Familie - Wir sind nicht alleine auf der Welt - ob wir das nun wollen oder nicht
Viele Umarmungen, viele Tränen, viel Wirbel - der Ausdruck von Gefühlen hält die Familie gesund (meint Richard Gere in: Was ich gern früher gewusst hätte (ZEIT-Magazin 47/24)
Vor 25 Jahren habe ich nach dreijähriger Aus-, Fort- und Weiterbildung die IGST (Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie) in Heidelberg verlassen – drei Jahre intensiver Therapieerfahrung. Meinem eigenen Leben hat diese therapeutische Selbstexkursion den entscheidenden Wendepunkt vermittelt. Selbstkritische, kreative und sozial-intelligente Potentiale entfalten sich nicht von selbst bzw. man kann sie fördern und entwickeln. In meinem Fall brauchte es den Anstoß durch den fremden, wertschätzenden Blick, der mich ermunterte die Tatsache blinder Flecken im Selbstbild sowie in den sozial relevanten Fremdbildern anzunehmen und allein schon dadurch veränderte Kommunikationsgewohnheiten und -formen auszubilden.
Die Dämonisierung von Eltern beispielsweise, wie sie kürzlich im SPIEGEL-Interview mit Wolfgang Schmidbauer thematisiert worden ist, ist mir häufig in den seinerzeit von Gunthard Weber therapeutisch begleiteten Familienaufstellungen begegnet. Schmidbauer lässt als 83jähriger, unendlich erfahrener Therapeut keinen Zweifel – und somit auch kein Schlupfloch – offen, wenn er davon ausgeht,
- dass erwachsene Kinder in der Regel bessere Möglichkeiten haben, ihre Eltern zu verstehen als umgekehrt: „Die Jungen sind der Welt der Alten entwachsen, aber sie kennen sie noch. Sie sind zudem fitter, geistig beweglicher, oft besser ausgebildet“;
- dass es ein „wichtiger geistiger Reifungsschritt ist, körperliche und geistige Überlegenheit gegenüber den eigenen Eltern zu realisieren. Wer diesen Schritt nicht leisten kann, wird die Eltern immer für seine Probleme verantwortlich machen.“
- dass eine Konsequenz aus dieser Überlegenheit vielleicht dazu führt, „moralisch nicht so hart zu urteilen“.
- dass man sich, „um sich als Opfer meiner Eltern zu fühlen, Täter konstruieren und die Augen davor verschließen muss, dass diese genauso Opfer sein könnten, wie ich das von mir denke. Wer seine Eltern realistisch einschätzt, sieht sie in einer Kette von Generationen mit ihren je eigenen Möglichkeiten und Einschränkungen. Man sieht die Tragik des Lebens - und erträgt sie.“In festgefahrenen, extrem belastenden Familiendynamiken wird ein lösungsorientierter Ansatz immer von der Absicht getragen, einem weitgehend unlebbaren allseitig belastenden Realitätskonstrukt gegenüber die Konturen eines weniger unerträglichen erscheinen zu lassen. Peter Sloterdijk sieht die Potentialität eines systemischen Therapieansatzes genau darin, dabei zu helfen die Mechanismen aufzuheben, die vermeintliche Realitätseffekte und das damit verbundene Einrasten in einer Elendsimmanenz und einer Kampftotalität aufzuheben (eine alltagssprachliche triviale Einsicht könnte man damit auf den Punkt bringen, das man feststellt: Wer nachtragend ist, hat viel zu schleppen).
Vor 25 Jahren hat mich gleichermaßen beeindruckt und fasziniert, wie die in Wiesloch (im Rhein-Neckar-Kreis) im alten Rathaussaal stattfindenden Familienaufstellungen unter der Leitung von Gunthard Weber in das soziale Feingewebe von Familien hineinwirken konnten, so dass bei den im Abstand von sechs bis acht Wochen stattfindenden Zusammenkünften von positiven Veränderungsdynamiken berichtet werden konnte. Sogenannte morphogenetische Felder erweisen ihre Existenz dabei offensichtlich nicht nur im unmittelbaren Aufstellungskontext, sondern können ihre Wirkungen – vollkommen unabhängig von räumlicher Entfernung – in familialen Netzwerken entfalten.
