiko der Rentenminderung für die Mütter. Als Argument für Kinder bleibt allein das Glück, das wirklich große Glück, Eltern zu sein.“ Und das gelte – so Susanne Mayers These – bei uns, wie eine Luxusreise, inzwischen als eine Form von Konsum: Verächtlicher könne man Kinder nicht einstufen.
Der „binäre Code“, mit dem sich Susanne Gaschke auseinandersetzt - bezogen auf Intimität - könnte man in Anlehnung an Luhmann an der Polarität von „lieben/nicht-lieben“ orientieren. Alles klar? Nein? Dann mache ich an dieser Stelle einfach einen kleinen Exkurs und erzähle euch, wie der kleine Pablo Neftali Jiminez Gonzales, der Patensohn Pablo Nerudas, in diese Welt gekommen ist:
Es ist zuerst die Geschichte von Mario Jiminez, Sohn eines Fischers, seines Zeichens ein Träumer und als solcher der Traumwelt des Kinos verfallen, abgeneigt den Zumutungen des harten Loses der Fischer, den ein Glücksfall und sein Fahrrad, seine Beharrlichkeit und seine Visionen zum Briefträger für die Isla Negra befördern. Sein einziger Kunde: Pablo Neruda, der berühmteste Poet Chiles, der noch nicht wusste, dass er kurz vor seinem Lebensende zwar, aber immerhin, die Krone aller Dichter erringen würde; von Mario begleitet in Gedanken und durch emphatische Anteilnahme; an seinen Leiden, Enttäuschungen und der Niederlage, mit der die Hoffnungen eines Volkes und schließlich auch Mario Jiminez sterben sollten; kurz nach Pablo Nerudas Tod (hier gehört übrigens der 11. September 1973 hin, als Salvatore Allende mit Hilfe des CIA und mit ihm die Hoffnungen eines ganzen Landes ermordet wurden).
Mario begann seine neue berufliche Tätigkeit mit einer Leidenschaft und Akribie, die ihn alsbald zu einem glühenden Verehrer der Dichtkunst Pablo Nerudas werden ließ. Aber da blieb Mario nicht ste-hen. Sollte ihn sein Studium der Schriften Nerudas bis hin zur „Skizze in Blei von Pablo Neftali Jiminez Gonzalez“ führen und sollte ihn seine Anhängerschaft und seine Ergebenheit schließlich auch das Leben kosten, so führte ihn blinde Leidenschaft und unbändiger Wille zur Erfüllung seiner stillen Berufung vorher noch zum Beweis all dessen, was Menschen auf so unvergleichliche Weise zu Men-schen macht: Zweifellos am Anfang war der Blick, der AugenBlick, der die Kernschmelze von Gedanken bedeutet und der schon ersehnt und vielleicht schon verspricht den Augenblick, wo Körper-Welten die Fusion von Elementarteilchen inszenieren. Kurzum: Heillos verliebt, den „Augen-Blicken“ verfallen, fleht Mario Pablo Neruda an, ihm das Wort zu geben. Zweifellos: Am Anfang war das Wort! Mario findet mit Hilfe Pablo Nerudas (s)eine Sprache, die Metaphern, mit denen er zeigt, dass seine Liebe einzigartig ist, die einzige, die ihrer, Beatriz Gonzalez, würdig ist.
Beatriz erhört ihren Mario und justament auf dem Höhepunkt von Pablo Nerudas Würdigung in der Weltöffentlichkeit, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur – Neruda war damals chilenischer Botschafter in Paris – auf der von Mario organisierten Fiesta, derer man sich noch Jahre danach in der ganzen Gegend erinnern würde, legen Beatriz und Mario den Grundstein, der Pablo Neftali Jiminez Gonzalez, den Patensohn von Neruda, in diese Welt befördern sollte. Aber dies werde ich euch an dieser Stelle, etwas weiter ausholend mit den Worten von Antonio Skármeta erzählen (ihr könnt es nachlesen in: Antonio Skármeta: Mit brennender Geduld, Piper-Verlag, 20. Aufl., München 2001).
