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Antonia Baum: Achte Woche

(erschienen bei Claassen, Berlin 2025)

Ich schätze Antonia Baum spätestens seit ihrem ZEIT-Beitrag: Zu wenig Körperkontakt (ZEIT, 10/20, S. 51). Im Literaturteil der ZEIT (43/2025) räumt man ihrem 2025 publizierten Roman Achte Woche den Raum für einen Auszug ein. Antonia Baum schaffe es, das zutiefst politische, gesellschaftlich heftig diskutierte Thema Schwangerschaftsabbruch ohne Kitsch und Pathos zu reflektieren - so in der Ankündigung des Verlags.

Inhaltsangabe des Verlags:

"Eine Frau sieht sich einer der schwierigsten Fragen gegenüber: die Entscheidung für oder gegen ein Kind 

Eine junge Frau – eine Abtreibung, ein Kind, kein Partner – ist schwanger. Das ist ein Fakt, er ist greifbar und scheint ganz klar, obwohl ansonsten gar nichts klar ist. Die Frau, Laura, ist an der Uni, sie schreibt an ihrer Dissertation, jobbt in einer gynäkologischen Praxis. Tag für Tag versorgt sie dort schwangere Frauen, sieht ihre Scham, ihre Geduld, ihre Freude, ihre Angst. Für manche ist es das größte Glück, für andere eine Katastrophe. Für Laura ist es beides. Sie liebt ihr Kind, doch sie hat Panik beim Gedanken an ein weiteres. Und wie könnte es anders sein? Ist nicht eigentlich jede Frau darauf eingestellt, dass sie ihr Kind allein großziehen wird? Der neue Roman von Antonia Baum ist in einer einzigen gedanklichen Bewegung erzählt, einem langen Atemzug, bevor etwas beginnt oder endet."

Ich habe einen Satz innerhalb dieser Inhaltsangabe fett und rot hervorgehoben. Wir alle müssen realisieren, dass: wenn alleinerziehend, dann in der Regel Frauen. Als Großvater darf ich erleben, dass meine Enkelkinder jeweils mit großem Engagement von ihren Mütter und ihren Vätern erzogen werden - liebevoll, mit Leidenschaft, Hingabe und den Grenzerfahrungen, die unaufhebbar damit verbunden sind, Kinder nicht nur zu zeugen, sondern sie ihr Leben lang mit der damit verbundenen Verantworung zu begleiten. Das wusste im Übrigen bereits Erich Kästner (siehe ganz unten).

Der in der ZEIT abgedruckte Text ist ein Auszug. Ich gebe hier eine längere Passage wieder, in der ich wiederum einen Satz fett und grün hervorhebe:

"Laura (so heißt die Protagonistin, FJWR) findet, dass jede Frau, die den Weg vom Wartezimmer zum Sprechzimmer an der Anmeldung vorbei zurücklegt, um eine Schwangerschaft abzubrechen, diese auf eine andere Weise tut. Doch etwas ist bei allen gleich: Sie gehen in dem Bewusstsein, dass man sie beobachtet, und sie rechnen damit, dass ihre Beobachter das, was sie tun, für einen Fehler halten. Sie sieht auf die Uhr. Im Kindergarten ist jetzt das Frühstück vorbei, hoffentlich geht es Helena wieder gut. Beim Losgehen hat sie geweint, weil sie zu Hause bei ihrem Hasen bleiben wollte, also durfte sie ihn mitnehmen, aber beim Abschied weinte sie noch mehr. Dass Laura ging, tat Helena weh und Laura auch. Sie denkt an ihre Tochter später beim Mittagsschlaf. Wie sie aussieht, wenn sie schläft, das Ohr ihres Hasen mit der Faust umschlossen, die Faust an der Wange. Das Gefühl beim Anblick des schlafenden Kindes kann man nur mit dem anderen Elternteil teilen, mit sonst keinem."

Ich möchte eine Lanze brechen - so, wie es die ZEIT am 19. Dezember 2024 getan hat in ihrer Ausgabe 54: Der Segen der Großeltern - Über die letzte unangefochtene Familienrolle und warum von ihr alle Generationen profitieren: die Enkel, die Eltern - und natürlich Oma und Opa selbst. Auch hierfür vielen Dank, Carla Baum!

Die Liebeserklärung mit den Worten: "Eine Liebe, für die es keine Worte gibt" stammt im Übrigen aus dem Mund eines Großvaters kurz vor seinem Tod. Necdet Avunc - so schreibt seine Tochter, Esrin Korff-Avunc - wurde am 4. September 1939 in Manisa in der Türkei geboren und wuchs in Izmir auf. Er kam mit Mitte zwanzig als Gastarbeiter nach Deutschland. Er heiratete eine Deutsche, wurde Bankkaufmann; die beiden - Necdet und Uta - wurden Eltern dreier Töchter. Ich zitiere nun einen Abschnitt aus Esrin Korff-Avuncs Artikel, mit dem sie in der ZEIT (17/21, S. 60) anlässlich des Traueraktes für die Toten der Corona-Zeit am 18.4.2021 den Verlust ihres Vaters beschreibt:

"Leider weiß ich nicht viel über die Kindheit meines Vaters in der Türkei, er sprach kaum davon. Allerdings: Von meiner Tochter Clara erfuhr ich jetzt, dass ihr Opa ihr vorschwärmte, wie er als Kind im Meer mir rosa Delfinen schwamm. Zu seiner Enkelin hatte er eine ganz besondere Bindung und sagte mir noch vor seinem Tod, dass es keine Worte für seine Liebe zu ihr gebe."