Das eindrücklichste Beispiel ist mir in Erinnerung, da zwei Elternteile, die einen jahrelangen, unerbittlichen Trennungskrieg miteinander geführt hatten, endlich ihren Frieden miteinander finden konnten (siehe dazu den Anhang ganz am Ende des Beitrags). Während eines der Kinder – alle drei Kinder hatten unter den jahrelangen Streitereien und gegenseitigen Vorwürfen erheblich gelitten – sich den Eltern zuwandte und ihre späte Versöhnung als eigene Chance – auch im Sinne einer Aussöhnung mit ihnen - begriff, distanzierte sich ein anderes Kind mit dem Vorwurf, dass die Eltern ihren Frieden jetzt auch noch auf Kosten der Kinder machten. Das dritte Kind zeigte sich verunsichert und wusste nicht, was es von dieser merkwürdigen Entwicklung halten sollte.
Seit zehn Jahren bin ich mit meinem Blog online. Mir wird bei inzwischen über 500 Beiträgen immer einsichtiger, wie sich ein filigranes thematisches Feingewebe herausgebildet hat, das einen Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit Familiendynamiken gefunden hat. Die Dynamiken in der eigenen Familie spielen dabei eine zentrale Rolle. Einer meiner ersten Beiträge aus dem November 2014 soll heute stellvertretend dafür stehen. Ich stelle ihn mit kleineren redaktionellen Veränderungen versehen heute noch einmal online; wie gesagt 10 Jahre nach seinem ersten Erscheinen. In diesen zehn Jahren hat sich unsere Sippe einerseits verkleinert, andererseits wachsen einige Neuankömmlinge in ein ziemlich komplexes und kompliziertes Familiensystem hinein.
Details
Veröffentlicht: 16. November 2014
Bin ich wie meine Mutter?
Wir müssen uns auf die Socken machen!
Ich müsste eigentlich fragen: "Bin ich wie mein Vater?" Denn ich bin ein Mann, 1952 geboren - also schon ein älterer Mann, zwei Jahre älter als die Mutter von Nicole Zepter. Und überhaupt: Wer ist Nicole Zepter?
Vorausschicken muss ich bemerken, dass ich ein leidenschaftlicher und akribischer Leser der ZEIT bin. Aber beginnen wir von vorne: ZEIT-Magazin und "Chrismon" (ich glaube alle vier Wochen) sind dabei zweite Wahl. Erst kommt der unhandliche, papierne Themenseismograph auf den Tisch. Und es ist immer etwas dabei, an dem ich mich festbeiße - beeindruckt, verärgert, aber meist fasziniert, so dass ich Niklas Luhmanns trivialer Feststellung, dass wir alles, was wir wissen, aus Medien wissen, geflissentlich zur eigenen Welterschließung und -deutung folge und meist schon auslote, was der ein oder andere Beitrag in mir auslöst. Eines der schönsten Beispiele: Papa, gibt es Elfen?!
Bei Nicole Zepters Beitrag ist es (noch) anders. Da weiß ich, dass es jemandem gelungen ist, meine leidenschaftliche Auseinandersetzung der letzten Jahre (im Grunde genommen sind es Jahrzehnte) an prominenter Stelle einem großen Publikum anzubieten - auch mir anzubieten. Nicole Zepter - lese ich – ist "geboren 1976, arbeitet als Autorin und Publizistin. Sie veröffentlichte das Buch 'Kunst hassen' (Tropen/Klett-Cotta 2013) und ist Herausgeberin des Politik- und Zeitgeistmagazins 'The Germans'. Zurzeit schreibt sie an einem neuen Buch, das sich mit Mutter-Tochter-Beziehungen befasst."
