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Rosemarie Welter-Enderlin über die heilende Kraft des Erzählens

2006 – vor nunmehr 16 Jahren führt Tina Hildebrandt (TH) ein Gespräch mit Rosemarie Welter-Enderlin (Quelle: ZEIT 34/2006). Ich gebe im Folgenden einige der hier geäußerten Positionen wieder, die mir selbst Mut machen, nicht nachzulassen im Erzählen: Zunächst einmal ordnet Rosemarie Welter-Enderlin (RWE) Geschichten ihrer Patienten als eine Quelle ein, die vor allem beim Verstehen von Ressourcen helfe. Es ergibt sich mit Blick auf Geschichten sehr schnell die Frage, inwieweit man eigentlich Herr oder Frau seiner eigenen Geschichte ist. In diesem Punkt ist RWE sehr klar und sehr apodiktisch: Überhaupt nicht meint sie, räumt aber ein, dass die Geschichte etwas aus uns gemacht habe und dass es sinnvoll sei, dem nachzugehen: „Immer mit der Frage: Was machen wir jetzt für uns daraus?“

Für alle, die (ihre) Geschichte(n) erzählen (wollen), folgt sodann eine Entlastung, die aus der Sicht RWEs sogar die Aura des Wunderbaren annimmt. Auf die uns allen vertraute Beobachtung THs, dass wir alle manchmal glauben uns zu erinnern, obwohl man etwas in Wirklichkeit nur erzählt bekomme habe, womit man im Grunde genommen die Erzählungen anderer übernehme antwortet RWE:

„Ja, diese Zuschreibungen sind nicht zufällig, die sind im Kontext erzählt und immer wieder bestätigt worden. Mit anderen Worten, das Geschichtenerzählen handelt nicht von der Wahrheit, es handelt von Empfindungen. Der Schweizer Dichter Peter Bichsel hat mal gesagt: Man tötet einen Geschichtenerzähler damit, dass man ihn auf die Wahrheit verpflichtet. Die Wahrheit bleibt dem Ernst des Erzählers überlassen. Das finde ich wunderbar.“

Daraus folgt, dass wir im Erzählen zwar nicht lügen – jedenfalls wenn wir es ernst meinen –, sondern dass wir zu Konstruktionen greifen, die für uns Bedeutung haben. Ob man denn zum Autor der eigenen Geschichte werden könne, fragt TH weiter? RWE bejaht diese Frage und betont, wie wichtig der Austausch mit anderen dabei ist – so entstünden letztlich immer neue Versionen der eigenen Geschichte.

Brisanz kommt ins Gespräch mit der Frage, ob man alles voneinander wissen müsse? Auch hier ist REW äußerst bestimmt und klar:

„Nein. Das ist der reinste Unsinn. Dieser Individualisierungstick, zu glauben, absolute Authentizität und Ehrlichkeit seien die Grundlage für echte, gute Beziehungen. Im Gegenteil: Wichtig ist, dass man auswählt, was man dem/den anderen zumutet oder auch schenken möchte mit Geschichten. Wichtig ist auch der richtige Zeitpunkt. Nicht alles sollte zu jeder Zeit erzählt werden.“

TH bringt die Bedeutung und die unterschiedliche Qualität von Geheimnissen zur Sprache. Und RWE betont, wie wichtig es sei, dass man sorgfältig mit Geheimnissen umgehe: „Wenn man einem Kind zum Beispiel nicht irgendwann erzählt, dass es ein Adoptivkind ist, tut man diesem Kind etwas an (der Klassiker).“ Auf den Hinweis THs, dass sie in einem ihrer Bücher von einem Fall erzählt, in dem sich herausstelle, dass der vermeintliche Vater nicht der leibliche Vater sei, reagiert RWE – vordergründig betrachtet – verblüffend: „Also das Übliche. Nein wirklich, das ist sehr üblich […] Solche Geheimnisse werden oft aufgebauscht.“ Tina Hildebrandt insistiert und spitzt mit folgender Frage zu: „Gibt es Geschichten, von denen man sich nicht erholt?“ RWE argumentiert hier durchaus optimistisch. Das von TH zitierte Beispiel, es geht um einen Mann, der zugibt, Affären gehabt zu haben, und dem seine Frau daraufhin entgegnet: „Was heißt hier Affären? Du schläfst seit zehn Jahren mit meiner besten Freundin!“ kommentiert RWE lapidar mit dem Hinweis: „Sie sind seit 40 Jahren verheiratet, die haben sich inzwischen erholt.“