Die Lanze glänzt im besten Fall gülden und ihre Spitze ist geformt aus einer Melange, die sich zusammensetzt aus Fürsorge, liebevoller Zuwendung, Aufmerksamkeit. Sie lässt sich vergleichen mit einem nie endenden Resonanzraum. Damit ist schlicht gemeint, dass er in dieser Weise auch nach unserem physischen Ende fortwirkt im Erinnerungsraum unserer Kinder und Kindeskinder - aber nur im besten Fall aller Fälle. Ich meine das im Sinne Helga Schuberts. Das ist kein Selbstläufer.

Im besten aller Fälle ist es dann aber gewiss so, dass ein gewaltiger Bruchteil dessen, was Antonia Baum als gleichermaßen beglückendes wie auch Sorge entfaltendes Phänomen den Eltern vorbehalten sieht - und für das sie im Übrigen, ebenso wie Necdet Avunc den stellvertretenden Platzhalter bemühen muss (in dem Sinn, dass es für diese Liebe keine Worte gebe), auch in den Großeltern fortwirkt, aufgenommen wird als etwas, das man allenfalls mit seinen Kindern zu teilen vermag - eben: Dankbar!

Und wie mit Andreas Kirchner die existenzielle Grenze im Voranschreiten von Trennungen (als lebensbegleitendes existenzielles Grundphänomen) sichtbar, spürbar wird - auch als tief empfundener Schmerz, so mag mit Erich Kästners Worten (und auch meiner Adaption) unsere Hilflosigkeit angesichts der Welt, in der und durch die wir unsere Kinder und Kindeskinder begleiten, die Oberhand gewinnen:

Erich Kästner in memoriam - Spielerei mit Worten

Die Großeltern haben Besuch (Erich Kästner)

Für seine Kinder hat man keine Zeit.
(Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehen kann.)
Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
dass man die Kinder ungefähr verstehen kann.

Spielt hübsch mit Sand und backt euch Sandgebäck!
Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
als ob man über einen Abgrund weg
in einen fremden bunten Garten sähe.

Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid.

Wir möchten euch auch später noch beschützen.
Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

Die Großeltern auf Besuch (FJWR)

Für seine Kinder hat man wenig Zeit.
(Die Arbeit lässt uns schwitzen, und man hofft, die Eltern stehen ihren Mann.)
Erst bei den Enkeln steht man dann bereit,
so gut wie man dann halt noch kann.

Wir hocken mit im Sand und singen backe, backe Kuchen
und hoffen dort auf Nähe, wo man sich entfernt.
Und das Als ob – Herr Kästner – haben wir gelernt,
das ist der Abgrund, den wir nun verfluchen.

Wir spielen weiter brav mit Sand und bauen Illusionen!
Ein jeder weiß Bescheid:
Wir hätten gern ein Haus, gemeinsam drin zu wohnen,
doch unsre Zeit ist um, das tut uns leid.

Der Kästner hat ja Recht mit dem Beschützen,
zu Vieles haben wir versäumt, was heute euch bedroht.
Und unsre Wünsche werden da nichts nützen.
Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

 

Es begann mit dem Büblein - mir zur Seite. Es folgten Jule, Anouk und Lia-Sophie. Ich hoffe noch auf viele Gänge durch die Nußbäume hoch über Güls auf dem Heyerberg. Und die Worte, die nun folgen, taugen gewiss nicht dazu die Lücke zu füllen, die mit Necdet Avuncs liebevollem Eingeständnis unaufhebbar markiert ist. Aber wir erhalten eine 

A H N U N G - eine  A H N U N !

 

Der Nußknacker und mein Büblein, das heißt Leo
(und mit uns gehen inzwischen Jule und bald Anouk und Lia) -

Hommage an meine Enkel

Du Büblein mir zur Seite,
Machst Freude mir und lässt mich strahlen.
Ich wanderte mit dir
Durch Feld und Flur
Zu sammeln Nuss um Nuss!
Die trugen wir nach Hause
voller Freude und Vergnügen.
Dort steht der Kerl,
den unser Dichter meint,
und wartet schon -
stets hilfsbereit
und uns zu Diensten.
Er hilft die Nüsse uns zu knacken
Mit seinen festen, dicken Backen.
Bei jedem knackknackknack
Seh ich dich vergnügt und ganz erwartungsfroh.
Denn auch wir beide wollen nun die Kerne gern verzehren,
Dem wackren Kerl, dem Nüsseknacker wohl zu Ehren!

Der Nüsse sammelte ich schon viele - und viele Jahre zieh ich durch die Flur.
Doch seit du da bist,
ja, ihr alle,
strahlen alle Nüsse rein wie Edelsteine.
Mit dir und euch zu sammeln, macht die Freude doppelt groß,
Weil deine/eure Augen strahlen hell bei jedem

knack,

                  knack,

     knack!

 

 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben nachempfunden: Der Nußknacker

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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