Ich bin beeindruckt, und ich bin gespannt, auch auf dieses aktuelle Vorhaben, über Mutter-Tochter-Beziehungen. "Hildes Geschichte", mit dem ich mir meine "zweite Befreiung" von der Seele geschrieben habe, ist auch eine Mutter-Tochter-Geschichte. Ähnlich wie Nicole Zepter konnte ich es als Gesamtvorhaben erst bewältigen mehr als 10 Jahre nach meiner dreijährigen "Ausbildung" zum systemischen Familientherapeuten bei der IGST in Heidelberg bei Gunthard Weber, Elisabeth Ebecke-Nohlen und Uli Clement (und nicht zu vergessen - in erster Linie bibliotherapeutisch - bei Arnold Retzer, einem Schulkameraden).
Nicole Zepter (NZ) gelingt auf fünf Seiten im ZEIT-Magazin (47/2014) das beeindruckende Kunststück, die Ausgangslage, die Verstrickungen, die Entwicklungsgeschichten und die Lösungen mit Blick auf einen verworrenen systemischen Nexus anzudeuten; es gelingt ihr dieses Geflecht so zu entwirren, dass eine kraftvolle - und vor allem glaubhafte, überzeugende Lösungsdynamik sichtbar wird:
"Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter beginnt mit einer Lüge. Erst kurz nach meinem 18. Geburtstag erfahre ich die Wahrheit - Papa ist nicht dein Vater", schreibt NZ. Die Erfahrung, dass "die Mutter von diesem Tag an für mich zu einer Fremden wurde", kann unter Umständen als basso continuo ein ganzes Leben andauern. Und vor allem, es kann - wie in so unendlich vielen Fällen - bei diesem unseligen Zustand bleiben. NZ gelingt mit Mitte dreißig der Durchbruch, die Wende zu einer nachhaltigen Befriedung und Befreiung. Natürlich empfehle ich die Originallektüre. NZs Geschichte, möchte ich in den wesentlichen Punkten zusammenfassen und kommentieren:
NZ schreibt, dass die durch die Wahrheit, dass "Papa nicht dein Vater ist", ausgelöste Fremdheit zu einem weitgehenden Kontaktabbruch führte. Die Mutter trennt sich vom Stiefvater und zieht sich zurück: "15 Jahre lang. Es gab kaum noch Kontakt. Weder zu mir noch zu meinem jüngeren Bruder. Ich hasste sie. Ich vermisste sie. Ich sah sie als Versagerin, als schlechte Mutter." Mit 18 steckt man noch voll in den Prozessen der "bezogenen Individuation". NZ erwähnt weiter hinten Helm Stierlins Entwicklungsverständnis, ohne allerdings den entscheidenden dialektischen - Spannungen bis zum Zerreißen - auslösenden Zusammenhang auf den Punkt zu bringen: Individuation im Sinne der (eigene) Persönlichkeit, eigene Individualität ausbildenden Prozesse ist nur vorstellbar als "Individuation mit und gegen die bedeutsamen Anderen". Aus den Schilderungen NZs gewinnt man eine Vorstellung wie destruktiv und desaströs sich dieser Prozess aufdrängt, wenn man sich kognitiven und emotionalen Dissonanzen ausgesetzt sieht, die sich zwischen Gefühlen des Hasses und der Sehnsucht aufspannen.
NZs Lebensgeschichte liest sich wie eine emotionale Achterbahn: "Ich zog zu Hause aus, begann mein Studium, ging Beziehungen ein, brach sie wieder ab. Ich fragte mich, wer ich war und wer ich sein wollte." Und dann die schockierende Einsicht:
"Und dann mit Mitte dreißig, war ich auf dem besten Weg, so zu werden wie meine Mutter, wie die Frau, die mich jahrelang belogen hatte, die mir so fremd geworden war."