„So lang die Nacht auch wurde, niemand hätte sagen können, dass es an Wein gemangelt hätte. Jeder Tisch, auf dem die Flaschen auf Halbmast standen, wurde von Mario höchstpersönlich mit einer Fünfliter-Bastflasche versorgt, ‚um mir unnötige Reisen zum Weinkeller zu sparen’. Irgendwann kam dann der Moment, in dem die Hälfte der Festgäste sich, wild durcheinandergewürfelt, in den Dünen herumtrieb, und nach der Berechnung der Witwe González (der Mutter von Beatriz und ihres Zeichens Wirtin der Bar, in der gefeiert wurde) waren die Paare nicht hundertprozentig dieselben, wie sie von Kirche oder Standesamt gesetzlich getraut worden waren. Erst als Mario Jiminez ganz sicher war, dass keiner seiner Gäste die Anschrift , die Wahlscheinnummer und den letzten Wohnsitz des Ehe-gatten mehr angeben konnte, beschloß er, das Fest als vollen Erfolg zu werten und der Vermischung der Geschlechter ohne seine ermunternde Anwesenheit ihren Lauf zu lassen. Mit der Bewegung eines Toreros löste er Beatriz die Schürze, umschlang ihre Hüfte mit zärtli-chem Griff und rieb seinen Schaft an ihrer Hüfte, wie sie es gern hatte – was die Seufzer bewiesen, die sie ausstieß, und der Saft, der ihre Schamhaare feucht werden ließ. Mit seiner Zunge leckte Mario ihre Ohrmuschel, hob mit seinen Händen ihre Hinterbacken an und drängte sie in eine Ecke der Küche, wo er ihr unbekümmert den Rock auszog.
‚Man wird uns sehen, Liebster’, keuchte Beatriz, stellte sich aber so hin, dass Mario ganz in sie eindringen konnte. Mit harten Stößen wühlte er ihre Schenkel auf und fuhr mit seiner Zunge über ihre Brüste, wobei er stammelte: ‚Schade, dass wir den Sony (ein Kasset-tenrekorder, geschenkt von Pablo Neruda, mit der Bitte, die Geräusche seiner Heimat aufzunehmen und ihm in die Diaspora nach Paris zu senden) nicht hier haben, um diese Hommage an Don Pablo aufzunehmen.’ Unmittelbar danach stieß er einen orgiastischen Schrei aus, der so sprudelnd, tosend, bizarr, barbarisch und apokalyptisch donnernd die Nacht erschütterte, dass die Hähne glaubten, der Morgen sei angebrochen. Sie begannen mit geschwollenen Hälsen zu krähen, während die Dorfköter das heisere Heulen Marios mit dem Nebelhorn des Nachtdampfers, der nach Süden unterwegs war, verwechselten und in unbegreiflicher Einstimmigkeit den Mond anbellten, so dass der Genosse Rodriguez, der bei einem Gardel-Tango gerade mit seiner Zunge über das Ohr einer kommunistischen Studentin fuhr, das Gefühl hatte, ein Gewitterschlag trockne ihm den heiseren Tangospeichel aus. Die Witwe Gonzalez versuchte unterdessen, mit dem Mikrofon in der Hand Marios Hosanna zu übertönen, indem sie La Vela noch einmal in Opernstimmlage hinausjubilierte. Ihre Arme wie Windmühlenflügel schwenkend, beschwor sie Domingo Guzman und Pedro Alarcon, die Pauken und Trommeln zu bearbeiten, die Rasseln zu wirbeln und in Trompeten und Trutrucahörner zu stoßen oder wenigstens zu pfeifen. Aber Meister Guzman bremste den kleinen Pedro mit einem Seitenblick und wisperte ihm zu: ‚Ganz ruhig, Meister, die Witwe hüpft hier nur so herum, weil gleich ihre Tochter an der Reihe ist.’
