Was machen Soziologinnen heute? Eva Illouz: Die negative Wahl - heute mal nur Originaltext
Die negative Wahl (in Eva Illouz: Warum Liebe endet, erste Auflage, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020, Seite 43ff.)
"Traditionell hat die Soziologie - und hier insbesondere der symbolische Interaktionismus - fast schon axiomatisch die Herausbildung sozialer Bindungen auf der Mikroebene in den Blick gerückt. So war sie zwangsläufig blind für den schwerer fassbaren Mechanismus, durch den Beziehungen enden, in die Brüche gehen, sich in Luft auflösen oder einschlafen. In der vernetzten Moderne wird die Frage, wie sich Bindungen auflösen, zum geeigneten Untersuchungsgegenstand, sofern wir diese Auflösung als soziale Form verstehen. Diese Art des Endes von Beziehungen erfolgt nicht durch ihre unmittelbaren Zusammenbruch - durch Entfremdung, Verdinglichung, Instrumentalisierung, Ausbeutung -, sondern durch die moralischen Gebote, die den imaginären Kern der kapitalistischen Subjektivität ausmachen, wie die Gebote, autonom und frei zu sein, seine verborgenen Potentiale auszuschöpfen, die eigene Lust, Gesundheit und Produktivität zu optimieren.
Es ist das positive Gebot, sein Selbst zu produzieren und zu maximieren, das die >negative Wahl< prägt. [...] Die gesellschaftlichen Folgen der negativen Wahl sind in vielerlei Hinsicht offensichtlich. Eine gravierende Folge ist die Tatsache, dass sich zahlreiche Länder aufgrund ihrer niedrigen Geburtenrate nicht mehr selbst reproduzieren können. [...] Unübersehbar sind die negativen Beziehungen in der bewussten Entscheidung oder unbewussten Praxis so vieler Männer und Frauen, sich nicht fest zu binden und keine Kinder zu bekommen, oder in dem Umstand, das Singlehaushalte in der vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. [...] Eine vierte, scheinbar konträre Manifestation der Nichtwahl ist die >Sologamie<, das verwirrende Phänomen von (zumeist) Frauen, die sich dafür entscheiden, sich sozusagen selbst zu heiraten, um ihre Eigenliebe und den Wert des Singledaseins zu bekunden."
Vielleicht nur so viel von mir: Ich sehe keine Veranlassung mich rechtfertigen zu müssen für die soziologischen Befunde, die in der Wissenschafts-Community diskutiert werden, ob sie nun von Eva Illouz, Karl Otto Hondrich, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa, Harald Welzer, Niklas Luhmann, Dirk Baecker, Gunthard Weber (höchstrelevant mit Blick auf den letzten Abschnitt und die Mediationspflicht in Scheidungsverfahren - Stichwort: Amtsgericht Cochem), Eva von Redecker unter Berücksichtigung Helm Stierlins, Arnold Retzer, Detlef Klöckner, Julia Onken, Rosemarie Welter-Enderlin oder wem auch immer vertreten werden. All diese ehrenwerten Fauen und Männer sind Beobachter familien- und paardynamischer Prozesse - manche von ihnen durchaus auch in gediegener therapeutischer Expertise.
Ein besonderer Hinweis gilt hier noch einmal dem sogenannten Cochemer Modell: Mit der Resolution 2079 des Europarats vom 2. Oktober 2015 hat dieser einstimmig beschlossen, dass die Rechtsprechung und Beratung der Mitgliedsländer auf die Etablierung eines Wechselmodells zur Betreuung der Kinder nach einer Trennung ausgerichtet sein sollte. Hier wird das Cochemer Modell explizit empfohlen:
„5. Angesichts dieser Überlegungen fordert die Versammlung die Mitgliedstaaten auf: … 5.9. Mediation im Rahmen der juristischen Familienverfahren, die Kinder involvieren, zu fördern, insbesondere durch die Einführung einer gerichtlich angeordneten Pflicht der Informationsberatung, um die Eltern aufzuklären, dass die Doppelresidenz (Wechselmodell) eine sinnvolle Option im besten Interesse des Kindes darstellt, und eine solche Lösung zu erarbeiten, die sicherstellt, dass die Mediatoren eine angemessene Schulung erhalten und durch die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit auf der Grundlage des Cochemer Modells trainiert sind“