NZ berichtet, sich in einer Beziehung "verfangen" zu haben, die sie "hinunterzog". Sie habe geglaubt, der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein: "Wie meine Mutter es von meinem Vater geglaubt hatte, zu dem sie dann nach der Geburt jede Verbindung abgebrochen hat, den sie totgeschwiegen hat. Ich wurde, wie sie, nach nur wenigen Monaten schwanger: ein Wunschkind. So wie ich es auch gewesen war? Wie meine Mutter setzte ich alle Hoffnungen in diese Beziehung." NZ bringt ihr Baby zur Welt:
"Als ich es schließlich in den Armen halte und daran denke, den Kontakt zum Kindsvater völlig einzustellen, wird mir alles das erst richtig klar: Ich verhalte mich wie Mama. Ich bin wie sie. Ich habe ihre Rolle eingenommen. Und ich frage mich: Warum? Und: Wie komme ich da raus?
Mein Tod gehört mir! Pardon, NZ ist 38 Jahre alt. Da darf man Sätze schreiben wie: "Heute glaubt man in der Regel nicht mehr an Schicksal. Das widerspräche der Vernunft, dem freien Willen des Menschen. Doch in diesem Moment fühlt sich das Leben plötzlich an wie Schicksal." Zumindest werde ich ihr Niklas Luhmanns Überlegungen - übrigens soweit ich weiß sein letzter Aufsatz vor seinem Tod 1998 - zu einer kontingenzgewärtigen Lebenslauftheorie zukommen lassen. NZ konfrontiert sich mit ihrer Lebenslüge:
"Und ich dachte ich hätte alles getan, um mir mein eigenes Leben aufzubauen. Ich dachte ich hätte alles getan, um ein schönes Leben zu haben. Es klingt vermessen das zu sagen, aber sogar: ein besseres Leben."
Die Idee: "Ich mache es besser als meine Mutter!" wird konfrontiert mit der Erkenntnis, sich "plötzlich" in einer fast identischen Lebenssituation wiederzufinden. NZ beginnt eine Therapie: "Ein paar Monate später (2011) sitze ich in einer Berliner Praxis für systemische Therapie." Mit Verlaub, dies ist vermutlich eine entscheidende Weichenstellung mit Wendepunktqualität. Nicole notiert: "Die systemische Therapie betrachtet das ganze System mit allen Komponenten, allen Beteiligten. In diesem Fall die Familie. Meine Familie." Sieht man einmal davon ab, dass diese Formulierung in gewisser Weise naiv ist und suggeriert, man könne tatsächlich "das ganze System mit allen Komponenten" betrachten, wie geronnenes Blut auf einer Wunde - vielleicht sogar noch mit mikroskopischen Instrumenten, hat sich NZ mit diesem Entschluss zu einer systemischen Therapie eine entscheidende Option eröffnet, wie gesagt mit Wendepunktqualitäten. Irgendwann kann sie diesen Glücksfall sogar noch vertiefen, indem sie sich die Luhmannsche Lektion gestattet. 2011 beginnt Nicole Zepter mit den ersten Therapiesitzungen mit typischen Erfahrungen:
"Ich brauche einige Sitzungen, um überhaupt etwas sehen zu können. Die ersten Male sind verheulte Stunden. Versuche diese Verzweiflung zu erklären, die mich überrannt hat. Mir ist der Boden weggerutscht. Doch ich weiß nicht mehr warum."
Der erste Veruch eines Genogramms mit gleichermaßen nüchternen wie dramatischen Erkenntnissen: "Es wächst (auf dem Flipchart) ein Baum heran, der mir eine Familie zeigt, die ich noch nie gesehen habe. Ein Gewächs aus Tanten, Onkeln, Großvätern, Urgroßmüttern. Wuchernd und schwer auf der Seite der Familie meiner Mutter. Zart und unbedeutend auf der Seite meines Vaters - einer Familie, die ich nicht kenne und deshalb nicht benennen kann."