Zwölf Sekunden nach dieser Prophezeiung, als die Lauscher aller nüchternen, weniger nüchternen und schon bewusstlosen Gäste, wie von einem riesigen Magneten angezogen, auf die Küche gerichtet waren, und Alarcon und Guzman so taten, als müssten sie ihre ver-schwitzten Handflächen an ihren Hemden trockenreiben, bevor sie in zitternde Begleitmusik einfielen, durchbrach Beatriz’ Orgasmus die sternenklare Nacht mit einem solchen Akkord, dass sogar die Paare in den Dünen davon inspiriert wurden (‚Einmal so einen’, flehte die Touristin den Telegrafisten an), die Witwe indes brandrote Ohren bekam und dem Herrn Pfarrer, der schlaflos in seinem Kirchturm lag, die Worte entfuhren: ‚Magnificat, staba, lingua, dies irae, benedictus angelus, kyrie eleison.’
Nach dem letzten Seufzer schien die ganze Nacht feucht zu werden, und die danach folgende Stille hatte etwas Stürmisches und Beunruhigendes. Die Witwe warf das nutzlose Mikrofon auf die Bretter und eilte vor dem Hintergrund vereinzelten, noch zögernden Beifalls davon, der von den Dünen und Felsen herkam und dem sich die begeisterten Musiker sowie die etwas taktvolleren Touristen und die Fischer anschlossen, bis er sich zum Brausen eines Wasserfalls gesteigert hatte und von einem ‚Viva Chile, Scheiße!’ des unsäglichen Genossen Rodriguez untermalt wurde. Die Witwe Gonzalez also eilte zur Küche, wo ihr im Halbdunkel die ekstatisch geweiteten Augen ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes entgegenflackerten. Mit dem Daumen über die Schulter nach draußen deutend, spie sie vor den beiden die Worte aus: ‚Der Beifall ist für die Turteltäubchen.’
Beatriz schlug die Hände vor ihr von beglückten Tränen überströmtes Gesicht und fühlte, wie diese unter einem plötzlichen Erröten zu kochen begannen. ‚Ich hab’s ja gewusst, o mein Gott!’ Mario zog sich die Hosen hoch und schnürte den Riemen fest. ‚Schon gut, Schwiegermutter. Vergessen sie die Schande, diese Nacht ist zum Feiern da.’ ‚Feiern? Was denn?’ fauchte die Witwe. ‚Den Nobelpreis für Don Pablo. Wir haben gewonnen, Senora!’ ‚Wir haben gewonnen?’ Dona Rosa war kurz davor, Mario die geballte Faust aufs verworfene Maul oder ihre Fußspitze zwischen seine prallen, verantwortungslosen Eier zu platzieren, kam jedoch in einem Moment der Erleuchtung zu der Einsicht, es sei würdiger, aus ihrem Zitatenschatz zu kontern: ‚Wir pflügen, sagte die Fliege auf dem Rücken des Ochsen’, und damit knallte die Tür ins Schloß.“
Zugegeben, ein bißchen habe ich geflunkert. Der kleine Pablo Neftalí ist schon ein wenig früher in die Welt der chilenischen Revolution befördert worden, aber – im Überschwang der frühen Liebe zwischen Mario und Beatriz – sicherlich nicht unter weniger leidenschaftlicher Begleitmusik.