TH stellt darauf hin fest, dass RWE in Happy-Ends verliebt sei und bohrt weiter nach: „Aber gibt es bei Ihnen nicht auch Geschichten, die in eine Trennung münden, ins Scheitern einer Beziehung?“ Und RWE räumt ein, dass sie damit immer rechne, nämlich genau damit, dass jemand so verletzt sei von einer Geschichte, von Außenbeziehungen: „Natürlich gibt es das.“ Und dennoch – Bezug nehmend auf das eben erwähnte Paar berichtet sie, dass sie – RWE – nachgefragt habe, ob sie sich nicht auch mal überlegt habe, zu gehen? Sie – die betrogenen Ehefrau – habe sich hingegen die Tränen abgewischt und gesagt: „Nein, diesen Gefallen tu ich ihm nicht, ich will ihn nämlich. Und der Mann war sehr berührt, dass sie so klar gesagt hat, wie wolle ihn.“

Das alles treibt TH zu der Kardinalfrage, ob die Familie mehr Fluch oder mehr Segen berge. Die Antwort RWEs enthält keine Generalisierung. Im Gegenteil betonen ihre Relativierungen, die Antwort hänge halt von Vielem ab:

„Das kommt auf die Familie an – und auf die Perspektive. Ich habe meine Familie als Segen erlebt. Aber ich kann mir vorstellen, dass einige meiner vielen Geschwister das nicht so sehen.“

In der Folge geht es um Kinder – und um den Zustand der Gesellschaft. TH merkt an, dass die Deutschen sich gegenwärtig (2006) sorgten, weil so wenige Kinder geboren würden. RWE sieht die Tendenz zur Selbstoptimierung, zum flexiblen Menschen, der eine Vielzahl offener Optionen bevorzuge. Die Kehrseite fordere zuweilen einen hohen Preis: „Du musst alles aus dir machen, was du kannst.“ An der Verantwortung dieser Devise trage sie mit. Und auf die Frage, ob dieses Optionenschaffen, sich nicht festzulegen, also falsch sei, bleibt ihr nichts anderes als die Ambivalenz des postmodernen Lebensstils einzuräumen:

„Nein, nicht prinzipiell. Aber als Großmutter finde ich es schade, wenn meine Kinder vielleicht keine weiteren Kinder haben. Und zwar für mich persönlich, emotional, ganz egoistisch.“ Und es kommen uns bekannte Sehnsüchte zu Tage, die mit Flexibilität, Mobilität und Disloziertheit nicht zu vereinbaren sind: „Vielleicht wäre es ein Weg, dass die Alten oder die Verwandten mehr Unterstützung geben. Dass man nicht erst alles beruflich regeln muss und sein Kinderkriegen auf einen Zeitpunkt verschiebt, wo die Gebärfähigkeit abnimmt. Ein bisschen mehr Irrationalität wäre gut. Kinderkriegen ist ein irrationales Geschäft.“

Dies mag ein Signum der Postmoderne ausmachen: Die Irrationalität zu bemühen, um eine durch und durch von vermeintlich rationalen Zwängen beherrschte Lebensweise aushalten zu können. Dazu passt – ich betone das Gespräch fand 2006 statt – die Frage THs, ob es eigentlich einen Backlash in Sachen Emanzipation gebe. RWEs Antwort spielt mir in die Karten, obwohl sie das ganze Dilemma der isolierten Kleinfamilien offenbart:

„Ich sehe schon, dass die Emanzipation, wie wir sie in den sechziger, siebziger Jahren gelebt haben, eine absolute Öffnung war – und eine Illusion. Der Backlash heißt, dass die Krippe am Freitag zuhat. Also muss der Großvater gehen, und wenn kein Großvater da ist, wer macht das dann?“

Und dann kommt ein bisschen Wischi-Waschi etwa derart, dass in Sachen Gleichberechtigung immer noch wacker geübt werde, was RWE eigentlich schön findet. In meinem Umfeld – wie in der gesamten Gesellschaft – rückt der Preis für die geforderte und gelebte Flexibilität immer deutlicher ins Blickfeld. Okay, das schreibt hier ein alter, weißer Mann, der wie RWE um die ganz persönlichen emotionalen Bedürfnisse und Ressourcen weiß. Der Kontakt über drei Generationen hinweg birgt enorme Potentiale, die mit professionellen pädagogischen Kompetenzprofilen nicht zu kompensieren sind; jedenfalls bin ich – wie schon so oft vermerkt – mit Leidenschaft Opa.