Ein kleiner, aber unverzichtbarer Exkurs - vielleicht nur eine Randbemerkung:
Spätestens hier ist die Stelle, an der ich innehalten muss, die mir schier die Sprache nimmt - mich wieder einmal mehr fassungslos und überfordert vor die Geschichten stellt, die den Weg weisen zu den verborgenen, verleugneten Linien im Ahnengeflecht, im ausufernden (Stamm-)Baum eines Familiensystems, das sich an der einen Seite wuchernd, an der anderen nur spärlich zeigt. Es ist also - wie schon erwähnt - Hildes Geschichte, die ein erstes Tor öffnet, hinter dem noch viele verschlossene Türen warten. Im Februar 2010 legte mein Neffe, der Sohn meiner Schwester - nur 10 Jahre jünger als ich - ein fünfseitiges Papier vor: "Bevor es losgeht". Es beginnt mit einer zweifelnden Selbstermunterung:
"Immer wenn ich den Füller aufgeschraubt hatte und alle Hemmungen, die mich daran hinderten, zu schreiben, endlich überwunden glaubte, spätestens dann endete mein Vorhaben mit einer Frage: Wen sollte oder könnte das denn interessieren? Ich will diese Frage nun vorsichtig beantworten, wobei ich gerne zugebe, dass die Hoffnung, es würde wirklich so sein, mit von der Partie ist. Die Antwort lautet meine Kinder. Also werde ich mit dem Schreiben fortfahren, oder besser: anfangen und dabei hoffen, dass Johann und Karla meine Antwort freuen wird. Wann immer das auch sein wird."
Möglicherweise bin ich (immer noch) der einzige, der sich an die Freude klammert, dass da jemand beginnen wollte. Und die Freude mischt sich mit der Hoffnung, dass es doch mit diesen fünf Seiten nicht zu Ende sein möge, zumal sich der Eindruck - auch und gerade nach der Lektüre von Nicole Zepters Bericht - verfestigt, dass die Selbtblockade, die seither - zumindest was die Absichtserklärungen in "Bevor es losgeht" anbelangt - mit der Kultivierung eines blinden Fleckens zusammenhängt, den man eindrücklicher nicht markieren kann - und der wie ein dickes Brett, wie eine undurchsichtige Brille unverrückbar unmittelbar vor Augen steht:
"Die Suche nach den 'eigenen Wurzeln' erscheint mir zudem einigermaßen fragwürdig, sobald sie über das unmittelbar erlebte Umfeld hinausreicht, etwa um angeblich bestehende familiäre Kontinuitäten nachzuweisen. Trotz aller Vorbehalte und nicht ohne ein wenig Vergnügen will ich mich dann doch etwas an den unteren Halbkreisen meiner eigenen Ahnentafel entlang hangeln und von den Menschen meiner Familie, ihrer und damit eben auch meiner Herkunft und Heimat berichten, vor allem damit meine Kinder irgendwann nachlesen können, was mir Wert erscheint, nicht vergessen zu werden. Verzichten will ich aber auf die Suche nach Erinnerungen an Menschen, die mir niemals begegnet sind, und über deren Leben ich nur etwas vom Hörensagen berichten könnte. Mir fehlen Überzeugung und Glaube daran, dass diesen Abstammungslinien eine wichtige Bedeutung für mich und meine Kinder zukommt. Meine Wurzeln, wenn man es so nennen mag, liegen mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, offen zutage. Und etwas Geheimnisvolles ist an dem, wovon ich nun erzählen möchte, auch nicht."
Also fertige ich noch eine Kopie von Nicoles Aufsatz an - für meinen Neffen, der im Übrigen vor dreißig Jahren bei seiner Berufswahlentscheidung - wenn ich mich recht erinnere - schwankte zwischen einem Studium der Rechte und einem Studium der Geschichte, vielleicht mit der Perspektive an das altehrwürdige PJG in Ahrweiler zurückzukehren, um den nachwachsenden Generationen eine zuverlässige Einführung anzubieten sowohl in die Geschichte als auch in Gegenwart der Deutschen. Geschichtsversessen und kenntnisreich - von mir immer bewundert - ist mein Neffe geblieben. Und dass Geschichtsblindheit mit blinden Flecken in der eigenen FamilienGESCHICHTE einhergeht, ist so normal wie tragisch gleichermaßen. Das ist nämlich der Stoff aus dem die wirklichen Familiendramen gestrickt sind. Es sind nicht (nur und lediglich) die Verstrickungen, in die sich Akteure auf der politischen Bühne ihrer Zeit begeben haben. Dank Sönke Neitzel (und vieler anderer) tritt heute eine junge Historikergeneration auf den Plan, die erstmals angemessen das entwickelt und bearbeitet, was man den (sozialen, politischen, kulturellen) Gesamtreferenzrahmen nennt, der uns verstehen lehrt, was geschichtslosen Naturrechtlern verborgen bleiben muss.