(Wie sagte Peter Rödler in einem unserer gnadenreichen Freitagsmorgen- 14 ½- Minuten-Talks: „Skarmetas Poesie und die Lebensart der Südamerikaner verkörpern in 1 ½ Seiten Erzählung mehr Erotik als das gesamte Nachtleben einer deutschen Großstadt.“)
Wechseln wir wieder ins journalistische Metier und schauen, was die Susanne Gaschke in der ZEIT 1/99 verhandelt, so dass wir uns nicht wundern müssen, wie leicht und beschwingt der kleine Pablo in diese Welt gelangt, während Deutschland und Italien am Ende der weltweiten Statistik rangieren, wenn es um das Saldo von Geburten und Stebefällen geht. Unter dem Titel „Revolution im Reihenhaus – Die Zukunft der Liebe: Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Doppelmoral“ räsoniert sie über Paarung und Paarverhalten in der (post-)modernen Gesellschaft. Ein öffentliches Plädoyer für die „Doppelmoral“, nein, gar für ihre Wiederentdeckung. Wie das? Doppelmoral gab es doch nur als Freibrief für die doppelte Buchführung der Krone der Schöpfung; Doppelmoral sozusagen als umgekehrt proportionale Vereinseitigung bestimmter Vorrechte des männlichen Geschlechts!? Aber ich sollte der Susanne nicht vorgreifen. Die „Fakten“:
· Man suche – so Susanne Gaschke – auch heute, getrieben von mehr oder weniger romantischen Vorstellungen, den Partner fürs Leben. „Das Versprechen, nie wieder da raus zu müssen, in das feindliche Leben und in die Schlachten auf dem Heiratsmarkt, stiftet Ehen. Tatsächlich heiraten die Menschen auch im Zeitalter der Individualisierung; und trotz steigender Scheidungszahlen: Die meisten Ehen halten. Kinder kommen später und seltener als früher; doch für die Mehrzahl der Eheleute gehören sie selbstverständlich zum Lebensentwurf.“
· Susanne Gaschke schließt aus vielen Befragungen und Beobachtungen, dass viele die sexuelle Attraktivität ihres Partners mit zunehmender Ehedauer geringer schätzen als zum Zeitpunkt des Kennenlernens. „Manche werden einander betrügen, einige werden wünschen, dass sie es täten, und viele werden es weder wünschen noch tun, sondern ihre ungebundenen emotionalen Kapazitäten dem Sportverein zur Verfügung stellen. Gleiches gilt natürlich, bis hin zum Adventskranz, auch für unverheiratete Paare.“
Und die Frage nach dem „Wesen der Liebe“? Susanne Gaschke bemüht Norbert Elias und den Versuch anthropologisch valide Essantials zu formulieren, dass nämlich der Mensch den Menschen braucht; dass die Gesellschaft zusammenhält seit Menschengedenken durch die „Ausgerichtetheit des Menschen auf andere“, durch „das tiefliegende emotionale Bedürfnis eines Menschen nach der Gesellschaft von anderen Angehörigen seiner Gattung“. Susanne Gaschke tut gut daran, diesen Gedankengang mit Norbert Elias zu ergänzen um den bedeutsamen Hinweis, dass die Sexualität dabei nur die stärkste, demonstrativste, keineswegs aber die einzige Form sei, in der sich diese Sehnsucht zeige. An dieser Stelle wären von Frau zu Frau die Unterscheidungen ungemein hilfreich, die Julia Onken mit den Begriffen „Eros“, „Philia“ und „Agape“ vorgenommen hat. Dann gelingt es nämlich die Frage zu beantworten, die Susanne stellt, indem sie danach fragt, was mit der Liebe der Siebzigjährigen sei, die ihre hundertjährige Mutter pflege, mit den Tränen der kleinen Tochter, wenn das Meerschweinchen stirbt, der Verehrung für einen Lehrer, oder der Freude, die einen unversehens beim Anblick eines vertrauten und entbehrten Ortes überfällt – Heimatliebe – „ist das keine Liebe?“