Gehen wir zum nächsten Aspekt einer moralisch entrümpelten postmodernen Gesellschaft. TH meint davon ausgehen zu können, dass RWE so etwas wie eine offene Ehe geführt habe. Auch hier relativiert RWE zuerst einmal, indem sie klarstellt:

„Ja, offen in dem Sinn, dass uns ganz klar war, dass wir nicht 50 Jahre mit demselben Menschen zusammen sind, ohne uns in jemand anderen zu verlieben, aber dass wir nie eine Tragödie daraus gemacht haben. Also Lustvolles auch mit anderen zu erleben, nicht unbedingt mit jemand zu schlafen, aber zärtlich zu sein oder zu tanzen, das gehörte natürlich auch zum Lebensgefühl in den Siebzigern. Wir wussten einfach: Der oder die läuft mir nicht davon, auch wenn er oder sie jetzt mit jemand anders sehr zärtlich ist. Wenn jetzt wieder so viel von Treue geredet wird und dieses Spielerische einfach weggeblasen wird, habe ich damit meine Probleme.“

Wie man es denn schaffe, immer wieder zurückzufinden, fragt TH. „Indem man nie ganz wegrennt voneinander“ lautet die lapidare Antwort RWEs. Welche Rolle bei alledem – vor allem beim Eheglück – denn Entscheidungen oder Zufälle spielten, möchte TH wissen. RWE stellt Respekt ins Zentrum ihrer Gelingensvorstellungen: Eheglück beruht auf wechselseitigem Respekt. Das hätten die Eltern ihr schon vorgelebt. RWE nimmt allerding dann eine Relativierung der Paarbeziehung vor und unterstreicht dies mit einer bemerkenswerten These:

„Wenn man nicht auf Gedeih und Verderb auf einen Menschen angewiesen ist, sondern lustvoll seine Arbeit macht, seine anderen Beziehungen, Freunde, Freundinnen pflegt, dann wird auch die Entwicklung in der Paarbeziehung nicht so wahnsinnig wichtig.“

Dass es einen Riesenunterschied ausmacht, ob man – oder besser hier konkret: ich – das Resümee RWEs im Hinblick auf ein langes Paar- und Arbeitsleben als junger Mensch/Mann, als Mensch/Mann im mittleren Alter oder eben als Mensch/Mann im fortgeschrittenen Alter zur Kenntnis nimmt, offenbart sich schließlich mit der Frage THs, wie man in die eigene Gegenwart komme. Sie leitet diese Frage mit einer Feststellung ein, die uns allerdings weitgehend vertraut ist: „Oft ist man erst im Nachhinein in der Lage, eine Situation und sich selbst darin zu beurteilen.“ Und RWE bestätigt dies mit einer Replik, die meine persönliche Gegenwart – so kurz vor dem Siebzigsten – gleichermaßen aufregend wie kostbar macht. RWE stellt fest:

Also das Retrospektive, das gehört auch zu mir. Man lebt das Leben nach vorne und versteht es im Rückblick, hat schon Kierkegaard gesagt. Man kann nicht leben, während man Leben beschreibt, und man kann nicht schreiben, während man lebt.“

Und vielleicht gelingt es RWE wohlmöglich, dass ich mich mit einer ihrer – jedenfalls für mich – überaus schrägen Altersweisheiten anzufreunde. Im Zusammenhang mit der nunmehr zu diskutierenden Kontroverse betrachte ich mich persönlich als höchstsensibilisiert. Dies hängt zusammen mit der Begleitung meines Schwiegervaters in und durch die Demenz; ein Prozess, der die letzten sieben Jahres seines Lebens schrittweise und kontinuierlich mit zunehmender Intensität ausgemacht hat. RWE rechnet mit der Freudschen Psychologie ab, insbesondere, weil sie uns verschwiegen hat, „dass wir auch glücklich sein können, ohne zu verstehen, was in unserem Leben los ist, und ohne diesen retrospektiven Blick. TH insistiert und kehrt die Fragerichtung um und fragt, ob man auch glücklich sein könne, „obwohl man versteht, was im eigenen Leben los ist?“

RWE antwortet:

„Es kommt darauf an, was für eine Art des Verstehens es ist. Wenn es nicht nur um Introspektion geht und nicht nur darum, sein Leben auf die wirkliche Wahrheit zurückzuführen, sondern spielerisch Schritte ins unbekannte Land zu machen, dann finde ich das wunderbar. Man muss nicht alles auf-, durch- und abarbeiten.“