Zurück zu Nicole Zepter:
"Mich rührt und erstaunt mein eigenes Bild auf dem Flipchart. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich als Kind meiner Eltern sehe. Ich bin ihr einziges gemeinsames Kind. Und ich sehe meine Eltern zumindest auf dem weißen Plastik nebeneinanderstehen. Eine Mutter und einen Vater, die es zusammen nie gab. So wie es eine Mutter und einen Vater zusammen für meinen Sohn nicht geben wird."
NZ erkennt nicht nur die verblüffende und brutale Parallelität zwischen ihrer und der Lebensgeschichte der Mutter. Sie beginnt sich den familialen, sozialen, politischen und kulturellen Referenzrahmen zu erarbeiten, der ihr den Zugang zur Geschichte ihrer Mutter erst ermöglicht:
"Es ist das Jahr 1975. Uneheliche Kinder sind immer noch ein Makel. Auf dem Dorf eine Schande. Meine Mutter ist in einer Kleinstadt aufgewachsen." NZ beginnt sich die Achterbahn aus Verliebtheit, Scham, Angst und Not vorzustellen, in der ihre Mutter und ihr Vater bis zu ihrer Geburt und darüber hinaus gemeinsam und doch getrennt verbringen. Die soeben erst errungene kleine Freiheit einer eigenen Wohnung muss die Mutter allzu schnell wieder aufgeben: "Meine Mutter wohnt wieder bei ihren Eltern. Sie musste ihre Ausbildung abbrechen und kann sich ihre Wohnung nicht mehr leisten. Meine Mutter muss sich unterordnen. 'Du bist nur wegen des Babys hier', sagt ihr Vater. Es ist eine Schande, von einem verheirateten Mann schwanger zu sein."
NZs Vater ist in der Tat bereits verheiratet. Er trennt sich noch 1975 von seiner Ehefrau und wohnt mit Ende zwanzig wieder bei der Mutter. Zwischen Baum und Borke steht er zwischen seiner Familie und Nicoles Mutter. Deren Eltern, Nicoles Großeltern, hassen den Mann, den die Mutter liebt. Er hat Hausverbot. Für Zweisamkeit gibt es keinen Platz:
"Am Neujahrstag 1977 beschließt letztlich meine Mutter, dass ihre Beziehung zu meinem Vater ein Ende haben soll. Sie versteckt das rote Stammbuch mit meiner Geburtsurkunde in der Kommode. Ein paar Monate später legt sie auch den Antrag für den Vaterschaftstest in ein blaues Kästchen. Der Test wird nie gemacht, weil mein Vate kurz vor seiner Abgabe die Vaterschaft anerkennt. Es ist die Beichte, dass er ein weiteres Kind mit seiner Frau bekommt, die meine Mutter endgültig dazu bringt, alles hinter sich zu lassen."
Parallele Erfahrungen verbinden. Sie öffnen nicht nur den Intellekt, sondern auch das Herz. Wenn NZ und ihre Mutter heute wieder "ein gutes Verhältnis" haben, dann mag sich dies zuvorderst durch eine verblüffend kongruente Liebes- und Leidensgeschichte erklären:
"Als ich 35 Jahre später den Mann kennenlerne, der der Vater meines Kindes werden wird, will ich bedingungslos lieben [...] Ich, die ich immer gesagt hatte, heiraten ist mir egal, Kind zur Not auch alleinerziehend, bin plötzlich davon überzeugt, den Mann gefunden zuhaben, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Ich bin besinnungslos verliebt. Niemand kann mir helfen."