Ja! Für diese Formen gibt es schöne, tragfähige Begriffe, die auch nicht leer sind, wie Julia Onken eindrucksvoll zeigt. Aber schon die nächste Feststellung, dass sich die Meinungen darüber in einer sich dynamisch wandelnden Gesellschaft veränderten, wen man lieben darf und wie man lieben soll, diese Feststellung katapultiert uns wieder in die heißeWelt des Eros. Freilich könnten wir mit Susanne Gaschke und Neil Postman das „Jammertal“ einer „verschwindenden Kindheit und Jugend“ beklagen, wenn sie (Susanne Gaschke) erzählt, dass zum Beispiel Livia, 15, aus Potsdam an „Bravo“ - cool und nüchtern die Praxis sexueller Techniken erwägend - schreibt: „Ich habe seit fünf Monaten einen Freund, den ich sehr liebe. Wir haben auch schon öfter miteinander geschlafen. Nur hatte ich leider noch nie einen Orgasmus. Was könnte ich machen, damit ich einen Orgasmus bekomme? Meine Freundin meint, in der Reiterstellung würde sie am meisten spüren...“ und die „Bravo“ antwortet: „Du kannst in dieser Stellung durch deine Bewegungen das Tempo selbst angeben und selbst bestimmen, wie tief der Penis eindringt. So entwickelst du ein Gefühl dafür, wie du den Penis deines Freundes dirigierst, um dir am meisten Lust zu verschaffen“. Bei aller Anerkennung für die sachliche Richtigkeit – wie Susanne Gaschke meint – dränge sich aber hier irgendwie auch das Gefühl auf, hier könne etwas nicht stimmen: „Hier könne Livia womöglich etwas anderes entgehen als der Orgasmus, den sie sicher bald einmal erreichen werde (siehe dazu auch einen der letzten Beiträge: 'Frauen können von Pornos sehr profitieren').“
Ja! Susanne Gaschke, auch wenn wir nicht in den Geruch geraten wollen, uns gegen eine wohlverstandene „sexuelle Befreiung“ zu richten, so bleiben wir doch in den Tiefen und Untiefen unserer Herzen hoffnungslose Romantiker(Innen). Längst schon haben sich die meisten heillos verstrickt und mögen sich fragen, ob die gegenwärtige Tabulosigkeit „eine Spätfolge des Achtundsechziger-Wahrhaftigkeitskults ist – alles auszusprechen, nichts zu verschweigen, Schluss mit der Repression, nieder mit der Doppelmoral! – oder nur ein gut verkäufliches Produkt der spätkapitalistischen Medienwelt.“ Susanne Gaschke meint, in jedem Fall habe die Liebe ihre narrative Struktur in der Vermarktung verloren: Sie sei keine Erzählung mehr, in der das eine aus dem anderen, in der körperliche auf seelische Nähe erst folge. Wie wahr, wie wahr. In dieser wahren und schönen Sehnsucht ist sie nur noch Erinnerung und hat mit Alltagserfahrung wenig gemein. Insofern findet Susanne Gaschke auch das „richtige“ Luhmann-Zitat: „Das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen dagegen erzeugt Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht mehr zueinander kommen; sie liegt darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen kann (Niklas Luhmann: Liebe als Passion).“
Und nüchtern schreiten wir voran in einer Welt, die ihre beziehungsstiftenden und –gewährleistenden (Zwangs)Fundamente verliert. In einer ausdifferenzierten, funktionsbezogenen Welt der „unpersönlichen“ Beziehungen gewinnen die wenigen Beziehungen, die tatsächlich „persönlich“ werden, an Gewicht, bis schließlich eine Einzelperson gefunden ist, an der prinzipiell alle Eigenschaften bedeutsam erscheinen. Was beobachtet nun Susanne Gaschke mit Niklas Luhmann und: Vermögen uns diese Beobachtungen etwas zu sagen? „Da ihre (unsere) Umwelt den Menschen (uns) heute zunehmend komplex und undurchschaubar vorkommt, wird die Privatwelt, die ‚Eigengründung der Liebenden’ umso bedeutsamer.“ Die Stabilität speise sich allerdings heute weniger aus objektiven Gemeinsamkeiten denn aus dem Gefühl der Abgrenzung gegen die Außenwelt: „ein häufig zu schwaches Fundament für gemeinsames Glück.“ Sie meint, solchermaßen aufgeladene Intimbeziehungen erzeugten auch neue Zwänge. Plötzlich sei es nicht mehr erlaubt, Persönliches der Kommunikation zu entziehen; und demonstratives Verhalten werde obendrein erwartet. Nochmals zitiert sie Luhmann:
„Die Liebe darf sich nicht erst auf Nachfrage zu erkennen geben, sie muß allem Fragen und Bitten zuvorkommen, um nicht als Pflicht oder Konzilianz zu erscheinen.“
Man könne sich gut vorstellen, welche Beziehungshöllen sich in dieser spröden Sprache beschreiben ließen: „Die Hoffnungslosigkeit der modernen Liebe liegt in der Erwartung, dass ein Mensch dem jeweils anderen ganz allein die Welt sein könne. Das funktioniert umso weniger, je schwächer die sozialen, intellektuellen und charakterlichen Übereinstimmungen zwischen den Liebenden ausfallen.“
Welche Zukunft hat dann noch die Liebe? fragt Susanne Gaschke und wagt eine kühne, provozierende Antwort: „Die einzige Chance, dem Terror der veröffentlichten Liebe und dem Diktat der Intimität zu entgehen, besteht offenbar darin, ein kühles, rationales Verhältnis zu ihr zu entwickeln. Das klingt paradox, aber nur für den, der auf einem dramatisch-romantischen Liebeskonzept beharrt.“ Und dann?
„Bei einer Avantgarde werden sich womöglich schon bald die arrangierten Ehen wieder durchsetzen, die auf gleichen Interessen und gleicher sozialer Stellung gegründet sind. Eine Horrorvision? Aber wer könnte beweisen, dass auf diese Art nicht stabilere Beziehungen entstünden, als wir sie gegenwärtig gewohnt sind? […] Wie auch immer sie organisiert oder zustande gekommen sein mögen – auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen: Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei.“
Hat der Mensch – fragt Susanne Gaschke mit Norbert Elias – vielleicht viele „ungesättigte Valenzen“, sexuelle und andere, die er in anderen Menschen zu verankern sucht? Wie, wenn er sein Leben so einrichtete, dass er sie verankern könnte, ohne andere zu verletzen? Dazu bedürfte es allerdings sowohl einer neuen Ehrlichkeit als auch einer neuen Unehrlichkeit – einer Renaissance der Doppelmoral.“
„Vor dem Unausweichlichen dürfte niemand ausweichen: Die liebevolle Fürsorge für Kinder und für alte Eltern, mit anderen Worten, dürfte nicht allein von der Lust oder Unlust der Jungen und Starken abhängen. Gleichzeitig wäre es verboten, dass Partner einander ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten; und ebenso verboten wäre, natürlich, das Kreuzverhör.“
Susanne Gaschkes conclusio: „Auf der Grundlage nicht verhandelbarer Pflichten entstünde so vielleicht eine neue Freiheit, geprägt von der Einsicht, dass es schwer ist, einem anderen die ganze Welt zu sein. Das schemenhafte Bild eines solchen Projekts ist nicht die Kommune. Es ist vielmehr im Nebel der Zukunft zu erahnen als Ansammlung von Kernfamilien, die miteinander wohnen und möglichst auch arbeiten, die ihre privaten Rückzugsmöglichkeiten ebenso pflegen wie den gemeinsamen Rasen, die einander bei Kinderbetreuung und Software-Installation helfen und sich gegenseitig vom Wochenendbraten kosten lassen. Frauen würden bisweilen ihre besten Keksrezepte tauschen und gelegentlich, diskret, ihre Männer. Vieles spricht dafür, dass den Menschen diese neue Stammeskultur gefallen könnte und dass sie für alle Beteiligten spürbare Vorteile brächte. Die Zukunft der Liebe? Das ist die aufgeklärte, systemsprengende Reihenhaussiedlung.“