Und mit Blick auf ihre therapeutische Grundhaltung betont sie:

„Wenn Leute auf die depressive Schiene gehen, dann hole ich sie heraus und frage: Ja,  und was heißt das konkret? Was machen sie jetzt damit? Ich verliebe mich nicht in diese düsteren Geschichten.“

Zu guter Letzt möchte TH noch wissen, ob RWE sich für glücksbegabt halte? RWE mag das Wort Glück nicht und antwortet ausweichend, aber bestimmt:

„Ich weiß nicht, was Glück ist. Zufrieden sein, glücklich sein, reich sein im Sinne von lustvoll das Leben erleben, da bin ich schon dafür. Aber Glücklichsein schließt immer aus, dass man auch unglücklich sein darf. Und mir ist eben diese Balance wichtig: zwischen Glück und Unglück, Positivem und Blicken in den Abgrund.“

Da entstehen nun überaus deutliche Parallelen in der Einschätzung unserer Möglichkeiten und Grenzen. Das Glück im fortgeschrittenen Alter ist ein banales und kostbares zugleich: Dass man eine Familie hat, sich in einem generativen Gestell von drei – bis vor kurzem auch vier Generationen – aufgehoben und verankert fühlt, ist die größte Kostbarkeit. Dass man Glück als Zweiseitenform begreifen kann, deren andere Seite eben (manchmal unabwendbares) Unglück ist – dass man neben dem Positiven den Blick in Abgründe ertragen hat, eröffnet nun eine gediegene Chance zur Retrospektive. Die wichtigste Einsicht aus RWEs Lebensresümee liegt für mich in ihrer von Kierkegaard übernommenen Feststellung:

Man lebt das Leben nach vorne und versteht es im Rückblick, hat schon Kierkegaard gesagt. Man kann nicht leben, während man Leben beschreibt, und man kann nicht schreiben, während man lebt.“

Nachtrag: 

Nachruf auf Rosmarie Welter-Enderlin 24.2.1935-4.4.2010) von Bruno Hildenbrand, Marburg

"Rosmarie Welter-Enderlin ist nicht mehr unter uns. Bei ihren letzten öffentlichen Auftritten hat sie mitunter Freunde und Kritiker der Fachwelt vor den Kopf gestoßen. Als energisch und, wo nötig, auch zornig haben wir sie alle gekannt, und wir wussten dies einzuordnen in ihr Anliegen, „mit der Nase am Boden“ den Belangen von Klientinnen und Klienten nachzugehen sowie Konzept- und Theoriebildungen ihnen und nicht persönlicher Eitelkeit oder anderen Interessen unterzuordnen. Manche ihrer Äußerungen gegen Ende ihrer öffentlichen Präsenz gingen über den sachorientierten Zorn hinaus. Wir wissen jetzt, dass es ihre Krankheit war, die sie mitunter das Maß vermissen ließ und zu Ausdrucksformen verleitete, die sie im gesunden Zustand nicht zugelassen hätte. Denen, die sie auf ihrem beruflichen Lebensweg begleitet haben, ist es ein Anliegen, der Nachwelt ein Bild von Rosmarie Welter-Enderlin zu überliefern, das sie zeigt, wie sie vor der Krankheit war: zugewandt, an intellektueller Klarheit und Schärfe interessiert, die Anliegen der Klientinnen und Klienten in den Vordergrund rückend und nicht zuletzt: humorvoll."

Dies ist nur die letzte Passage aus dem überaus wertschätzenden und ausführlichen Nachruf Bruno Hildenbrands. Für den Leser ergeben sich aus den letzten, bitteren Anmerkungen nolens volens Assoziationen, die eine progressive, schnell voranschreitende dementielle Erkrankung vermuten lassen. Mehrfach habe ich persönlich schon angemerkt, dass ich hier aufgrund familiärer Erfahrungen höchstsensibilisiert bin. Die derzeit in Arbeit befindliche Aufarbeitung Über die Vielfalt menschlicher Würde von Peter Bieri führt ins Zentrum entsprechender Fragestellungen und auch Ängste, die sich einstellen, wenn es nicht nur um die Familiendynamiken im weitesten Sinne geht, sondern wo sich vor allem auch zunehmend potentielle eigene Betroffenheit zur Herausforderung machen könnte.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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