Niemand hilft ihr. Sie hilft sich selbst: „Meine eigene Beziehung bricht kurz vor der Geburt meines Kindes auseinander. Und fügt sich wieder zusammen. Und bricht wieder auseinander [...] Schon damals dämmert mir, dass sich hier etwas aus meiner Kindheit wiederholt. Streitereien aushalten, Lügen aushalten, mich kleinmachen."
Und nun beginnt der eher lösungsintensive Teil der Therapie, eingeleitet durch die Frage der Therapeutin:
"Wenn sie jetzt sehen, dass Ihre Mutter damals ähnlich gehandelt und sich einen ähnlichen Mann gesucht hat, aus welchem eigenen Gewohnheitsverhalten ist dies entstanden?" Nicole Zepter formuliert die Hypothese, dass ihr Männerbild entscheidend von ihrem Stiefvater geprägt worden sein könnte: "Er war autoritär und unsicher. Er wusste, wie er mich vor meinen Freunden demütigen konnte. Meine Mutter hat sich Männer gesucht, die sie kleinmachten und dadurch selbst größer wurden."
Komplementär dazu entwickelt sie sich zu einem typischen "Turbokind" (siehe dazu Jorgos Canacakis), das beginnt Verantwortung und (Für-)Sorge für die eigene Mutter zu entwickeln:
"Mit 15 war ich Zuhörerin meiner Mutter. Und ich redete ihr zu: Lass dich scheiden. Lass dich nicht so von Papa herumkommandieren. Ich wurde zur starken Tochter. Ich dachte damals: Ich bin die Mutter meiner Mutter."
Dieser jetzt mit Macht ins Bewusstsein dringende (seinerzeit) unbewusste Akt einer Parentifizierung, die verantwortungs- und leistungsorientierte Haltung eines Turbokindes wandelt sich nun zu einem Blick auf die immensen Defizite, die kindheitsbezogen übergroß in Erscheinung treten. Der exorbitante Mangel an Unterstützung, an ungeteilter Aufmerksamkeit, nach bedingungsloser Liebe und Zugehörigkeit wandelt sich zur typischen, "vorauseilenden" Haltung, alles richtig machen zu wollen, die Mutter zu bestätigen: "Sieh nur, du hast mich gut hingekriegt, richtig erzogen." Die emotionalen Defizite verkehren sich in einen starken Drang zur Unabhängigkeit:
"Das Wichtigste ist Unabhängigkeit, hat meine Mutter oft zu mir gesagt [...] Ihr Glaubenssatz blieb bei mir: Ich brauche keinen, ich kann alles allein. Noch heute fällt es mir schwer, jemanden um Hilfe zu bitten oder jemandem zu sagen: Ich brauche dich."
Hinter alledem stellt sich für Nicole Zepter die Frage, warum wir denn die Muster unserer Eltern fortführen:
"Die Familie, das lern ich in vielen Therapiesitzungen, hat eine sichtbare Macht über uns und eine unsichtbare. Sie ist das stärkste soziale Gefüge. Auch wenn wir sie ablehnen, richten wir uns nach ihr aus. Sie ist das Bezugssystem - auch wenn wir gegen sie opponieren. Deshalb stellen Erwachsene manchmal fest, dass nie wie ihre Eltern werden wollten."
Bei NZ ist der Zusammenhang vielleicht eindrücklicher, weil es fast 15 Jahre kaum Kontakt zur Mutter gab:
"Obwohl ich mich so weit von meiner Mutter entfernt habe - ich habe studiert, bin in die Großstadt gezogen, gereist -, blieb ich doch in meinem Inneren ganz nah bei ihr." All dies kann sie heute nicht nur fühlen, sondern auch sehen, vielleicht verstehen. Es führt darüber hinaus zur Beantwortung der für sie so wichtigen Frage, ob sie ein Wunschkind sei: "Wenn ich meinen Vater heute frage, wie die Beziehung zu meiner Mutter war, sagt er immer nur wenige Sätze: Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Und: Wir waren viel zu jung. Es klingt wie eine Entschuldigung. Meine Halbschwester wird ein halbes Jahr nach mir geboren. Ein Wiedergutmachungskind, sagt mein Onkel, Meine Halbschwester, sage ich. Meine Eltern haben seitdem nie wieder ein Wort miteinander geredet. Nie wieder."
Und dennoch ist Versöhnung möglich - ja sie wird zu einer unverhofften und doch so sehr empfundenen Befreiung:
"Zwei Jahre nachdem ich mit der Therapie begonnen habe, fahren meine Mutter, mein kleiner Sohn und ich zusammen in Urlaub. Es ist der Sommer 2013. Es geht mir viel besser:
- Ich fühle mich befreit von Bedürfnissen, die nicht meine waren.
- Ich habe das Gefühl in wenigen Monaten um Jahre reifer geworden zu sein.
- Ich werde den Vater meines Kindes nicht verleugnen, die beiden sehen sich regelmäßig.
- Und ich genieße das Zusammensein mit meiner Mutter. Sie ist mir näher als jemals zuvor, vor allem auch deshalb, weil ich sie das erste Mal als Frau und nicht mehr nur als Mutter sehe.
- Mein leiblicher Vater hat, wenige Monate bevor ich schwanger wurde, den Kontakt zu mir gesucht. Wir sehen uns seitdem regelmäßig.
- Mein Kind hat Oma und Opa.
- Und ich habe plötzlich wieder eine Mutter und einen Vater."
Anhang:
Die folgende Passage aus Gunthard Webers Zweierlei Glück verbreite ich unter dem Begriff Hellingersche Formel (dokumentiert in: Gunthard Weber, Zweierlei Glück, Heidelberg 1997, Seite 143f.). Entscheidend ist dabei einerseits, dass die Beziehungsgestaltung eines Paares - insbesondere dann, wenn Kinder aus dieser Paarbeziehung hervorgegangen sind - nicht nur innerhalb der Paarbeziehung folgenreich ist, sondern vor allem auch mit Blick auf die Kinder (und unter Umständen auch die Kindeskinder). Dies gilt in Sonderheit dann, wenn die Trennung selbst und das Trennungsgeschehen von Streit und Konflikten begleitet sind. Im schlimmsten Fall geraten die Kinder zwischen die Fronten der Streitenden. Hellinger sagt zu Recht, dass die wechselseitige Abwertung des Partners auch die Kinder abwertet. Sie geraten zwischen die Mühlsteine streitender Elternteile - verbunden mit Loyalitätskonflikten und dem Verlust von Zugehörigkeit (von verlorenem Urvertrauen und Geborgenheit ganz zu schweigen). Zu Beginn der 90er Jahre reagierte der Familienrichter Jürgen Rudolph mit dem sogenannten Cochemer Modell. Es bezeichnet eine Arbeitsweise, die im Amtsgericht Cochem 1992 von dem Familienrichter Jürgen Rudolph initiiert wurde. Ziel war, bei Trennungen verheirateter oder unverheirateter Paare mit Kindern eine Konflikteskalation im Zuge von familiengerichtlichen Verfahren um das Sorge- bzw. Umgangsrecht zu verhindern.
Hellinger weist darauf hin: "Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld [...] Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann könnten sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: >Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden.< Dann können beide auseinandergehen."
Nicht nur sich trennende Paare können auf diese Weise einen tragfähigen Schlusspunkt setzen. Auch Kinder, die unter den Konflikten ihrer Eltern leiden, können auf diese Weise ihren Frieden finden. Beobachtet man sich als Kind dabei, Eltern möglicherweise das Motiv oder die Kraft für eine Versöhnung abzusprechen, um nicht der unter Umständen komfortablen Beanspruchung einer Opferrolle verlustig zu gehen, sollte man dringend noch einmal die Hinweise Wolfgang Schmidbauers zu Rate ziehen.